Seite:Wilhelm ChinVolksm 245.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Die Frau hielt ihn an der Türe auf und bat ihn unter Tränen, ihrem Mann das Leben wiederzugeben. Der Priester entschuldigte sich, das gehe über seine Macht. Die Frau begann noch heftiger zu klagen, warf sich zur Erde und blieb so vor ihm liegen.

Der Priester dachte lange nach, dann sprach er: „Meine Kunst reicht nicht aus, Tote zu erwecken; aber ich will Euch einen Mann sagen, der es vielleicht kann. Wenn Ihr hingeht und ihn bittet, werdet Ihr sicher Erfolg haben.“ Auf die Frage, wer es sei, antwortete er: „Auf dem Markt ist ein Verrückter, der beständig im Kote herumliegt. Ihr könnt einmal versuchen, ihn durch Eure Bitten zu rühren. Wenn er Euch schmäht und mißhandelt, dürft Ihr nicht zornig werden.“ Der Schwager der Frau hatte den Verrückten auch schon gesehen, so verabschiedete sich der Priester denn.

Der Schwager ging mit der Frau zusammen hin. Da begegneten sie einem Bettler, der auf der Straße wie ein Irrsinniger sang. Der Schleim floß ihm aus der Nase, und er starrte vor Schmutz, daß man ihm nicht nahen konnte. Die Frau rutschte auf ihren Knien zu ihm hin. Der Bettler lachte: „Schätzchen, hast du mich gern?“ Die Frau klagte ihm ihr Leid. Da begann er zu lachen: „Es gibt doch genug Männer für dich, warum soll man den einen wieder lebendig machen?“ Die Frau fuhr fort, ihm zu klagen. Da sprach er: „Komisch, wenn einer tot ist, von mir zu verlangen, ich soll ihn wieder lebendig machen. Bin ich denn der Höllenfürst?“ Dann tat er böse und schlug mit seinem Stock nach der Frau. Die verbiß den Schmerz und ließ es sich gefallen. Allmählich sammelten sich die Marktleute und standen dicht wie eine Mauer umher. Der Bettler räusperte sich, spuckte in die Hand. Das hielt er ihr an den Mund und sagte: „Iß es!“ Da stieg der Frau die Röte ins Gesicht, und es schien, als würde es ihr zu schwer. Doch eingedenk der Worte des Priesters, bezwang sie sich und schluckte es hinunter. Sie fühlte etwas Hartes die

Empfohlene Zitierweise:
Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 245. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_245.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)