Seite:Schurz Lebenserinnerungen b1 s029.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Der größte Tag des ganzen Jahres aber war uns Kindern in Liblar der Pfingstmontag, an dem das jährliche Vogelschießen stattfand. Wie großartig erschien mir damals jenes Fest, das in Wahrheit kaum bescheidener hätte sein können. Aber diese Aufregungen! Am Nachmittage des Samstags vor Pfingsten sah man fünf oder sechs Männer durchs Dorf schreiten, die auf ihren Schultern eine starke, gegen vierzig Fuß lange Stange trugen, an deren eisenbeschlagener Spitze der hölzerne zum Abschießen bestimmte Vogel befestigt war. Die Dorfjugend schloß sich sogleich dem Zuge an, der sich langsam nach einem Platz vor dem Dorf bewegte, auf dem einige Ulmen und Linden standen. Auf einen dieser Bäume wurde dann, nachdem wir Knaben den Vogel mit blühendem Ginster geschmückt hatten, die Stange hinaufgehißt und zwischen den Ästen hoch darüber hinausragend mit Seilen befestigt. – Zu einer regelrechten in einem Balkengestell stehenden Vogelstange hatte nämlich die Gemeinde Liblar es damals noch nicht gebracht. – Da dies alles mit Händen getan wurde, so war es eine schwere und nicht ganz ungefährliche Arbeit, der wir Kinder mit ängstlicher Spannung folgten. Mir wäre es bei einer solchen Gelegenheit einmal beinahe ans Leben gegangen. Die Stange entschlüpfte beim Festbinden dem Seil, das sie halten sollte, und schlug einen der Männer von dem Ast, auf dem er saß. Ich stand gerade unter dem Baum, hörte plötzlich über mir ein starkes Krachen und einen Schrei „Jesus Maria“, sprang zur Seite und sah den Körper des Mannes genau auf die Stelle fallen, auf der ich gestanden hatte. Er würde mich vielleicht erdrückt oder doch schwer verletzt haben, wäre ich nicht davongesprungen. Der Arme brach sein Rückgrat und starb kurz nachdem man ihn ins Dorf getragen. Gewöhnlich ging jedoch das „Vogelaufsetzen“ ohne Unfall ab, und wir Kinder zogen dann mit Sträußen von blühendem Ginster in den Händen fröhlich nach Hause mit dem Bewußtsein, bei einem wichtigen Werk mitgeholfen zu haben, und im Vorgefühl des Größeren, das noch kommen sollte.

Wie langsam verging der Pfingstsonntag den Erwartungsvollen! Aber am Montag begann die Lust um so früher. Schon mit Tagesanbruch ging der Tambour, ein kleiner, etwas säbelbeiniger Mann, der mir damals schon recht alt vorkam – sein Name war Heinrich Hahn, gewöhnlich „Hahnen Drickes“ genannt –, durch das Dorf, die Reveille schlagend. Geschlafen wurde dann nicht mehr, aber erst am Nachmittag kam der Vorstand der Sankt Sebastianus Brüderschaft – so hieß die Schützengesellschaft, der fast alle erwachsenen Einwohner des Dorfes, männliche und weibliche angehörten – nach unserem Hause, wo damals die Fahne und die andern Kostbarkeiten der Gesellschaft aufbewahrt wurden, um diese von dort nach dem Hause des Schützenkönigs vom vorigen Jahre zu bringen. Endlich setzte sich der Zug in Bewegung; voran Hahnen Drickes, der Trommler, mit einem Blumenstrauße und bunten Bändern geschmückt; dann mit der Fahne, die das in grellen Farben gemalte Bild des mit unglaublich vielen Pfeilen durchschossenen heiligen Sebastianus trug, Meister Schäfer, ein Schneider, ein weißhaariger, spindeldürrer Mann, der „junge Fänt“ (Fähnrich) genannt, weil sein Vater auch schon die Fahne geschwungen hatte; dann zwei „Hauptmänner“, die

Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 029. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s029.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2021)