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zu einem Freunde gehen, der ein Klavier besaß, um meine Übungen zu machen. Dies wurde auf die Dauer zu beschwerlich; mein Vater suchte mir daher ein Unterkommen in einem andern Hause, wo ein Klavier zur Hand war. Da ich dort auch Besuche von meinem Freunden empfangen konnte, so begann für mich damit ein etwas freieres Leben. Unter meinen Mitschülern hatte ich immer gleichaltrige Freunde gehabt, mit denen mich gegenseitige warme Zuneigung verband, aber keinen, dessen Geistesrichtung und Bestrebungen mit den meinigen übereinstimmten, bis ich in die Tertia kam. Dann wurde ich mit einem Kreise junger Leute bekannt, die auch Verse schreiben, dieselben einander vorlasen und sich gegenseitig in der Kenntnis anderer literarischer Erscheinungen förderten. Sie waren etwas älter als ich und gehörten höheren Klassen an, nahmen mich aber in ihren Bund auf. Diejenigen davon, mit denen ich in diese freundschaftlichen Beziehungen trat, waren Theodor Petrasch, der Sohn eines Sekretärs der Provinzialregierung, der auch eine hohe Stellung im Freimauererorden einnahm, und Ludwig von Weise, Abkömmling eines alten kölnischen Patriziergeschlechts. Petrasch war eine liebenswürdige, heitere, enthusiastische, übersprudelnde Natur, während Weise bei sehr tüchtigem Talent und starkem Charakter in sich mehr die kritische, als die produktive Fähigkeit entwickelt hatte. Beide sprachen über religiöse und politische Dinge mit viel mehr Sicherheit als ich, und Petraschs freisinnige Äußerungen hatten schon die Aufmerksamkeit der Lehrer auf sich gezogen. Ja, er war bereits von dem Religionslehrer des Gymnasiums, einem recht gescheuten Manne, zur Rede gestellt worden und hatte diesem ein so offenes Bekenntnis seiner ketzerischen Ansichten abgelegt, daß der erschreckte Lehrer ihn zu weiteren Gesprächen über heilige Dinge einlud, ihn aber vorläufig von aller Teilnahme an religiösen Handlungen dispensierte, bis ihm ein neues Licht erschienen sein würde.

Mir selbst hatten dieselben Fragen schon recht schwere Stunden gemacht. Ich habe bereits erzählt, wie in früher Kindheit mein Glaube an die ewige Verdammnis der Andersgläubigen und an die Unfehlbarkeit und sittliche Größe des Priestertums bedenklich erschüttert worden war. Ich hatte seitdem über diese und verwandte Gegenstände viel und ernstlich nachgedacht. Endlich kam die Zeit, da ich konfirmiert werden, oder, wie wir es nannten, „zur ersten Kommunion gehen“ sollte. Als Vorbereitung wurde uns ein besonderer Unterricht in der katholischen Glaubenslehre durch den Religionslehrer des Gymnasiums zuteil. Ich gab mich diesem Unterricht hin mit aufrichtigen und wahrhaft frommen Wunsche, meine Zweifel zu überwinden. Ich bildete mir sogar ein, daß dies gelungen sei, und so ging ich durch den Akt der ersten Kommunion in einer Art von religiös schwärmerischer Stimmung. Aber unmittelbar darauf meldeten sich die alten Skrupel wieder, und zwar stärker als je vorher. Was mir nach wie vor am meisten widerstrebte, war der Glaubenssatz, daß die römische Kirche nicht allein die einzig wahre, sondern auch die allein seligmachende sei und daß es außerhalb derselben absolut kein Heil, sondern nur ewige Verdammnis gebe; daß Sokrates und Plato, daß alle Tugend des Heidentums, daß mein guter alter Freund, der Jude Aaron, daß selbst jedes neugeborene

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 046. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s046.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)