Seite:Zerstreute Blaetter Band I 179.jpg

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Kunst ist dieß so fremde, als da jemand auf den Gedanken kam, ein Farbenclavier zu erfinden, und sich wunderte, daß der Kinderpopanz kein Vergnügen, wie das Clavier der Töne machte. Indessen sind die ächten Wirkungen meiner Kunst gewiß nicht ausgestorben auf der Erde. Unter allen Völkern, selbst unter Türken und Barbaren, lebt sie, und jedes genießt an ihr, was ihm zu genießen vergönnt ist, wohin und wie weit sein Organ gebildet worden. Die feinern Völker bedürfen auch feinere Speise; meine Wirkungen äußern sich also bey ihnen auch geistiger, und sie würdens für einen schlechten Erfolg meiner Kunst halten, wenn je ein Mensch durch sie rasend geworden, einer Lais in den Schooß sänke, oder Persepolis in Brand steckte. Ich wirke auf feinere Endzwecke und Vergnügen; glaubt nicht, daß ich deshalb auch schwächer oder unsichrer wirke. Wie oft hat der Ton eines Gesanges, der simple Gang einiger himmlischen Töne einen Menschen aus dem tiefsten Abgrunde der Traurigkeit

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Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, Erste Sammlung. Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1785, Seite 156. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zerstreute_Blaetter_Band_I_179.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)