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Dies war in der Tat für den König eine furchtbare Strafe; aber zugleich eine schlagende Antwort auf den Satz in seiner Proklamation an die „lieben Berliner“, in dem er die Volkskämpfer „eine Rotte von Bösewichtern“ oder deren verführte Opfer genannt hatte. Wären wirklich solche „Bösewichter“ oder „Anarchisten“ in der jetzigen Bedeutung des Wortes, in jener Menge gewesen, so würde Friedrich Wilhelm IV. schwerlich die schreckliche Stunde überlebt haben, als er allein und schutzlos dastand, und vor ihm die Volkskämpfer frisch vom Schlachtfelde, mit dem vom Anblick ihrer Toten geweckten Groll im Herzen, und mit Waffen in ihren Händen. Aber ihr Ruf in jenem Augenblick war nicht: „Tod dem Könige!“ sondern „Jesus meine Zuversicht“.

Auch ist die Geschichte jener Tage von keinem Fall gemeinen Verbrechens seitens des Volkes befleckt worden. Freilich wurden zwei Privathäuser verwüstet, aber nur weil ihre Eigentümer die Barrikadenkämpfer während des Kampfes an die Soldaten verraten hatten. Während die Aufständischen die ganze Nacht hindurch im vollen Besitz eines großen Teils der Stadt waren, gab es doch keine begründete Klage wegen Diebstahls oder mutwilliger Zerstörung. Das Privateigentum war vollkommen sicher. Der Kanonendonner hatte kaum aufgehört, als sich die Läden wieder öffneten.

Der Prinz von Preußen, derselbe Prinz von Preußen, der später im Laufe der Ereignisse als Kaiser Wilhelm I. der populärste Monarch seiner Zeit wurde, mußte unmittelbar nach dem Straßenkampf vor dem Zorn des Volkes fliehen. Ob mit Recht oder Unrecht, das Gerücht bezeichnete ihn als den Mann, der den Truppen den Befehl gegeben habe, auf das Volk zu feuern. Er verließ Berlin während der Nacht und eilte nach England. Ein aufgeregter Haufe sammelte sich vor seinem Palais „Unter den Linden“. Das Gebäude hatte keinerlei Wache zu seinem Schutz. Ein Student, wie erzählt wird, malte das Wort „Nationaleigentum“ auf die Front des Hauses, und eine weitere Bewachung war nicht vonnöten.

Aus dem Zeughause wurden Waffen unter das Volk verteilt. Der König erklärte, er habe sich überzeugt, daß der Friede und die Sicherheit der Stadt nicht besser beschützt werden könnten als durch die Bürger selbst. Am 21. März erschien Friedrich Wilhelm IV. wieder unter dem Volke, zu Pferde, mit einer schwarz-rot-goldenen Binde um den Arm und einer schwarz-rot-goldenen Fahne folgend, die man auf sein Verlangen vor ihm hertrug, während ein gewaltiges schwarz-rot-goldenes Banner im selben Augenblick auf der Kuppel des Königsschlosses erschien. Er sprach mit freier Ungebundenheit zu den Bürgern. Er erklärte, „er wolle sich an die Spitze der Bewegung für ein einiges Deutschland stellen“; „Preußen solle in dem freien Deutschland aufgehn“. Er beteuerte, „daß er nichts im Auge habe als ein konstitutionelles und geeinigtes Deutschland“. An der Universität wendete er sich zu den versammelten Studenten und sagte: „Ich danke Ihnen für den glorreichen Geist, den Sie in diesen Tagen bewiesen haben. Ich bin stolz darauf, daß Deutschland solche Söhne besitzt“. Es war allgemein verstanden, daß eine neues und verantwortliches Ministerium

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 082. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s082.jpg&oldid=- (Version vom 29.8.2021)