Seite:Reventlow Werke 0597.png

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Koffer an einem Strick herunter. Mit Schrecken fühlte sie, wie schwer er war, ein paarmal wäre ihr fast der Strick aus der Hand geglitten, und der Koffer schlug gegen die Hauswand. Gerade unter ihr lag das Krankenzimmer, wo jetzt eine Pflegerin bei der langsam Sterbenden wachte. Gott im Himmel, da schlug er wieder an. Wenn nun plötzlich da unten jemand das Fenster aufmachte und fragte —.

Und nun konnte sie ihre Schuhe nicht finden. — Alles war wie verhext heute morgen. Natürlich lagen sie unten in der Küche zum Putzen, sie war ja gestern in Hausschuhen heraufgekommen. Sie blies das Licht aus, schloß die Tür hinter sich zu und warf den Schlüssel in eine Ecke — ihr Zimmer lag oben auf dem Speicher. Dann tappte sie die Treppe hinunter, die Stufen knarrten wie noch nie. Und jetzt in der dunklen Küche aus dem Haufen von Stiefeln die ihren heraussuchen. Der große Haushund lag auf dem Flur, er erkannte sie nicht gleich und fing an zu knurren, dann wedelte er und wollte mit, als Ellen zum Küchenfenster hinaussprang. Sie faßte ihn am Halsband und schob ihn zurück, horchte noch einmal, ob alles still wäre, dann schlich sie leise um das Haus und band den Koffer los. Im Krankenzimmer war Licht, und man hörte gedämpfte Stimmen.

Auf dem Kirchhof blieb Ellen stehen und sah auf das stille, weiße Haus zurück, und dann strebte sie so rasch wie möglich über die Felder der Stadt zu. Hier und da setzte sie sich auf den Koffer und ruhte aus, er war entsetzlich schwer. „Im Notfall laß ich ihn im Stich,“ dachte sie, aber es war alles darin, was sie besaß — Briefe und Bücher, die sie nicht preisgeben wollte. Endlich kamen die ersten Häuser der Stadt, und dort drunten lag der Bahnhof. Es war höchste Zeit — Ellen warf ihre Last mit einem heftigen Ruck auf die Schulter und fing an, Trab zu laufen, ihre Schritte hallten laut durch die stillen Straßen, und dicke Tropfen rannen ihr von der Stirn. Im letzten Moment kam sie an, konnte gerade noch das Gepäck hineinwerfen und nachspringen ehe der Zug sich in Bewegung setzte.

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Fanny Gräfin zu Reventlow: Ellen Olestjerne. München: Albert Langen, 1925, Seite 597. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reventlow_Werke_0597.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)