Seite:Schurz Lebenserinnerungen b1 s090.jpg

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Aber unsere Blicke waren mit noch größerer Sorge auf Berlin gerichtet. Preußen war bei weitem der stärkste unter den ganz deutschen Staaten. Österreich bildete dagegen ein Konglomerat von verschiedenen Nationalitäten – Deutsche, Magyaren, Slaven, Italiener. Das deutsche Element, zu dem die Dynastie und die politische Hauptstadt gehörten, war bis dahin das führende gewesen, wie es auch das vorgeschrittenste an Reichtum und Zivilisation war, wenn auch nicht das stärkste an Zahl. Aber die Slaven, die Magyaren und die Italiener, besonders angeregt durch die revolutionären Bewegungen von 1848, strebten nach nationaler Autonomie; und obgleich Österreich in den letzten Jahrhunderten des alten deutschen Reichs und dann auch nach den napoleonischen Kriegen die Führerstelle eingenommen hatte, so war es doch sehr zweifelhaft, ob seine nichtdeutschen Interessen mit einer ähnlichen Stellung in dem unter einer konstitutionellen Regierung vereinigten Deutschland verträglich sein würden. Tatsächlich zeigte es sich später, daß die gegenseitige Eifersucht der verschiedenen Nationalitäten die österreichische Zentralregierung in den Stand setzte, jede dieser Nationalitäten durch die anderen einem despotischen Regiment zu unterwerfen, und daß trotz allem, was die Märzrevolution versprochen, die nichtdeutschen Interessen und die der Dynastie in der Politik Österreichs die vorherrschenden waren. Aber Preußen war, einen kleinen polnischen Distrikt ausgenommen, ein rein deutsches Land, und bei weitem der stärkste unter den deutschen Staaten im Punkte der Volkszahl, der fortschrittlichen Tendenzen, der wirtschaftlichen Tätigkeit, und besonders der militärischen Wehrkraft. Man fühlte daher allgemein, daß die Entwicklung in Preußen für das Schicksal der Revolution entscheidend sein würde.

Eine Weile schien sich Friedrich Wilhelm IV. zu gefallen in der Rolle des Führers der nationalen Bewegung, die er im Sturm und Drang der Märztage auf sich genommen hatte. Seine bewegliche Natur schien von einem neuen Enthusiasmus erwärmt zu sein. Er machte Spaziergänge auf den Straßen Berlins und redete vertraulich mit den Leuten. Er sprach von der Durchführung von konstitutionellen Regierungsprinzipien wie von einer Sache, die sich von selbst verstehe. Laut pries er „das Volk von Berlin“, das sich so edel und hochherzig gegen ihn benommen habe, wie es sich vielleicht in keiner andern Stadt der Welt benehmen würde. Er verordnete, daß die Armee die schwarz-rot-goldene Kokarde zugleich mit der preußischen tragen solle. Auf dem Paradeplatz in Potsdam erklärte er den mürrischen Offizieren der Garde, „daß er sich glücklich, frei und wohlbewahrt unter seinen Bürgern in Berlin fühle, daß er alles, was er gegeben und getan, aus voller freier Überzeugung gegeben und getan, und daß darum keiner sich erdreisten möge, daran zu zweifeln“. Aber als die preußische Nationalversammlung in Berlin zusammengetreten war und anfing, Gesetze zu beschließen und konstitutionelle Grundsätze zu betonen, und im Geiste der Revolution in Regierungsgeschäfte einzugreifen, da öffnete sich das Ohr des Königs nach und nach andern Einflüssen; und diese Einflüsse umgaben ihn um so bequemer, als er von Berlin nach seinem Potsdamer Palast hinüberzog. Damit hörte des Königs unmittelbare Berührung mit dem Volke auf; seine Gespräche mit den neuen liberalen Ministern beschränkten

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 090. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s090.jpg&oldid=- (Version vom 29.8.2021)