Seite:Maehrchenkranz fuer Kinder 092.jpg

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mir wenigstens noch eine Stunde Zeit, daß ich bete, und mich zum Tode vorbereite.“

„Wohlan, es sey!“ erwiederte Blaubart. „Geh’ auf dein Zimmer und bete, und bereite dich zum Tode; aber nur eine halbe Stunde, und keine Minute mehr.“

Nun war kein Augenblick für die Arme zu verlieren. Sie lief eiligst hinauf zu ihrer Schwester Aennchen, fiel ihr um den Hals, und erzählte ihr weinend und schluchzend ihr Unglück. Da gedachte Aennchen der Pfeife, die ihr die Brüder gegeben, trat auf den Erker vor dem Fenster, und stieß drei Mal hinein, so laut sie nur konnte, daß die Luft erbebte, und der Wiederhall vom Walde zurückscholl. Trudchen aber warf sich auf die Kniee, und betete, während ihre Schwester auf dem Erker blieb, und in’s Feld schaute, ob die Brüder kamen.

Jetzt hatte Trudchen ausgebetet, und fragte: „Anna, Schwester Anna, siehst du nichts?“ Und Aennchen antwortete:

„Ich seh’ die Sonne funkeln,
Und den Wald dunkeln,
Sonst seh’ ich nichts!“

Voller Angst betete Trudchen abermals, und als sie bis zum Amen gekommen war, fragte sie wieder: „Anna, Schwester Anna, siehst du nichts?“ Und Aennchen antwortete:

„Ich seh’ die Sonne funkeln,
Und den Wald dunkeln,
Sonst seh’ ich nichts!“

Da rief Blaubart: „Komm, oder ich hole dich!“ – „Ach, nur noch einen Augenblick!“ antwortete Trudchen bittend, und fragte wieder: „Anna, liebe Schwester Anna, siehst du noch nichts?“

„Ja,“ sagte Aennchen, „ich sehe eine große Staubwolke sich heranwälzen, aber die Brüder erkenne ich nicht.“