Seite:Pappenheim Lage 54.png

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dürfen, so wie man auch sonst derartige Einrichtungen den speziellen Landesbedürfnissen anpassend, nicht einfach die Statuten deutscher Anstalten bindend nach Galizien übertragen darf.*)

Was die Gründung und finanzielle Weiterführung dieser unentbehrlichen Volkspflegeanstalten betrifft, so ist mir in Brody und in Stanislau versichert worden, daß, auf eine Anregung und Mithilfe von außen, ein Teil der nötigen Mittel auch innerhalb der Gemeinde aufgebracht werden könnte.

Daraus würde sich für die Verwaltung schon die für alle derartigen Unternehmungen wünschenswerte Gestaltung ergeben, daß sie zum Teil aus einheimischen, zum Teil aus nicht ansässigen, unparteiischen Mitgliedern zu bestehen hätte.

Was die innere technische Leitung solcher Anstalten betrifft, so muß sie außer einer berufsmäßigen Leiterin einem Lokalkomitee übertragen werden, das die Kontrolle der einzelnen Ressorts zu übernehmen bereit ist.

Die beamtete Leiterin muß natürlich eine gründliche Vorbildung besitzen. Zu ihrer Unterstützung soll man eine Anzahl schulentlassener Mädchen einstellen, die gegen einen Wochenlohn, der etwas höher zu bemessen ist, als der ortsübliche Lohn für Fabrik- und Schneiderarbeit, durch Unterweisung und Mitarbeit in die Kinderpflege eingeführt werden. An den freien Abenden wären diese jungen Mädchen noch in den nötigsten Lehrfächern und in der deutschen und polnischen Sprache weiter zu bringen und in praktischer Näharbeit zu unterweisen. Nach 1 bis 2 Jahren können sie mit einem Zeugnis versehen als (Vorschlag 2) „ausgebildete Kinderpflegerinnen“ in häusliche Stellungen eintreten, eine Kategorie von Hausbeamtinnen, für die in Galizien mit der Zeit eine immer größere Nachfrage herrschen wird.


* So würde ich z. B. raten, Kinder unter einem Jahr nicht aufzunehmen. Deren Pflege ist bekanntlich die schwierigste, und ihr Erfolg wird durch häusliche Unvernunft sehr oft vernichtet. Ein oder der andere Todesfall, der unter den Säuglingen aus Gründen, die mit der Krippe gar nicht zusammenhängen, vorkäme, würde bei dem Aberglauben und Mißtrauen der Bevölkerung einer Neuerung gegenüber, eine solche Volkspflegeanstalt von vornherein in Verruf bringen. Also Vorsicht in der Auswahl und Aufnahme der Kinder und Anstellung eines bezahlten Arztes, der in der Stadt bekannt ist und das Vertrauen der jüdischen Bevölkerung genießt.

Empfohlene Zitierweise:
Bertha Pappenheim, Sara Rabinowitsch: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Frankfurt am Main: Neuer Frankfurter Verlag GmbH, 1904, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Pappenheim_Lage_54.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)