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den Rücken gekehrt und in der Richtung der Unsrigen geschossen haben.“ Gefährlich verwundet wurde Strodtmann auf die „Dronning Maria“, das dänische Gefangenschiff, gebracht und nach einiger Zeit ausgewechselt. Nach seiner Genesung, die merkwürdig schnell erfolgte, kam er zur Bonner Universität, um Sprachen und Literatur zu studieren.

Seine körperlichen Gebrechen machten ihn zu einer etwas sonderbaren Person. Seine Taubheit veranlaßte allerlei spaßhafte Mißverständnisse, über die er selbst gewöhnlich der Erste war herzlich zu lachen. Er sprach mit sehr lauter Stimme, als wären wir alle ebenso taub gewesen wie er. Infolge seiner Verwundung hatte er sich angewöhnt, beim Gehen die eine Schulter – ich glaube es war die linke – vorzuschieben, als hätte er sich durch eine uns anderen unsichtbare Menschenmenge durchdrängen müssen, und er sah so schlecht und war dabei so unaufmerksam, daß er gegen alle möglichen Gegenstände anlief. Aber er war eine aufrichtige, frische, enthusiastische Natur; von eigentümlich naiven Lebensanschauungen; höchst aufopferungsfähig und allen großmütigen und edlen Impulsen offen. Er besaß einen merkwürdigen literarischen Formensinn. Seine Verse, deren er viele machte, und die er gern mit seiner Donnerstimme verlas, zeichneten sich gewöhnlich nicht durch Gedankentiefe, noch durch reiche Phantasie, noch durch feine poetische Empfindung aus – wohl aber durch eine seltene Ausdrucksfülle und einen prächtigen musikalischen Tonfall. So hat er denn auch in der Folge als Übersetzer französischer, englischer und dänischer Dichter und Prosaiker sehr Vortreffliches geleistet. Seine politischen Ansichten waren zu jener Zeit von entschieden demokratischer Färbung, und er schloß sich Kinkel mit großer Wärme an. So wurden er und ich intime Freunde.

Die politische Feststimmung, die unmittelbar nach der Märzrevolution alles in so rosigem Licht erscheinen ließ, begann bald sich zu verdunkeln. In Süddeutschland, wo die Meinung Boden faßte, daß die Revolution nicht hätte vor den Thronen stillstehen sollen, fand ein republikanischer Aufstand statt unter der Führung des brillanten und ungestümen Volksführers Hecker. Dieser Aufstand wurde schnell mit Waffengewalt unterdrückt. Im ganzen fanden solche Versuche im Lande zuerst wenig Sympathie. Die allgemeinen Wünsche der liberalen Massen gingen nicht hinaus über die Herstellung der nationalen Einheit und die „konstitutionelle Monarchie auf breiter demokratischer Grundlage“. Aber der republikanische Gedanke verbreitete sich und gewann Stärke, wie die „Reaktion“ eine mehr und mehr drohende Gestalt annahm.

Das Nationalparlament in Frankfurt, das im Frühling gewählt worden war, um die Souveränität der deutschen Nation in einer nationalen Regierung zu verkörpern, zählte unter seinen Mitgliedern eine Menge von Berühmtheiten auf den Feldern der Politik, Jurisprudenz, Philosophie, Wissenschaft und Literatur. Es zeigte sich bald eine Neigung, mit glänzenden, aber mehr oder minder fruchtlosen Debatten einen großen Teil der Zeit zu vergeuden, die dazu hätte verwandt werden sollen, durch promptes und entschiedenes Handeln die Errungenschaften der Revolution unter Dach und Fach zu bringen und so gegen feindliche Angriffe zu sichern.

Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 089. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s089.jpg&oldid=- (Version vom 29.8.2021)