Seite:Schurz Lebenserinnerungen b1 s148.jpg

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unsere Vorräte aus, und da wir seit der Frühstückszeit des vorigen Tages – denn Mitternacht war längst vorüber – nichts genossen hatten, so fehlte es nicht an Hunger und Durst. Unser Brot war allerdings naß geworden, aber es schmeckte uns doch; ebenso die Würste. Wir erinnerten uns beizeiten, daß wir nicht den ganzen Vorrat aufzehren durften, denn wir wußten ja nicht, woher sonst die nächste Mahlzeit kommen würde. Übrigens quälte uns auch der Durst mehr als der Hunger. Seit ungefähr zwölf Stunden waren unsere Füße im Wasser gewesen und daher eisig durchkältet. Dieser Umstand, verbunden mit der Aufregung, hatte uns das Blut zu Kopf getrieben. Adam öffnete nun eine der beiden Flaschen, die er für uns gekauft, und es fand sich, daß sie Rum statt Wein enthielt. Obgleich ich gegen alles, was Branntwein hieß, immer eine starke Abneigung gehabt, so trank ich doch wie auch meine Gefährten, in gierigen Zügen, und es schien, als bliebe das Gehirn völlig klar dabei.

Nachdem wir unsere Mahlzeit beendigt, nahm Adam das Wort. „In der Stadt habe ich eine Base“, sagte er. „Ihr Haus ist nicht weit vom Eingang des Kanals. Um dahin zu kommen, brauchen wir nur durch ein paar Gärten zu gehen. Wir könnten uns da in der Scheune verbergen, bis sich etwas Besseres findet.“

Dieser Vorschlag fand Beifall, und wir beschlossen, den Versuch zu machen. In demselben Augenblicke stieg in mir ein höchst niederschlagender Gedanke auf. Ich erinnerte mich, daß wir während der Belagerung dicht bei dem Eingang des Kanals einen Wachtposten gehabt hatten. War dieser Posten von den Preußen ebenfalls besetzt worden, so saßen wir in dem Kanal zwischen zwei feindlichen Schildwachen. Ich teilte meinen Gefährten meine Befürchtung mit. Was war zu tun? Vielleicht hatten die Preußen diesen Posten noch nicht besetzt. Vielleicht konnten wir uns vorbeischleichen. Auf alle Fälle – nichts blieb uns übrig als der Versuch durchzuschlüpfen.

Als wir unsere Bank verließen, um den Rückmarsch anzutreten, hörten wir die Turmuhr draußen drei schlagen. Ich ging voraus und erreichte bald den letzten Luftschacht. Ich nahm die Gelegenheit wahr, um mich aufzurichten und ein wenig zu strecken, wobei mir etwas geschah, das auf den ersten Augenblick ein Unglück schien. Ich hatte meinen kurzen Karabiner bei dem gebückten Gehen durch den Kanal als eine Art von Krücke gebraucht. Indem ich mich aufrichtete, fiel mir der Karabiner ins Wasser und machte ein großes Geräusch. „Holla!“ rief eine Stimme just über mir. „Holla! In diesem Loch steckt was! Kommt hierher!“ Und in demselben Augenblicke kam ein Bajonett, wie eine Sondiernadel, von oben herunter durch das Gitter, welches das Luftloch deckte. Ich hörte es, wie es an die eisernen Stäbe des Gitters anstieß, und wich der Spitze desselben durch rasches Bücken aus. „Nun schnell hinaus!“ flüsterte ich meinen Genossen zu, – „oder wir sind verloren.“ Mit wenigen hastigen Schritten erreichten wir das Ende des Kanals. Ohne uns umzusehen, sprangen wir über eine Hecke in den nächsten Garten und gewannen in schnellem Lauf einen zweiten Zaun, der ebenso überstiegen wurde. Atemlos blieben wir dann in einem Felde hoher Gartengewächse stehen, um zu horchen, ob uns jemand

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 148. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s148.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)