Seite:Märchen (Montzheimer) 135.jpg

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Plötzlich sprang an ihnen ein Goldreif vorüber. Die Treue hob ihn auf, es war wirklich der Reif der Untreue, der noch die Spuren vom Schlamme des Nixenteiches an sich trug.

Doch als die Treue ihn mit ihrer Hand berührte, schwanden auch diese häßlichen Zeichen einer sündigen dunklen Zeit. Die Treue streifte das Kleinod schnell über Frau Irmelas Arm, und da sie ganz in der Nähe der Heimat angelangt waren, nahmen sie bewegten Abschied. Noch lange fühlte die treue zweite Mutter den herzlichen Abschiedskuß der Freundin, noch lange glaubte sie die liebe, sanfte Stimme zu hören:

„Will, Stiefmütterlein, dir zum Angedenken,
Als Lohn der Treue den Goldreif schenken;
Er sei dir auf fernerer Lebensbahn
Ein Pfand meiner Freundschaft, ein Talisman,
Der niemals vom Arme der Pflichttreuen springt,
Der immer nur Segen und Glück dir bringt!“

Frau Irmela fand noch ihren geliebten Patenbecher, auf dem altgewohnten Platze stehend, als letzten Abschiedsgruß der Treue vor.

Die Prophezeiung derselben erfüllte sich an Frau Irmela. Noch viele glückliche Jahre lebte Stiefmütterchen mit Gemahl und Kindern zusammen in Liebe und Treue verbunden. Rainer und Sitta machten ihrer zweiten Mutter hinfort nur Freude. O, wie oft schauten sie auf Frau Irmelas kurze Haare, dachten an den verschwundenen köstlichen Haarschmuck und bemühten sich voll Reue doppelt, ihr Dankbarkeit und Liebe zu zeigen.

Nur langsam wuchsen die Haare wieder, aber endlich umgaben sie noch prächtiger, noch länger als früher die edle Gestalt.

Und wenn irgend einmal etwas Frau Irmela bekümmerte, so betrachtete sie nur ihren Goldreif, dann war ihr jedesmal, als höre sie die Stimme der geliebten Freundin:

„Sei getrost, Stiefmütterchen!“

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Elsbeth Montzheimer: Märchen. Leipziger Graphische Werke AG, Leipzig 1927, Seite 135. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:M%C3%A4rchen_(Montzheimer)_135.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)