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Widar Ziehnert: Sachsen’s Volkssagen: Balladen, Romanzen und Legenden. II. Band.

Doch ziert auch Mathilden der reitzendste Leib,
sie ist doch im Herzen kein biederes Weib,
und ist auch Graf Jeschke der reitzendste Mann,
so sieht doch kein ehrsames Mädchen ihn an.

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Mathilden ja fehlet die weibliche Scheu,

und achtet sie wenig der eh’lichen Treu.
Graf Jeschke auch haschet auf fremden Geheg
manch Täubchen zur Frohne der Lüste sich weg.

Der Herr paßt zum Weibchen, das Weibchen zum Herrn,

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und Gleiches zu Gleichem gesellet sich gern.

Wie kos’t mit Mathilden der Graf so vertraut
und eifrig, als hätt’ er sie eben zur Braut!

Wie schmiegen sie sich an einander so eng,
wie küßt er sie heiß in der Tänzer Gedräng!

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Komm, armer betrogener Gatte, und treib

den Lüstling zu Schranken, und strafe dein Weib!

Wohl sieht es Herr Rützschel, wohl faßt ihn die Wuth,
doch er hat nicht den teutschen, gradsinnigen Muth.
Er stellet dem tanzenden Grafen ein Bein –

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pfui! hämische Rache steht Rittern nicht fein!


Vom Falle rafft Jeschke sich eilends empor,
und fasset Herr Rützscheln ingrimmig am Ohr,
und speit ihm ins Antlitz: „Du ehrloser Wicht!“
und schlägt ihm die Faust in das bleiche Gesicht.

Empfohlene Zitierweise:
Widar Ziehnert: Sachsen’s Volkssagen: Balladen, Romanzen und Legenden. II. Band.. Rudolph & Dieterici, Annaberg 1838, Seite 074. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ziehnert_Sachsens_Volkssagen_II_074.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)