Seite:Zeitschrift für Volkskunde I 230.png

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Platz mitten im Gebirge, und es lag dort ein grosser, schöner Mann, das Gesicht gegen die Erde zu gerichtet: neben demselben aber erblickte er mit Grausen zwei eiserne Keulen. Der Mann war ganz mit blutenden Wunden bedeckt, und um ihn herum rannten heulend die beiden Hunde, die aber sofort verstummten, als sie ihren Herrn, den Ritter, vor sich sahen. Dieser gewann seinen Mut wieder und sprach zu dem Manne: „Bist Du von Gott, so sprich zu mir und sage, wer Du bist und woher Du kommst?“ „Ich bin von Gott“, erwiderte der Angeredete; „und es geschieht auf göttlichen Befehl, dass ich mich Dir in dieser jammervollen Gestalt zeige, als ein warnendes Beispiel, wie ein Sünder büssen muss. Ich bin tot, obwohl ich Dir körperlich erscheine. Ich war im Leben ein Ritter, und zwar einer der unmenschlichsten in jener Zeit, da König Richard von England mit König Philipp in Kämpfen lag. Während des Zuges, den die Brabanter nach Poitou und in die Gascogne gemacht haben, wütete ich in Mordthaten und Ausschweifungen jeder Art; ich schonte keinen Stand, kein Geschlecht. Inzwischen fiel ich in ein heftiges Fieber, allein auch da empfand ich keine Reue; ich beichtete nicht, noch empfing ich das heilige Abendmahl. Als die Stunde meines Todes kam, verstummte ich, aber siehe, gegen alles Hoffen und Erwarten kam mir die göttliche Barmherzigkeit zu Hilfe. Ich empfand plötzlich die tiefste Reue und Zerknirschung; ich weinte die bittersten Thränen, und in diesen Thränen bin ich mit Gottes Gnade gestorben. Gleich nach meinem Tode wurde ich zwei Teufeln übergeben, die mich bis zum jüngsten Tage peinigen werden. Heute haben sie meine arme Seele in diese Gebirgswildnis getrieben und mit ihren eisernen Keulen in den Abgründen und Rissen derselben umhergeschleudert. Ich kann Dich jedoch versichern, dass mir diese Qual durch den Gedanken, dass sie einmal ein Ende nimmt, bedeutend erleichtert wird.“ Kaum hatte der Geist dies gesprochen, so verschwand er mit den Keulen gleich einem Rauch. Der Ritter, welcher alles dies gesehen und gehört hatte, änderte sein bisheriges Wesen, beraubte keine armen Leute mehr und führte überhaupt ein besseres Leben; mit ihm thaten dies verschiedene andre.“


Lithauische Märchen.
Von
Fr. RICHTER.
1. Der starke Hans und der starke Peter.

Es war einmal ein König und eine Königin, welche über ein sehr grosses Land herrschten. Leider waren sie kinderlos und fühlten sich deshalb sehr unglücklich. Die Königin betete täglich zu dem lieben Gott unter heissen Thränen, er möge ihr doch ein Kind schenken, der König aber hielt die Zauberer für mächtiger als Gott und wandte sich deshalb nur an diese. Der liebe Gott hatte endlich Erbarmen

Empfohlene Zitierweise:
Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 230. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_230.png&oldid=- (Version vom 22.7.2023)