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er nun plötzlich die Eier sah, da ließ er sich herab, und weil die Eier ringsumher zerstreut lagen, so dauerte es eine Zeitlang, bis er sie alle ausgesogen hatte. Unterdessen gelang es dem Manne, nach Hause zu entkommen.

Als er ins Zimmer trat und seine Frau sah, da sprach er schluchzend zu ihr: „Mit knapper Not bin ich davongekommen, daß ich dem Wurm nicht seinen Bauch gefüllt. Wenn das so unaufhörlich weitergeht, so ist es noch mein Tod.“

Mit diesen Worten kniete er nieder und bat die Frau flehentlich, ihm das Leben zu retten.

„Wo ist denn deine Heimat?“ sprach da die Frau zu ihm.

„Meine Heimat ist von hier wohl hundert Meilen weit im Land der Mitte. Es lebt mir noch eine alte Mutter. Es macht mir nur zu schaffen, daß wir so arm sind.“

Die Frau sprach: „Ich will mit dir entfliehen und deine Mutter suchen. Sei nicht traurig über deine Armut!“

Damit nahm sie, was an Perlen und Edelsteinen im Haus vorhanden war, tat es in einen Sack und ließ dem Mann ihn um die Lenden binden. Dann gab sie ihm noch einen Regenschirm, und tief in der Nacht überstiegen sie die Mauer auf einer Leiter und gingen weg.

Sie sagte noch zu ihm: „Nimm den Regenschirm auf den Rücken und laufe so rasch du kannst! Öffne ihn nicht und sieh dich auch nicht um! Ich will dir im Verborgenen folgen.“

So wandte er sich nach Norden und lief aus Leibeskräften. Einen Tag und eine Nacht war er gelaufen, wohl hundert Meilen weit, und hatte schon der Wilden Grenze überschritten, da ermatteten ihm die Beine und er ward hungrig. Vor ihm lag ein Bergdorf. Er blieb am Eingang dieses Dorfes stehen, um zu ruhen, holte etwas Wegzehrung aus der Tasche und aß. Er blickte sich um, ohne seine Frau zu sehen.

Da sprach er bei sich selbst: „Am Ende hat sie dich betrogen und kommt gar nicht.“

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 234. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_234.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)