Seite:Märchen (Montzheimer) 112.jpg

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Kindern die Liebe zu Stiefmütterchen erwachen wolle. So verging die Zeit.

Eines Tages, als die Eltern nicht daheim waren und die Kinder in Frau Irmelas Gemächern spielten, rannten sie in tollem Lauf gegen ein kostbares Kristallgefäß, daß es zur Erde fiel und zerbrach. In ihrer Angst liefen die kleinen Uebeltäter zu Barbe, die sogleich händeringend kreischte: „Ihr armen Kinder, wie wird es euch ergehen, wenn die Mutter sieht, daß ihr eines ihrer schönsten Hochzeitsgeschenke zerstört habt; gerade dieses Stück hält sie besonders wert!“ Das tat den beiden sehr leid; sie hätten die Mutter gern um Verzeihung gebeten, doch Barbes Worte: „Ihr armen Kinder, wie wird es euch ergehen,“ gellten fort und fort in ihren Ohren, so daß das keimende Vertrauen zur Stiefmutter wieder erstickt wurde; ihre Angst wuchs.

Da liefen sie, weil ihnen nichts Besseres einfiel, fort, hinaus in den Wald, immer weiter und weiter. Sie merkten nicht, wie die Bäume mißbilligend ihre Wipfel schüttelten, merkten nicht, wie sie drohend ihre grünen Arme ausstreckten, sie flohen, bis sie an einen Wegweiser kamen. Was da oben stand, vermochten sie nicht zu entziffern. Aber plötzlich knarrte es in seinem alten Holz, und aus diesem Knarren hörten sie es deutlich heraus:

„Wohin des Weges, Kinder, sagt,
Warum daheim euch’s nicht behagt,
Daß ihr zur Fern’ die Schritte lenkt,
Wodurch ihr eure Mutter kränkt?“

Eine Antwort bekam der Wegweiser aber nicht, denn mit scheuem Blick auf den Fragenden machten die verblendeten Kinder einen weiten Bogen um ihn herum, ihren Pfad unbekümmert weiter verfolgend.

Im Tannengeäst saß eine Drossel im schwarzen Federröcklein, die äugte verwundert auf die eilenden Kinder herab,

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Elsbeth Montzheimer: Märchen. Leipziger Graphische Werke AG, Leipzig 1927, Seite 112. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:M%C3%A4rchen_(Montzheimer)_112.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)