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den mittleren Säulen aufgerichtet, den Chor gegen den Rest des Gebäudes abschloß. Dies war die Rückenwand des großen Orgelbaues, der an dieser ungewohnten Stelle provisorisch seinen Platz gefunden hatte, weil eben der Chor das einzige vollendete Stück der Kathedrale war. Die Orgel stand also sozusagen mit dem Rücken gegen den größten Teil der Kirche; und auf der Estrade vor der Orgel, dem Chor zugewendet, waren bei der „musikalischen Messe“ das Orchester und die Sänger aufgestellt. Wer sich nun in dem unterhalb des Chores gelegenen Teil des Domes befand, der hörte die Musik und den Gesang nicht direkt, sondern nur als ein an dem Säulenwalde und den himmelhohen Spitzbogengewölben hundertfältig gebrochenes Echo wie aus weiter Ferne, ja wie aus einer andern Welt. Das war ein wunderbares Wehen und Wogen von Tönen – die Geigen und Oboen wie das Flüstern und Seufzen des Frühlingswindes in den Wipfeln, die Trompeten und Posaunen und der mächtige Vollchor dem Brausen des Sturmes und dem Tosen der Meeresbrandung gleich. Zuweilen schien das Echo auf Augenblicke zu schweigen und eine Melodie oder Harmoniefolge flog klar durch den ungeheueren Raum, oder ein Sopransolo löste sich los von dem zauberhaften Wirrsal und schwebte darüber wie Engelsgesang. Dann war die Wirkung unbeschreiblich rührend, und ich erinnere mich, daß, wie ich still lauschend an eine der hohen Säulen gelehnt stand, mich etwas wie ein heiliger Schauer überlief. So dachte ich mir das, was ich die Sphärenmusik hatte nennen hören, oder das Konzert der Himmelskinder, wie ich sie auf den alten Bildern des Wallraffmuseums gemalt gesehen.

Der Sonntagmittag bot mir noch einen musikalischen Genuß anderer Art. Die Wachtparade der Garnison fand auf dem Neumarkt, dem großen Exerzierplatz statt. Die vortreffliche Kapelle des 28. Infanterieregiments spielte dann zum Parademarsch ihre martialischen Weisen und unterhielt darauf noch die Offiziere und das versammelte Publikum mit einigen gut ausgewählten Stücken, meist Opernmusik. Und da das Repertoir der Kapelle ein ziemlich reiches war, so halfen mir die Wachtparadenkonzerte nicht wenig zur Erweiterung meiner musikalischen Kenntnisse.

Da nun auch die Erzählungen meines vielgereisten Freundes Professor Pütz, sowie ein kunstgeschichtliches Werk, das er mir in die Hand gegeben, mein Interesse für antike und mittelalterliche Baukunst angeregt und meinen Sinn für architektonische Schönheit geweckt hatten, so gewährte mir die oftmalige und eingehende Betrachtung der vielen mittelalterlichen Bauwerke kirchlichen und weltlichen Charakters, deren die Stadt sich rühmen kann, manche schöne Stunde. An Kunstgenüssen fehlte es mir also durchaus nicht – obgleich ich mich fast ganz auf diejenigen zu beschränken hatte, die mir ohne Kosten zugänglich waren. Meine freien Nachmittage brachte ich gewöhnlich mit den Freunden zu, mit denen mich eine Verwandtschaft geistiger Bestrebungen verband. Wir lasen uns gegenseitig unsere dichterischen Erzeugnisse vor, schwelgten miteinander in unseren Lieblingsschriftstellern, oder philosophierten über Gott und die Welt, mit dem Ernst und der Weisheit, die sehr jungen, etwas frühreifen und enthusiastischen Leuten eigen zu sein

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 052. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s052.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)