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Kalevala-Studien.
Von
J. Kronn.
(Übersetzt von Viktor Hackmann.)


1. In welchem Verhältnis steht die gedruckte Kalevala zum Volksliede?

Vor einigen Jahren wurde das fünfzigjährige Jubiläum unseres berühmten Heldenepos gefeiert. Während der ganzen langen vorhergehenden Zeit hatte die wissenschaftliche Forschung beinahe gar nicht die Zusammensetzung desselben berührt, oder, wo dies geschah, sie nur vom rein ästhetischen Standpunkt aus beurteilt. Gottlund war der Einzige, welcher um das Jahr vierzig ein und das andere Wort über das Verhältnis der gedruckten Ausgabe zum Volksliede äusserte; aber seine von Neid erfüllte Heftigkeit, die sich in seinen Bemerkungen Luft machte, verursachte wohl, dass man die Glaubwürdigkeit der letzteren anzweifelte und dass sie ohne die geringste Beachtung gelassen wurden. Manche Umstände standen auch bis zur letzten Zeit einer wissenschaftlichen Untersuchung im Wege. Vor allem der Umstand, dass Lönnrot nicht vor 1873 der finnischen Litteraturgesellschaft die Runensammlungen anvertraute, welche das Material zu seiner Ausgabe geliefert hatten. Zweitens war es bekannt, dass der gefeierte und beliebte Rhapsode, obwohl mehr als andere Menschen frei von Eigendünkel, doch äusserst empfindlich war für alle Kritik, welche seine Kalevala treffen konnte. Die Ursache hiervon schien der Umstand zu sein, dass er eine Kritik einem Zweifel an seiner litterarischen Ehrlichkeit gleich erachtete. Schliesslich war noch die Freude über den Besitz eines für das finnische Volk so wertvollen Schatzes lange Zeit so überwältigend, dass man es kaum wagte, dem Heiligtum anders als mit blinder Bewunderung zu nahen.

Daher war es kein Wunder, wenn die allgemeine Vorstellung über die Zusammensetzung der Kalevala nichts weniger als mit der Wirklichkeit übereinstimmend war. In unserem Lande hat es wohl kaum viel Leute gegeben, welche gewagt hätten zu bezweifeln, dass die Kalevala auch von den Volkssängern nahezu in derselben Form gesungen worden sei, wie sie jetzt im Drucke zugänglich ist. Über das Verfahren Lönnrots

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Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 117. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_117.png&oldid=- (Version vom 21.11.2023)