Seite:Meier Volksmärchen aus Schwaben 227.jpg

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tragen sollte. Diese Frau aber war vorsichtig und legte das Ei in ein Körbchen und ließ es darin liegen, wenn sie im Schloße umhergieng. So kam sie denn auch einmal an die verbotene Thür, die sie schon oft angesehen hatte, und dachte: ei, du sollst doch einmal zusehen, was wohl darin ist, und schloß die Thür auf. Aber wie erschrack sie da, als sie hier lauter Leichen fand und darunter auch die Köpfe ihrer beiden Schwestern, die sie noch erkennen konnte.

Schnell setzte sie sich nun hin und schrieb einen verstellten Brief, als ob ihr Vater schwer erkrankt sei und sie noch einmal vor seinem Tode zu sehen wünsche. Als darauf der Räuber nach Haus kam und die Frau ganz traurig fand, so fragte er sogleich nach dem Ei; das war zwar nicht zerbrochen, aber die Frau bat ihn um Alles in der Welt, daß er sie doch zu ihrem Vater bringe, der wolle sterben und wünsche, sie noch einmal zu sehen. Und als der Räuber den Brief gelesen, gab er endlich ihren Bitten nach und fuhr schon am andern Morgen mit ihr fort.

Die Frau aber hatte ganz heimlich die Köpfe ihrer Schwestern mit in die Kleiderkiste gepackt, die sie mitnahm, und kam deshalb in große Angst, als ihr Mann unterwegs noch einmal umkehren wollte; er habe vergeßen, nach seinen Vögeln zu sehen, sagte er. Die Frau konnte wohl denken, daß er damit die Todtenkammer meinte und sie fürchtete, daß er entdecken könnte, was darin vorgefallen war. Deshalb bat sie ihn so dringend und so zärtlich, ihre Reise nicht aufzuhalten, daß er endlich nachgab und sie zu ihrem Vater führte. Den trafen sie ganz gesund an; die Tochter aber

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Ernst Meier: Deutsche Volksmärchen aus Schwaben. Scheitlin, Stuttgart 1852, Seite 227. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meier_Volksm%C3%A4rchen_aus_Schwaben_227.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)