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erlaubten wir uns, und gesegnet sei das Andenken der Wirte, die nicht engherzig auf der sofortigen Bezahlung ihrer Rechnungen bestanden, gesegnet vor allem das Andenken des biederen Nathan in St. Goarshausen, im Schatten der Loreley, der jeden Frankonen bei sich aufnahm und hegte und pflegte, als wär er sein eigenes Kind. Und wie schwelgten wir in der Poesie der jugendlichen Freundschaften, die mehr als alles andere die jungen Jahre so glücklich machten. Der gereifte Mann soll sich niemals der idealen Schwärmerei schämen, die ihn einst den Arm um die Schulter des Freundes legen und von unzertrennlicher Brüderlichkeit träumen ließ. So werde ich mich auch der Tränen nicht schämen, die ich so reichlich wie irgend ein anderer vergoß, wenn am Schluß des Semesters einzelne Mitglieder unseres Kreises auf Nimmerwiederkehr davonziehen mußten, und wenn dann beim Abschiedstrunk die Gläser zum letzten Male erklangen und das Lied gesungen wurde:

„Wohlauf noch getrunken
Den funkelnden Wein!
Ade nun ihr Lieben,
Geschieden muß sein!“

Ich erinnere mich mehr als eines Abschiedes, bei dem die letzten Strophen des Liedes vor Schluchzen nicht mehr hervorwollten. Noch jetzt kann ich dieses Lied nicht hören, ohne daß es mir mit tiefer Rührung das Herz ergreift, denn ich sehe noch die lieben Gesellen vor mir, wie sich beim Scheiden ihre Augen füllten und sie einander wieder und wieder in die Arme fielen. O diese sorglose, sonnige, idealisch schwärmerische Jugendzeit mit ihren Freunden und Freuden! Wie schnell wurde sie mir von dem bittern Ernst des Lebens überschattet!

Es war am Anfang des Wintersemesters von 1847/48, daß ich den Professor Gottfried Kinkel kennen lernte – eine Bekanntschaft, die für mein späteres Leben von sehr großer Bedeutung werden sollte. Kinkel hielt Vorlesungen über Literatur und Kunstgeschichte, von denen ich eine besuchte. Ebenso nahm ich teil an einem von ihm geleiteten Kursus rhetorischer Übungen. Dies brachte uns in nähere persönliche Berührung. Kinkel war am 11. August 1815 geboren, also zur Zeit, als ich ihm nahe kam, 32 Jahre alt. Er war der Sohn eines evangelischen Pfarrers in Oberkassel am Rhein; und ebenfalls für die theologische Laufbahn bestimmt, studierte er an den Universitäten von Bonn und Berlin. Im Jahre 1836 ließ er sich an der Bonner Universität als Privatdozent der Kirchengeschichte nieder, machte wegen geschwächter Gesundheit 1837 eine Reise nach Italien, wo er sich dem Studium der Kunstgeschichte hingab, und wurde nach seiner Rückkehr Hilfsprediger der evangelischen Gemeinde in Köln. Dahin reiste er jeden Sonntag von Bonn aus, um seine Predigten zu halten, die sich durch einen seltenen rednerischen Schwung auszeichneten. Inzwischen war auch seine Dichtergabe, die durch persönliche Berührung mit Simrock, Wolfgang Müller, Freiligrath und andern beständig neue Anregung empfangen, zur Geltung gekommen. Besonders sein romantisches Epos „Otto der Schütz“ gewann ihm einen bedeutenden Namen. In Köln lernte er die geschiedene Gattin des Buchhändlers Matthieux

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 067. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s067.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)