Seite:Ziehnert Sachsens Volkssagen II 177.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Widar Ziehnert: Sachsen’s Volkssagen: Balladen, Romanzen und Legenden. II. Band.

35
Sie faßt wahnsinnig die Amme an,

da dringt ihr Gemahl mit den Gästen heran.

Sie zieht den Gemahl zum Fenster vor,
und raunt ihm verzweifelnd die Mähr in’s Ohr.

Da schrickt er zusammen, und faßt voll Wuth

40
die Amme am Arme: „Das büße dein Blut!“


Hinab in den Garten wohl zog er sie;
die Arme stürzte auf ihre Knie.

Er zückte sein Schwert: „Wo das Kindlein mein,
da soll auch die böse Amme nun seyn!“

45
Die Amme fleht weinend: „Erbarmet Euch!“

Da wimmert der Knabe im Fliedergesträuch.

Der Ritter, wie hastig, zertheilt das Gesträuch,
da lag sein Kind auf schwankem Gezweig’.

Gott schützte den Säugling! Der Fliederstrauch stand

50
grad’ unter dem Fenster am Mauerrand.


Es lebt! Er nimmt an sein Herz es auf,
und trägt es mit Thränen zur Mutter hinauf.

Die Mutter am Boden lag starr und bleich;
aufsprang sie bei der freudigen Mähr sogleich.

Empfohlene Zitierweise:
Widar Ziehnert: Sachsen’s Volkssagen: Balladen, Romanzen und Legenden. II. Band.. Rudolph & Dieterici, Annaberg 1838, Seite 177. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ziehnert_Sachsens_Volkssagen_II_177.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)