Seite:Wilamowitz Geschichte der griechischen Sprache 09.jpg

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Unsere geschichtliche Forschung erkennt mit dem ewigen Wechsel des Lebens auch die Erscheinungen an, in denen abstrakte Würdigung Entartung sieht, aber reizen werden sie vor allem die schöpferischen Zeiten, wenn frischer Wagemut tastend und strauchelnd endlich doch den Weg zu dem findet, was der Nachwelt mit Recht den Stempel klassischer Vollendung zu tragen, also ewigen Wert zu besitzen scheint. Das ist hier die hellenische Literatursprache, oder vielmehr, wie wir sahen, die verschiedenen Sprachen. Das führt uns zurück in die dunkle Vorzeit, da die Hellenen überhaupt erst schreiben lernten. Freilich hat es kunstvoll geformte Rede schon viel früher gegeben. Der Zauberspruch, die Schwurformel (in Wahrheit eine Form des zauberischen Fluches), das Sprichwort, auch Formeln der Rechtssprache sind längst geprägt, und die Poesie hat, wie wir mit Zuversicht sagen dürfen, schon in indogermanischer Zeit Versformen gebildet, deren Nachwirkung in mehreren Sprachen fühlbar ist. Die epische Sprache, die wir erst in ihrer Vollendung kennen lernen, hatte eine Geschichte von Jahrhunderten hinter sich, als Homer schreibt, und er läßt seine Heroen nicht schreiben, weil ihre Standesgenossen, für die er dichtet, der schweren Kunst nicht mächtig sind. Ihm ist die Schrift also nur ein φάρμακον λήθης, wie Platon sie nennt. Aber lange vor ihm hat der unbekannte Wohltäter der Menschheit gelebt, der die von den Semiten entlehnte Buchstabenschrift zur Wiedergabe der Laute erst fähig machte, indem er entbehrliche Buchstaben für die fünf Vokale verwandte. Wo er lebte, ist noch nicht ausgemacht, aber es kann nicht in einem Winkel, sondern nur an einem Zentrum des Verkehrs geschehen sein. Diese Schrift hat sich sicherlich nicht rasch verbreitet und gemäß der Zersplitterung der Griechen mannigfache Veränderungen erfahren: erst die ionische Literatursprache hat sich auch in ihrer Schrift durchgesetzt, spät genug. Aber angewandt