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Eines Abends saß ich in meiner Theaterloge – Flotows „Martha“ wurde aufgeführt –, als ich zwei Damen in der vorderen Sitzreihe der nächsten Loge dicht neben mir Platz nehmen hörte. Ein paar Minuten später wandte ich mich um und ich traute meinen Augen kaum – mein Herz machte einen großen Sprung –, als ich Betty erkannte, nur durch die niedrige Scheidewand der Logenfront wie durch den Arm eines Lehnsessels von mir getrennt. Nun bemerkte ich, wie die beiden Damen in Bewegung gerieten und auf ihren Sitzen und in den Taschen ihrer Kleider nach etwas suchten, das sie offenbar nicht finden konnten. Ihre Unterhaltung, die ich zu verstehen vermochte, klärte mich auf. Sie hatten das Opernglas zu Hause auf dem Tisch liegen lassen. Jetzt bot sich mir die offenbare Gunst der Gelegenheit. Ich hielt ein Opernglas in meiner Hand. Was wäre natürlicher gewesen, als es den Damen mit einigen höflichen Worten anzubieten? Kam es nicht einer positiven Unart gleich, wenn ich diesen Akt der Höflichkeit unterließ? So nahm ich mich denn zusammen. Ich hatte mich schon halb umgewendet, als ich fühlte, wie eine glühende Röte mein Gesicht übergoß und das Herz mir bis in die Kehle schlug. Ich hätte kein Wort hervorbringen können. Männern gegenüber hatte ich meine kindische Schüchternheit einigermaßen überwunden; aber die Gegenwart dieses Mädchens machte mich hilflos. Und nun gar das scheue Geheimnis meiner schwärmerischen Neigung, das, wie ich glaubte, mir jetzt auf der Stirne geschrieben stand. Nein, ich konnte sie nicht anblicken und meine Zunge versagte den Dienst. Ich wandte mich wieder zurück, und dann saß ich da die ganze „Martha“ hindurch in brennender Seelenqual, kaum hörend und sehend, was vor mir und um mich her geschah, mich selbst verhöhnend, weil ich nicht den Mut hatte, das Glück zu ergreifen, welches mir das Schicksal in den Schoß warf. Endlich war die Oper zu Ende. Die Damen erhoben sich, um ihre Loge zu verlassen, und ich blickte ihnen nach, als sie mir bereits den Rücken gekehrt. Dann lief ich hinaus und die Selbstqual stürmte mit verdoppelter Schärfe auf mich ein. Es war meine Absicht gewesen, nach der Oper noch einmal die Frankonenkneipe zu besuchen, um mit einigen meiner Freunde zu reden. Aber ich schämte mich, diesen in die Augen zu sehen, obgleich sie nichts von meiner schmählichen Niederlage wußten. So machte ich denn einen langen einsamen Gang durch die finstere Nacht. Wie verhöhnte ich mich selbst wegen dessen, was ich eine kindische, elende, unbegreifliche Feigheit nannte! Wie oft sagte ich mir die Worte vor, die ich hätte an Betty richten sollen! Ich war entsetzlich mit mir selbst zerfallen und sah nur weggeworfenes Glück und eine Zukunft voll Reue und Selbstverachtung vor mir. Endlich richtete ich mich an dem feierlichen Vorsatz auf, nun ganz gewiß Betty anzureden und sie wegen meiner Unart im Theater um Verzeihung zu bitten, sobald ich sie wiedersähe. Aber ich sollte sie nie wiedersehen. Bald traten Ereignisse ein, die mich aus all meinen bisherigen Lebensverhältnissen für immer herausrissen.

Von den unmittelbar aus der Märzrevolution hervorgegegangenen größeren parlamentarischen Körpern war nur noch das Nationalparlament in Frankfurt übrig. Es verdankte dem Drange des deutschen Volkes, oder vielmehr der deutschen Völker, nach nationaler Einheit

Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 108. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s108.jpg&oldid=- (Version vom 29.8.2021)