Seite:Märchen (Montzheimer) 126.jpg

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„Die Treue hatte viel mehr Stiefmütterchen,“ flüsterte Sitta dem Bruder zu, und dieser antwortete ebenso: „Ja ich glaube es jetzt auch, daß es viel mehr gute Stiefmütter gibt als böse.“

Die Untreue bekam vor Aerger über diese Worte ein ganz gelbes Gesicht und herrschte die Kinder an: „So, nun zählt!“

Die Kleinen fingen schluchzend an; aber alle Augenblicke verzählten sie sich, und wie sie von vorn anfingen, war hier eine Blume welk geworden, dort eine neue aufgeblüht, und so kamen sie nicht zustande mit ihrer Arbeit.

Am Abend frohlockte die Untreue: „Ihr werdet noch bis zum jüngsten Tage zählen können, – niemals könnt ihr frei werden.“ Und als die Kinder sie inständig baten, sie doch fort zu lassen, antwortete sie höhnisch: „Habe ich euch darum mit Goldkäfern, Eidechsen und Schmetterlingen hergelockt? Nein, ich lasse euch nicht frei, eure Stiefmutter müßte euch denn erlösen; aber die wird sich wohl hüten, um euretwillen sich in Gefahr zu begeben.“ –

Es waren seit dem Verschwinden der Kinder schon mehrere Tage vergangen, die den trostlosen Eltern wie eine Ewigkeit erschienen, denn alles Forschen und Suchen war bisher erfolglos geblieben.

Soeben ritt der Vater mit einigen Knechten in die umliegenden Dörfer, um daselbst nochmals zu forschen, und Frau Irmela saß bleich und verweint am Fenster. In den letzten Nächten war kaum Schlaf in ihre Augen gekommen, so daß ihre Lider jetzt schwer herabsanken.

Wie lange ihr Schlummer gewährt hatte, wußte sie nicht, doch wundersam gestärkt erwachte sie plötzlich durch den Gesang einer Schwarzdrossel, die, auf einem Holderbusch dicht vor dem Fenster sitzend, schon eine Weile die Schläferin anäugte. Nun flötete sie:

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Elsbeth Montzheimer: Märchen. Leipziger Graphische Werke AG, Leipzig 1927, Seite 126. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:M%C3%A4rchen_(Montzheimer)_126.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)