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erscheinenden Elemente zu einer bewundernswerten poetischen Einheit verbunden. Es kann nicht anders als ein Glück bezeichnet werden, dass Lönnrot so deutlich, wie in den oben genannten Gedichten, seinen Mangel an dichterischer Begabung gezeigt hat. Diese seine eigenen Gedichte sind wertvolle Dokumente, welche beweisen, dass auch die Zusammensetzung der Kalevala ein Werk ist, nicht nach einem bewussten Plane eines Kunstpoeten ausgearbeitet, sondern aus dem Volksgeiste im allgemeinen, welcher hier, sowie auch sonst bei der Ausbildung des Volksgesanges in seinem Dienste unbewusste Werkzeuge gebraucht.

2. Wo sind die Kalevala-Gesänge entstanden?

In seinem Vorworte zur Kalevala nimmt Lönnrot an, dass die finnischen epischen Gesänge zuerst an den Ufern der Dwina gedichtet worden sind.

Dort in dem warenreichen Bjarmenlande entwickelte sich, so meinte er, eine höhere finnische Kultur; da begann auch die Blume der Dichtkunst früher zu blühen als an anderen Stellen innerhalb der Wohnplätze des finnischen Volkes. Auch Professor Ahlquist hat dieselbe Ansicht. Aber diese Autoritäten, obwohl unter den ersten auf dem Gebiete finnischer Sprachwissenschaft und Litteratur, können uns doch nicht hindern, gewisse Umstände in Betracht zu ziehen, welche diese Hypothese unmöglich machen.

Zuvörderst müsste doch wohl ein Volksgedicht sich an die Natur halten, in welcher seine Dichter selbst leben; ihr enger Gesichtskreis erlaubt es ihnen nicht, den Schauplatz in ein entfernteres Land zu verlegen, welches sie niemals gesehen haben. Aber ein recht grosser Teil der Naturgegenstände, welche in der Kalevala vorkommen, passt nicht zu einer so nördlichen Gegend wie die Küste des Eismeeres. In unseren epischen Gedichten ist niemals die Rede von den öden kahlen Tundren in der Nähe besagter Gegenden, niemals von den Eisbären, welche an diesen Küsten nicht so selten sind; niemals vom Lärchenbaume und der Cembrafichte, die so eigentümlich für den Urwald zwischen dem Dwinafluss und den Uralbergen sind. Dagegen kommen allgemein vor die Eiche, der Ahorn, die Linde und der Apfelbaum, deren nördlichste Grenze sich weit mehr nach Süden hinab erstreckt. Unter Tieren sind der Igel und das als Haustier auftretende Schwein ebenso sichere Kennzeichen. Der Walfisch und das Walross werden wohl manchmal erwähnt, doch nur selten, offenbar als Fremdlinge; andererseits wieder, im scharfen Gegensatz hierzu, das Kameel.

Ebenso wichtig ist der Umstand, dass von den zum Kalevala-Cyklus gehörenden Stoffen jede Spur in den spärlichen Gesängen und Sagen der nicht allzuweit von der Nähe der Dwina noch wohnenden Syrjänen, sowie der etwas mehr entlegenen übrigen Permier vermisst wird. Wenn, wie behauptet wird, die Kalevala in Permien das Tageslicht erblickt hat. so hätten ohne Zweifel diese nächsten Nachbarn der finnischen Sänger es nicht unterlassen können, aus derselben reichen Quelle zu schöpfen.

Empfohlene Zitierweise:
Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 121. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_121.png&oldid=- (Version vom 21.11.2023)