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war – den Konservativen, – denjenigen, die dem langsamen Fortschritt huldigten und eine demgemäße Verfassung wünschten – den Konstitutionellen, – und denjenigen, welche die Sicherung der Revolutionsfrüchte nur in einem Aufbau der neuen Zustände „auf breitester demokratischer Grundlage“ sehen konnten – den Demokraten. Mich führte sowohl instinktiver Trieb als Überlegung auf die demokratische Seite. Da traf ich wieder mit Kinkel zusammen, und unsere Freundschaft wurde bald eine sehr intime. Im Laufe unserer gemeinschaftlichen Tätigkeit wich das steifere Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler einem durchaus kameradschaftlichen Ton und das formelle „Sie“ in der Anrede dem vertraulichen „Du“.

Nun begann eine eifrige Agitationstätigkeit, die uns fast ganz in Anspruch nahm. Kinkel, der eine außerordentliche Arbeitskraft besaß und sehr fleißig war, hielt freilich noch seine Vorlesungen, und ich hörte diejenigen, die ich belegt hatte, mit ziemlicher Regelmäßigkeit, aber mein Herz war nicht dabei wie früher. Um so eifriger studierte ich für mich neuere Geschichte, besonders die Geschichte der französischen Revolution, und las eine Menge von philosophisch-politischen Werken und von Pamphleten und Zeitschriften jüngsten Datums, welche die Probleme des Tages zum Gegenstande hatten. Auf diese Weise suchte ich meine politischen Begriffe zu klären und die sehr großen Lücken meiner geschichtlichen Kenntnisse notdürftig auszufüllen, ein Bedürfnis, das ich um so lebhafter empfand, als ich meine agitatorische Arbeit für eine heilige Pflicht ansah. Diese Arbeit war in der Tat nicht gering. Zuerst organisierten wir einen demokratischen Klub, aus Bürgersleuten und Studenten bestehend, der in einem von Professor Loebell, einem sehr geistvollen Manne, geleiteten „konstitutionellen Klub“ einen nicht zu verachtenden Rivalen hatte. Dann wurde als örtliches Organ der demokratischen Partei die „Bonner Zeitung“ gegründet, ein täglich erscheinendes Blatt, deren Redaktion Kinkel übernahm, während ich als regelmäßiger Mitredakteur fungierte und täglich einen oder mehrere Artikel zu liefern hatte. Und schließlich wanderten wir ein- oder mehrmals jede Woche, in der Tat so oft wir Zeit fanden, nach den umliegenden Ortschaften hinaus, um den Landleuten das politische Evangelium der neuen Zeit zu predigen und auch dort demokratische Vereine zu organisieren. Unzweifelhaft förderte der neunzehnjährige Journalist und Volksredner sehr viel unverdautes Zeug zutage, aber er glaubte aufrichtig und heiß an seine Sache und würde jeden Augenblick bereit gewesen sein, für das, was er sagte und schrieb, sein Herzblut einzusetzen.

Meine Tätigkeit in dieser Richtung hätte kurz nach ihrem Anfange beinahe ein jähes Ende gefunden. Schon lange vor dem Ausbruch der Märzrevolution hatte das Volk der Herzogtümer Schleswig und Holstein große Anstrengungen gemacht, unter einer Personalunion mit Dänemark eine politisch-selbständige Existenz zu gewinnen. Im März 1848 brach dort ein allgemeiner Aufstand aus, dessen Zweck es war, diese selbständige Stellung zu sichern und nicht allein Holstein, sondern auch Schleswig zu einem Teil des deutschen Bundesgebiets zu machen. Diese Erhebung fand in ganz Deutschland die lebhafteste Sympathie,

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 087. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s087.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)