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schreiben, das Gericht hätte den Verurteilten die sogenannte Überzeugungstäterschaft zugebilligt. Wenigstens war in der mündlichen Urteilsverkündung dieser Punkt überhaupt nicht berücksichtigt. Aus dem einen Monat später zugestellten schriftlichem Urteil ergab sich indessen die Aberkennung der Überzeugungstäterschaft.

Nur eine kleine Minderheit unter den Menschen wird sich durch eine gerichtliche Verurteilung nicht ungerecht behandelt fühlen. Der Schuldigste noch wird für sich so etwas wie ein anständiges Motiv herausfinden und sich rabulistisch daran klammern. Das ist eine Sache der menschlichen Selbstbehauptung, vitale Abwehr gegen die drosselnde Verzweiflung. Es begibt sich jeden Tag, daß Verurteilte in ohnmächtiger Wut gegen ihre Richter die Faust ballen. „Haschierte Hintern!“ brüllt der Kellner bei Ferdinand Bruckner einem Hohen Senat ins Gesicht, und ein Hoher Senat hört kaum hin, denn er kennt aus langjähriger Erfahrung derlei Reaktion. Aber als ich zum erstenmal jenes voluminöse Schriftstück las, in dem mir für eine politische Handlung die Überzeugung abgestritten wurde, da ersuchte ich zunächst meinen Anwalt, gegen die endesunterfertigten Herren eine Beleidigungsklage anzustrengen.

Ich fürchte den Vorwurf nicht, aus der Sache zu viel Wesens zu machen. „Was erwarten Sie andres von einem Klassengericht?“ fragt der Marxist. Nein, ich erwarte gar nichts. Der Vierte Strafsenat hat immer wieder bewiesen, daß er nicht daran denkt, Linksoppositionelle objektiv zu würdigen, und darin unterscheidet er sich nicht von den politischen Gerichten in aller Welt. Politische Justiz hat überall den Zweck, mißliebige Köpfe entweder rollen zu lassen oder bestimmte Zeit auszuschalten. Das schließt nicht ein Zeichen der Achtung für den Mann auf der Anklagebank aus.

Nun haben einige der Nachkriegsdiktaturen herausgefunden, daß es doch bedenklich sei, jemanden gleichsam mit Ehrenbezeugungen auf den Sandhaufen zu führen. Deshalb koppelt man den politischen Angeklagten mit gewöhnlichen Kriminalverbrechern zusammen. Oder gefällige Hände stellen eine zweifelhafte Situation, und die Polizei setzt den Schlußpunkt. Politisches Martyrium wirkt ansteckend; Diebstahl, Betrug oder gar Sexualvergehen diskreditieren Mann und Programm. Indem das Reichsgericht in unbestreitbaren politischen Fällen die Überzeugung abspricht, wie das neuerdings Übung zu werden scheint, unternimmt es einen ersten verheißungsvollen Schritt nach dieser Richtung. Wann wird man Mißliebige mit Bigamisten oder Defraudanten zusammenketten?

Das Reichsgericht hat mir die Überzeugung abgesprochen. Wenn ich aber nicht aus Überzeugung handelte — aus welchem

Empfohlene Zitierweise:
Carl von Ossietzky: Rechenschaft. Berlin: Verlag der Weltbühne, 10. Mai 1932, Seite 21. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Rechenschaft_9.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)