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Stiefmütterchen

Irmela hatte gar früh ihre gute Mutter verloren und darum eine Stiefmutter bekommen, was ihr großen Kummer bereitete, da alle Muhmen und Basen ihr begreiflich zu machen suchten, daß eine Stiefmutter etwas sehr Schlimmes sei. Auch in vielen dem Mägdlein bekannten Märchen kam etwas Aehnliches vor, so daß es ordentlich Angst vor der neuen Stiefmutter hatte und dieser aus dem Wege ging, so viel sie konnte.

Doch gar bald merkte Irmela, daß die Stiefmutter nicht so böse war, denn sie erhielt von dieser wie sonst gutes Essen, bekam auch nicht, wie sie gefürchtet, viel Prügel, sondern wurde bei etwaigen Anlässen zur Strafe nur liebevoll ermahnt und gerecht bestraft.

Als sie trotzdem in ihrer Zurückhaltung gegen die zweite Mutter beharrte, sah sie oftmals deren Blicke traurig auf sich gerichtet, bis sich Irmelas Herz endlich der trefflichen Frau zuwandte.

Nicht lange währte das Glück. Das Mägdlein ward schwer krank.

Die Mutter pflegte es so aufopfernd, daß sie selbst der heimtückischen Krankheit verfiel.

Als das Kind genesen war, trug man die gute Stiefmutter zu Grabe; sie war ein Opfer treuerfüllter Pflicht geworden.

Nun erkannte die Genesene erst recht, wieviel sie in dieser Mutter verloren; sie betrauerte die Entschlafene von ganzem Herzen, und es blieb fortan ihr einziger Wunsch, selbst einmal

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Elsbeth Montzheimer: Märchen. Leipziger Graphische Werke AG, Leipzig 1927, Seite 109. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:M%C3%A4rchen_(Montzheimer)_109.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)