Seite:Zerstreute Blaetter Band I 355.jpg

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     Auch scheinets, daß der Schöpfer Sorgfalt getragen habe, den kurzen flüchtigen Genuß der Liebe mit einer Gabe zu ersetzen und zu belohnen, die er unmittelbar aus seinem Schatz nahm, und in der auch das geringste lebendige Geschöpf eines Funkens der Gottheit gewürdigt werden sollte; es ist die Elternzärtlichkeit, die väterliche und mütterliche Liebe. Sie ist göttlich, denn sie ist uneigennützig und sehr oft ohne Dank. Sie ist himmlisch, denn sie kann sich auch in viele zertheilen, und bleibt immer ganz, immer ungetheilt und neidlos. Endlich ist sie auch ewig und unendlich, denn sie überwindet Liebe und Tod. Abscheulich ist die Mutter, die ihrem Kinde den Liebhaber vorzieht: selbst Thiere beschämen sie, die freudig für ihre Jungen starben. Unter allen Schmerzen des Todes schmeichelten und liebkoseten sie denen, die man grausam aus ihrem Leibe riß, und für jede thierische Mutter giebts kein süßeres Geschäft, als ihre Jungen zu säugen. Mütterliche Zärtlichkeit war das Pfand der Liebe, womit die Natur, gleichsam aus ihrem

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Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, Erste Sammlung. Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1785, Seite 332. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zerstreute_Blaetter_Band_I_355.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)