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bei den westlichen Zweigen desselben und schliesslich ein Teil ausschliesslich bei den Esthen und Liven. Die erste Beeinflussung geschah unzweifelhaft gleichzeitig mit der gothischen, welche sich in anderen zahlreichen entliehenen Worten verrät (die Zeit vor der Völkerwanderung); die zweite traf offenbar die schon geschiedenen und teilweise auf dem Zuge nach Westen begriffenen finnischen Stämme, die letztere muss nach dem Jahre 400 stattgefunden haben, wo wohl ungefähr auch die Esthen ihr jetziges Land eingenommen haben.

Zu dieser spätesten Periode scheinen nun auch die meisten Mythenentleihungen zu gehören, denn von einem grossen Teile kann es bewiesen werden, dass sie erst ihre finnische Form in Esthland erhalten und von da aus sich nach Ingermanland und Karelien verbreitet haben. Nach Westfinnland dagegen ist nur ein schwaches Echo gedrungen. Ebenso sind viele unbekannt für die russischen Karelier. Aus allem diesen scheint hervorzugehen, dass das Aufnehmen der Mythen nicht gleich nach der Einwanderung der Esthen vor sich gegangen ist, sondern wahrscheinlich bedeutend später, denn sonst hätte sich die Verbreitung noch weiter ausgedehnt. Hierher würden wir die Mythe vom Weltei, vom Schmieden des Himmelsgewölbes, von der Weltaussaat (wenn nicht eher slavisch), den gegenseitigen Liebesverhältnissen der Himmelskörper und anderes rechnen. Zur ältesten Periode dagegen gehören, da auch Spuren von ihnen bei den Mordwinen sich finden, die Vorstellung von den Wolkenjungfrauen, welche alles Lebende hervorbringen (wenn nicht vielleicht gothischen Ursprungs), und in den Zaubergesängen gehört z. B. das Auftreten des Panu (ein litauischer Name für Feuer), der das Feuer buttert, offenbar zu der ältesten Periode.

Von uraltem asiatischen Ursprung ist schliesslich die Grundidee der Schöpfungsmythe, die sich somit jeder auch nur annähernden Zeitbestimmung entzieht.

Wie aus dem oben Genannten hervorgeht, sind die Kalevalagesänge, was den Hauptstamm ihrer Bestandteile betrifft, wohl bei weitem nicht so uralt, wie man bisher sich gewöhnlich vorgestellt hat. Ebenso ist hier, wenn auch nur andeutungsweise, darauf hingewiesen worden, dass ein bedeutender, ja der grösste Teil des Stoffes aus Mythen und Sagen anderer Völker genommen ist. Besonders diese letzte Behauptung hat ohne Zweifel auf vielen Seiten schmerzliche Gefühle geweckt, da man so gern in der Kalevala ein durch und durch eigenartiges Produkt des finnischen Volksgeistes hat sehen wollen. Andrerseits ist auch vorauszusehen, dass sie neue Nahrung für die Unterschätzung der geistigen Fähigkeit des finnischen Volkes darbieten wird, welche man oft bei den mehr zivilisierten, höher stehenden Völkern wahrgenommen hat. Etwas Derartiges scheint auch Castrén gefürchtet zu haben, als er zuerst in einer grösseren Menge skandinavische Entlehnungen in unserem Epos entdeckte. „Vielleicht“, sagte er, „ist der finnischen Nationalität nicht damit gedient, dass dieser Gedanke ausgesprochen wird; aber die Wissenschaft fordert es, dass er zur Sprache gebracht wird. Nichts sollte mich mehr freuen, als wenn eine gerechte Kritik die Ansichten widerlegen würde, welche ich jetzt darlege.“

Diese ganze Furcht ist jedoch grundlos. Denn wenn auch die Finnen den grössten Teil des Stoffes zu ihren epischen Dichtungen von aussenher

Empfohlene Zitierweise:
Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 214. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_214.png&oldid=- (Version vom 11.4.2024)