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Nachdem er den jungen Mann reichlich bewirtet hatte, fragte er ihn: „Hast Du nicht am Wege gesehen, was Dir aufgefallen ist“ „Das wohl“, erwiderte der junge Mann: „ich sah zwei Obstbäume, die aufeinander losschlugen, dass Blätter und Blüten, Früchte und Zweige zur Erde fielen. Dann sah ich Schafe auf einem Felsen, welche lustig und guter Dinge waren, trotz ihrer mageren Weide, und andere Schafe auf einer Wiese voll des besten Futters; diese liessen aber die Köpfe hängen.“

Da nahm der Alte das Wort und sprach: „Die zwei Obstbäume, das sind zwei angesehene Gastwirte in Deinem Dorfe. Sie hadern und streiten unausgesetzt miteinander und verlieren dabei das Ihre. Die fetten Schafe auf der guten Weide, welche traurig sind, das sind die Reichen, die alles im Überfluss haben und doch ihres Lebens nicht froh werden. Die mageren Schafe auf den kahlen Felsen, die so fröhlich sind, das sind wir Armen. Wir haben wenig und bedürfen wenig, aber Gott hat uns Gesundheit und ein fröhliches Herz geschenkt. Wenn du heim kommst, so bewahre alles, was Du geschen hast, in treuem Herzen und es wird Dir auf Erden und im Himmel wohler ergehen als manchem Könige “

Der junge Mann zog nun wieder in seine Heimat zurück. Er hatte Lust an der Arbeit: alles, was er anfing, gedieh ihm so, dass er bald steinreich hätte werden können. Aber er beachtete das, was er gesehen und erfahren hatte. Von seinem Überfluss schenkte er den Armen und ward von den Menschen geliebt, bis ihn ein sanfter Tod in den Himmel führte.


2. Die drei Wünsche.

Eines Tages sassen drei Schwestern in einer Hütte und webten. Da sagte die eine: „Ich würde so lange weben, bis ich die ganze Welt bekleidet hätte, wenn ich alsdann einen Königssohn zum Gemahl bekäme.“ Die andere sagte: „Ich würde dann so viel kochen, bis ich alle Welt zu einem Tanzvergnügen einladen und dabei bewirten könnte.“ Die dritte und jüngste aber sprach: „Ich möchte am liebsten einen Sohn haben, welcher dem Könige treu diente und der Tapferste im ganzen Lande wäre.“

Kaum hatten sie diese Worte gesprochen, so trat der junge König des Landes in die niedrige Bauernhütte und sprach zu den Mädchen: „Ich habe draussen gehört, was ihr geredet habt. Der Wunsch derjenigen soll erfüllt werden, welche zuletzt gesprochen hat, denn ich werde sie zu meiner Gemahlin erheben. Die andern beiden aber mögen mit uns kommen und in meinem Schlosse kochen und weben, soviel sie wollen.“

Nach diesen Worten fasste der junge König seine Erwählte an die Hand und führte sie in Begleitung ihrer beiden Schwestern zu seinem Wagen. Darauf fuhren alle vier zum Schlosse. Die Hochzeit wurde mit grosser Pracht gefeiert und das junge Paar lebte überaus glücklich.

Es mochte seit der Hochzeit ungefähr ein Jahr vergangen sein, da brach der Krieg aus und der König sah sich gezwungen, mit seinem Heere dem Feinde entgegenzuziehen. In der Zeit seiner Abwesenheit beschenkte ihn seine Gemahlin mit einem Sohne, der gleich nach seiner


Empfohlene Zitierweise:
Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 356. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_356.png&oldid=- (Version vom 9.9.2019)