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Widar Ziehnert: Sachsen’s Volkssagen: Balladen, Romanzen und Legenden. II. Band.

„Gütig ward er aufgenommen,
     und die greise Aebtissin
ließ mich, als die Jüngste, kommen,
     gab mich ihm zur Wärterin.

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Manchen Tag am Krankenbette

     hab’ ich bei ihm zugebracht,
und an seiner Ruhestätte
     betend manche Nacht durchwacht!“

„Er genaß. Das Roth der Wangen

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     kehrte wieder, und sein Blick

brannt’ im feurigen Verlangen
     nach der Liebe Lust und Glück.
Einen schönern kann’s nicht geben,
     einen schönern nicht wie er!

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Ohne ihn erschien das Leben

     mir gehaltlos, öd’ und leer.“

„Liebe trug ich still im Herzen,
     Liebe für den fremden Mann,
reich an Wonnen und an Schmerzen,

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     wie ein Herz nur lieben kann.

Und er las in meinen Augen,
     schmeichelte und sprach zu mir:
„Mägdlein, magst hier wenig taugen!
     bist zu lieblich – geh’ mit mir!“ –

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Leicht war ich zur Flucht beweglich,

     traute seinem glatten Wort,
doch wie war die Flucht uns möglich? –
     Ha, erschreckt nicht! – nur durch Mord! –

Empfohlene Zitierweise:
Widar Ziehnert: Sachsen’s Volkssagen: Balladen, Romanzen und Legenden. II. Band.. Rudolph & Dieterici, Annaberg 1838, Seite 102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ziehnert_Sachsens_Volkssagen_II_102.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)