Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien
[2] Bertha Pappenheim
Dr. Sara Rabinowitsch
Bevölkerung in Galizien
zur Besserung der Verhältnisse
Neuer Frankfurter Verlag
G. m. b. H.
des Herrn Rechtsanwalt
des Judentums
Im Anschluß an diverse Verhandlungen der beiden Vereine, des Frankfurter „Israelitischen Hilfsvereins“ und des „Jüdischen Zweigkomites zur Bekämpfung des Mädchenhandels“ in Hamburg, hatte ich mich erboten, eine Studienreise nach Galizien zu machen, um von bestimmten Gesichtspunkten aus über die Lage der jüdischen Bevölkerung dort mehr zu erfahren, als eine Beobachtung außer Landes es ermöglicht. Die genannten Vereine beauftragten Fräulein Dr. Sara Rabinowitsch und mich, diese Studienreise zu machen, und es erwächst uns beiden daraus die Pflicht, gesondert über die Eindrücke und Erfahrungen unserer Reise zu berichten, und diesen Bericht einem Kreise von Interessenten zu übergeben.
Um die äußere Reihenfolge der Reiseeindrücke festzuhalten, habe ich ein Tagebuch geführt, das mir ermöglicht, mir selbst jederzeit über Einzelheiten, die dem Gedächtnisse leicht entschwinden, wieder Rechenschaft zu geben. Das was ich heute zu bringen habe, ist aber weder ein chronologisches Aufzählen, noch ein geographisches Herzählen, vielmehr will ich mich bemühen, meine Eindrücke stofflich so zu gruppieren, daß sich die Reise und meine Absichten bei derselben als ein zusammenhängendes Ganze darstellen.
Ich hoffe, daß das Niederschreiben mir selbst etwas Ruhe gebracht hat, und daß mir von der Erregung, die mich angesichts so vielen Elends, so vieler Verwahrlosung und Versumpfung oft [6] heftig erfaßte, nur soviel Wärme übrig geblieben ist, um bei denen, die in geistigem Wohlstand und in angeborenen und anerzogenen Sittlichkeitsbegriffen leben, den Eifer zu notwendigen und, wie ich sicher glaube, aussichtsreichen Taten zu erwecken. Ich denke, daß ich meine Absicht, klar und übersichtlich zu bleiben, dann am sichersten erreiche, wenn ich meinen Stoff in der Weise gliedere, daß ich erst mitteile, was wir vorfanden und beobachteten und, daran anschließend, meine Vorschläge entwickle.
Vor allem muß ich mich aber dagegen verwahren, nach nur fünfwöchentlichem Aufenthalt in Galizien für eine Kennerin des Landes gelten zu wollen.
Meine österreichische Landsmannschaft, meine orthodox jüdische Erziehung, und nicht zuletzt mein Beruf, der mich auf eine zehnjährige Tätigkeit in der Armenpflege blicken läßt, waren für mich selbst gewissermaßen die Entschuldigung, mich zu einer Reise, die, wie ich hoffe, nicht ohne praktische Ergebnisse bleiben wird, anzubieten.
Denn nicht alles, was dem Nichtösterreicher, und nicht orthodox erzogenen Juden in Galizien fremd oder befremdlich erscheint, kann einfach auf die Liste dessen gesetzt werden, was mit dem westeuropäischen Kulturhobel geglättet werden soll.
Man wird sich sehr davor hüten müssen, Dinge zu verlangen, die der Individualität des Landes, das in seiner Mischung von deutsch-österreichischen, polnischen und jüdischen Elementen einen sehr bestimmten Charakter hat, allzusehr widersprechen.
Neue Anforderungen können und sollen nur da gestellt werden, wo es sich um eine Verkümmerung oder Unkenntnis allgemeiner, für alle Völker gleich unerläßlicher Kulturfaktoren handelt.
Um nach jeder Richtung hin fein unterscheiden zu können, um Land und Leute gründlich kennen zu lernen, müßte man allerdings jahrelang dort gelebt haben. Dagegen ist aber zu erwägen, daß, wer jahrelang in einem Lande lebt, sich in die Sitten und Gebräuche eines Volkes einlebt, damit auch leicht die Fähigkeit unmittelbarer Beobachtung und Beurteilung verlieren kann, und was an Tiefe gewonnen wird, geht an Schärfe verloren.
Unserem besonderen Reisezweck gegenüber gibt es Dinge, die nur der Konstatierung und keiner besonderen subtilen Forschung bedürfen, Beobachtungen von Einzelheiten, die Schlüsse auf das [7] Allgemeine rechtfertigen, ohne daß man deshalb „leichtfertig generalisiert“.
Wenn wir z. B. bei einem Wunderrabbi im Zimmer sitzen, – er bestreitet die Notwendigkeit von Knabenschulen – und während wir sprechen, fällt meiner Reisegefährtin von der Zimmerdecke herab ein schwerfälliges Ungeziefer in den Schoß, da brauche ich in dem Hause keinen Scheffel Salz zu essen, um mir über den Geist seiner Bewohner – Mann und Frau – ein annähernd richtiges Bild zu machen. Dasselbe gilt von den hervorstechendsten Eigentümlichkeiten des Landes und seiner jüdischen Bevölkerung, die wir nur eine relativ kurze Zeit beobachten konnten.
Ich darf hinzufügen, daß wir unsere Aufgabe ernst nahmen, daß wir eifrig beobachteten und unseren Zweck nicht aus den Augen ließen. Als Frauen war es uns nicht nur möglich, mit den intelligenten Kreisen zu verkehren, sondern wir suchten und fanden Gelegenheit, mit Männern und Frauen, Mädchen und Kindern des Volkes zu sprechen, und manches Wort, mancher Blick ließ uns in Verhältnisse und Zusammenhänge eindringen, die einem Manne unzugänglich und doch für das Verständnis der Zustände sehr wichtig sind.
Dennoch möchte ich für meinen Teil meinen Bericht weder als erschöpfend noch als wissenschaftliche Arbeit betrachtet sehen, da ich eine solche zu leisten nicht im stande bin.
Ich kann nur sagen, wie ich als Frau die Dinge gesehen habe und kann aus meinen persönlichen Eindrücken nach meiner individuellen Auffassung Schlüsse ziehen und Vorschläge machen.
Was die äußeren Reiseumstände betrifft, die ja auch ein gewisses Interesse beanspruchen können, so muß ich sagen, daß sie eigentliche große Gefahren, wie von befreundeter Seite für uns befürchtet wurden, nicht boten.
Dennoch war die Reise tatsächlich mit Anstrengungen, Unbequemlichkeiten und hygienischen Unzuträglichkeiten aller Art verbunden.
Unter der Unsauberkeit mancher Hotels in den kleinen Orten hatten wir speziell weniger zu leiden, weil ich stets bestimmte Vorkehrungen zur Nachtruhe traf, und mit großer Energie immer wieder verlangte, was mir unerläßlich erschien. Männliche Reisende dürften nach dieser Richtung viel mehr zu leiden haben, da ihnen die Übung der Selbsthilfe fehlt. Selbstverständlich mußte [8] ich mich doch in vieles Ungewohnte finden; so mußte ich lernen, meinen Konsum an Wasser sehr einzuschränken, und an Stelle eines Stubenmädchens (jüdische) Stubenknaben walten zu sehen!
Die Fahrten in den Lokalzügen schienen endlos, und wenn nicht bei Benützung der 3. Klasse auf manchen Strecken die Beobachtung der Mitreisenden die Zeit gekürzt hätte, wäre diese Bummelei mit Aufenthalten von 10 Minuten bis zu einer Stunde eine unleidliche Geduldsprobe gewesen.
Die Wagenfahrten bei kaltem Wind und Regen sind nicht sehr behaglich, denn auch die guten Wagen und die guten Straßen sind nach mitteleuropäischen Begriffen schlecht. Aber manche Fahrt in der allverklärenden Maisonne war schön, wenn sie durch frisch-grüne Buchen- und Birkenwälder, oder, wie einmal bei Mondschein, durch anmutiges Hügelland führte. Die kleinen Dörfer an den Reichsstraßen liegen in ziemlich großer Entfernung voneinander. Die ruthenischen Kirchen von eigentümlicher Bauart, mit drei grauen Kuppeln gekrönt, sind fast die einzigen festgemauerten Baulichkeiten, die man sieht. Die Glocken, meist vier an der Zahl, hängen in einem niederen, überdachten Gerüst in der nächsten Nähe der Kirche und entbehren dadurch des weithintönenden Klanges. Die Wohnungen sind meist niedere Hütten mit Strohdächern, die tief über die kleinen Fenster und Türen herabhängen, und für die jedes Fläckerchen Feuer auf dem offenen Herde eine große Gefahr werden kann.
Überall Ziehbrunnen, aus denen nur langsam, bei Bränden sicher entsetzlich langsam, Wasser geholt werden kann, und deren Anlage in der Nähe von Abfuhrstellen aller Art das ständige Vorhandensein von Typhus im Lande ausreichend erklärt.
An den Fenstern der Bauernhäuser werden meist Blumen gehalten, aber ich erinnere mich nicht, an den Fenstern der jüdischen Behausungen, die uns vom Kutscher als solche bezeichnet wurden, oder die wir aus irgend einer Veranlassung kennen lernten, Blumen gesehen zu haben.
Auch sonst scheint der Sinn fürs Schöne unter dem geistigen Drucke und der furchtbaren Not des täglichen Lebens bei den galizischen Juden ganz erstorben. Die Frauen und Mädchen putzen sich auffallend und geschmacklos, aber sie schmücken sich nicht. An die Wohnräume in ihrer hygienischen Unzulänglichkeit ästhetische Ansprüche [9] stellen zu wollen, klänge wie Hohn. Auch die Synagogen sind jeden Schmuckes – auch des durch die Gesetzesauslegung erlaubten – bar. Hie und da ein schöner Messingleuchter, und in Brody[2] ein wahrer Schatz herrlicher alter silberner Thorakronen, sprechen von vergangenen, besseren Zeiten.
Landschaftlich ist der größte Teil Galiziens, den wir auf unserer Reise zu Wagen oder per Bahn kennen lernten, ziemlich reizlos, flach und eintönig, und wir mußten uns oft damit trösten, daß es fruchtbare Felder und gute Weiden waren, die sich unseren etwas Abwechslung suchenden Augen darboten.
Die Anlagen der Städtchen und Dörfer haben wir sich fast gleichmäßig wiederholend vorgefunden. Ein großer, viereckiger Platz, von niederen Häusern umstanden, der Rynckplatz,[3] auf dem der Markt abgehalten wird. Oft steht in der Mitte eine Propination,[4] irgend ein öffentliches Gebäude, oder ein kleiner Komplex von Verkaufshütten.
Charakteristisch für die durchschnittlich analphabetische Bevölkerung ist, daß die Firmenschilder nicht nur in hebräischer und polnischer Sprache Namen und Handel oder Handwerk verkünden, sondern daß, wie in der Kinderfibel, ein Anschauungsbild gleichzeitig die Verständigung mit übernimmt. Einige dieser Bilder wiederholen sich ganz typisch. So die Schere und ein verschlungenes Ellenmaß für die Männerschneider, ein wie eine Käferlarve aussehendes, fest gewickeltes Kind auf den Schildern der Hebammen u. s. w.
Die Märkte bieten ein sehr bewegtes, buntes Bild. Die Bauern und Bäuerinnen in ihren grellfarbigen Röcken und Tüchern, die Juden in der bekannten Tracht schreien und gestikulieren heftig. Meistens „handeln“ sie, oft auch in nicht unanfechtbarer Weise, in sogenannten Luftgeschäften, Mäklerei, Übertragung von Ansprüchen u. s. w. Wir sehen aber auch viele Juden schwere Arbeiten verrichten, als Lastträger oder Fuhrknechte, aber das nur stundenweise, gewissermaßen ruckweise. Eine gleichmäßige, systematische, körperliche Arbeit vermeiden sie, soweit ich es beobachten konnte; dagegen sind sie Meister im Darben. Die Umsätze und der Verdienst für die Juden sind sehr gering, die Preise der Lebensmittel sind verhältnismäßig sehr hoch.
Bemerkenswert ist, daß man unter der jüdischen Bevölkerung [10] sehr wenig Krüppel sieht, wie man z. B. in Italien bei der gleichen Armut so vielen begegnet. Unter den Männern viele schöne Erscheinungen, wenn auch die Mehrzahl hohlwangig, blaß und schmächtig, von gedrückter und gebückter Haltung. Die Mädchen hübsch und frisch, die Frauen früh gealtert und welk, machen oft den Eindruck stumpfer Haustiere. Da die Orte, die wir besuchten, bis zu ¾ jüdischer Bevölkerung aufwiesen, so war ihr Charakter am Freitag Abend und Samstag ein von den anderen Tagen vollständig verschiedener. Keine noch so armselige Hütte, aus der nicht Freitag Abend eine Anzahl Lichtchen blinken, und durch die Straßen schreiten gravitätisch die Männer in der historischen polnischen Tracht, an der sie festhalten, trotzdem sie keine andere Bedeutung mehr hat, als das gelbe Abzeichen des Mittelalters und bei jeder Arbeit störend ist.
Es liegt etwas ungemein Poetisches, Stimmungsvolles in der Sabbatruhe, die sich mit dem aufdämmernden Abend über die jüdischen Häuser legt, – aber wenn das kritische Denken die Stimmung verscheucht hat, sagt man sich: die Sabbatfeier in dieser altehrwürdigen Form ist nur dort möglich, wo bei größter Dichte der jüdischen Bevölkerung der Kontakt mit der fortschreitenden Welt aufgehört hat, und der Fluch der Arbeitslosigkeit die Sabbatruhe so leicht macht. Oder sollte Ursache und Wirkung eine andere Reihenfolge haben, sollte nicht vielleicht die rücksichtslose Auffassung der Sabbatruhe den Fluch der Arbeitslosigkeit heraufbeschworen haben, weil sie den Kontakt mit der fortschreitenden Welt durchbricht?
Traurig ist der Einblick, den der Samstag-Nachmittag-„Korso“ in das gegen einst sehr veränderte jüdische Familienleben bietet.
Scharen junger Mädchen ziehen, übertrieben modisch geputzt, mit Offizieren und Gymnasiasten kokettierend, durch die Hauptstraßen und die öffentlichen Gärten der Städtchen. Wenn man dann erfahren hat, daß ihr Wochenverdienst als Schneiderin, Fabrikarbeiterin, Federsortiererin u. s. w. zwischen 80 Kreuzer bis zwei Gulden schwankt, dann hat man allen Grund, ängstlich zu werden um die Zukunft des jüdischen Volkes!
Als eine Art von Reiseplan diente uns ein Verzeichnis von Städten und Dörfern, in denen sich eine Baron Hirsch-Schule[5] befindet. Ein vom Wiener Kuratorium im liebenswürdigster Form [11] ausgestelltes Empfehlungsschreiben an die Leiter der Schulen, und eine allgemein gehaltene Einführung seitens des Frankfurter Israelitischen Hilfsvereins bildeten unsere „Reisedokumente“.
Sehr erheiternd wirkte es einige Male, als der in dem Frankfurter Brief ausgesprochene Wunsch, die Überreicherin des Briefes in ihren Absichten zu fördern und zu unterstützen, so aufgefaßt wurde, als ob wir eine klingende Unterstützung erbitten wollten. Einer der verschiedenen Beweise, daß wir uns in einem Lande befanden, in dem rein ideale Bestrebungen kein allzu rasches Verständnis finden.
Auf unserer ganzen Fahrt gingen wir nach dem Prinzip vor, an jedem Ort zuerst die Baron Hirsch-Schule aufzusuchen, mit Ausnahme der beiden Städte Krakau[6] und Lemberg,[7] die solcher Einrichtungen pekuniär entraten können, die aber für unsere Studien doch sehr lehrreiche Anhaltspunkte boten.
Dem Prinzip, das sich auf der Reise als praktisch erwies, getreu, will ich auch in meinem Bericht die Baron Hirsch-Schulen zum Ausgangspunkt meiner Betrachtungen machen. Ich will es gerne von vornherein aussprechen, und es ist sicher nicht zuviel gesagt, wenn ich diese Schulen als Oasen in der Wüste bezeichne.
Es gibt 50 Stiftungsschulen mit einem Lehrerkollegium von 230 Personen. Daß alle diese Schulen nicht gleich gut, daß alle Lehrer und Leiter nicht gleich intelligent, tüchtig und leistungsfähig, alle Schulzimmer nicht gleich gut gelüftet, alle Fenster nicht gleich blank geputzt sind, ist selbstverständlich. Dennoch ist jede Schule ein zum Teil schwer eroberter Befestigungspunkt im Kampfe gegen alle jene Schäden, an denen die jüdischen Einwohner Galiziens wie an einer schweren, sich stetig forterbenden Krankheit leiden. Die Baron Hirsch-Schulen sind es, die, wo sie bestehen, langsam den Einfluß der Cheder[8] für einzelne Gemeinden oder Familien wenigstens abschwächen, oder verdrängen. Was das bedeutet, vermag nur derjenige ganz zu würdigen, der solche Cheder in Betrieb gesehen hat. Die galizische Orthodoxie verlangt nämlich, daß Knaben vom 3. Lebensjahre an sich, mit dem Studium der hebräischen Sprache, der Thora und des Talmuds beschäftigen. Jede andere Kenntnis ist verpönt, denn es heißt: „Was dem Menschen nötig und dienlich ist, findet er im Talmud, und was nicht im Talmud steht, braucht und soll man nicht wissen“.
[12] Cheder sind Schulen, in denen in 2 bis 4 Abteilungen mit den Kindern ein furchtbarer, einseitig geistiger Drill vorgenommen wird.
Es gibt viele Cheder, in denen Knaben und Mädchen gemeinsam unterrichtet werden, aber die meisten dieser Schulen vereinen nur Knaben. Die Knaben müssen nach der Ansicht der Väter und Rabbiner, im Gegensatz zu den Mädchen, besonders vor dem Gifte profanen Wissens behütet werden.
In engen, nie gelüfteten Räumen, zusammengedrängt wie die Schafe in einem Pferch, sitzen, stehen oder kauern die Kinder, 60, 80, 100 an der Zahl, auf oder zwischen Tischen und Bänken. Ein Mann, der zu sonst nichts taugt, ist entweder als Unternehmer oder als Beamter der Gemeinde der Lehrer „Melamed“.[9] Da er mit seinen Schülern bei einer Methode, nach der er mit jedem einzelnen Kinde besonders pauken oder „knellen“[10] muß, unmöglich fertig werden kann, so hat er junge Unterlehrer „Belfer – Behelfer“,[11] Bürschchen von 17 bis 19 Jahren, die mit ihm in der Anwendung des Stockes oder des Kantuk, einer Peitsche mit Lederriemen, wetteifern, unter deren Leitung aber Ungehörigkeiten, und, wo Mädchen im Cheder sind, auch grober Unfug zu den häufigsten Vorkommnissen gehören sollen.
Der erste Lehrstoff ist die kommentierte Bibel, die, ohne Striche, wahllos mit den Kindern „gelernt“ wird. Ich selbst hörte, wie ein etwa 9jähriger Junge eine Stelle, die seinem Verständnis noch lange hätte ferngehalten werden sollen, mit größtem Eifer las und wieder und immer wieder in sein Jargon-Deutsch[12] übersetzte. Ich erlaubte mir dem „Melamed“ gegenüber eine Bemerkung, worauf er mich derb anschnauzte und fragte, ob er mir gar die Thora „modernisieren“ solle!
Es ist selbstverständlich, daß dieses „Bibelstudium“ auf die ohnedies frühreifen Kinder dieselbe Wirkung übt, wie es die berüchtigten Beichtfragen auf die katholische Jugend tun. Es ist mir auch von maßgebender pädagogischer Seite bestätigt worden, daß in den Chedern vielfach der Keim zu sittlicher Verwahrlosung und Verrohung gelegt werde,[13] dort wo die Jugend heranwächst, nicht nur ohne Aufsicht und Erziehung, sondern wo sie unter schlechten Einflüssen die Zeit der ersten Bildsamkeit verbringt.
Was für Zustände in diesen Unterrichtshöhlen in hygienischer [13] Beziehung herrschen, ist unbeschreiblich, und es kann hier nur die Gewöhnung an Schmutz in allen Aggregationszuständen eine gewisse Immunität gegen manche Erkrankungen bringen. Die überwiegende Mehrzahl der Cheder-Jugend besteht in blassen, stumpf dasitzenden, mitleiderregenden Kindergestalten; doch manches Köpfchen taucht auf, das intelligent und lebhaft im Ausdruck, vielversprechend in keckem Übermut, von zäher Kraft scheint, und trotz des Cheders ein Mensch zu werden verspricht.
Den sich selbst so nennenden „intelligenten“ Kreisen der Städte, Städtchen und Dörfer, den Ärzten, Advokaten, Gemeindevorständen und Kreisrabbinern sind diese Zustände bekannt. Ich habe aber nirgends gehört, daß sie ihre Intelligenz angestrengt hätten, um wenigstens räumlich und hygienisch die Cheder zu bessern, wenn sie es auch aus den verschiedensten Gründen nicht wagen wollen, sie geistig zu reformieren.
Und diesen Chedern gegenüber stehen die Schulen der Baron Hirsch-Stiftung, für deren Besuch die Eltern der Schulkinder früher regelmäßig, jetzt noch häufig mit dem Bann bedroht wurden, – aus Gründen, die den jüngsten Vorgängen in Trier ganz analog sind.
Die naheliegenden Fragen sind: Wie verhält sich die österreichische Regierung[14] diesen Zuständen gegenüber? Gibt es in Österreich keine Schulbehörde, keinen Schulzwang? Die Antwort darauf ist, daß die Zustände der österreichischen Regierung bekannt sein können und wohl auch tatsächlich bekannt sind, daß es aber dem Geiste der österreichischen Regierung besser zusagt, Tausende von Analphabeten heranwachsen zu sehen, als ebensoviele latente Intelligenzen durch Schulbildung zum Denken zu bringen.
Der Schulzwang besteht theoretisch „auf dem Papier“, da aber die vorhandenen Volksschulen nicht ausreichen würden, auch die Kinder der jüdischen Staatsbürger aufzunehmen, so ist es finanziell ein großer Vorteil, das Bestreben der galizischen Dunkelmänner zur Verdummung des Volkes zu unterstützen, indem man es stillschweigend gut heißt.
Die Jahresberichte der Baron Hirsch-Stiftung erzählen von ihrem Kampf gegen die Jahrhunderte alten Vorurteile. An den meisten Orten sind aber heute die Stiftungsschulen Institutionen geworden, deren segensreiche Wirksamkeit auch innerhalb der orthodoxen Gemeinden anerkannt ist.
[14] Daß die Baron Hirsch-Schulen an manchen Orten noch nicht ganz festen Fuß gefaßt haben, liegt sicher vielfach daran, daß manche Lehrer oder Leiter nicht immer und nicht überall in ihrem Privatleben, wie in ihren Privatäußerungen, vorsichtig und taktvoll genug sind, die religiösen Anschauungen der Majorität unter den Juden Galiziens zu schonen.
Geradezu Anstoß erregt es, daß es in den meisten der Baron Hirsch-Schulen dem Gutdünken der Eltern anheimgegeben ist, ob die Kinder während des hebräischen Unterrichtes den Kopf bedecken sollen oder nicht, während viele Lehrer es grundsätzlich unterlassen. Es wäre viel klüger, eine allgemeine Vorschrift zu geben, derzufolge die Knaben dem hebräischen Unterrichte mit bedecktem Haupte, dem Profanunterricht mit unbedecktem Haupte beiwohnen. Auf Wunsch der Eltern sollte den Knaben auch gestattet sein, während des Profanunterrichtes eine Kopfbedeckung zu tragen.
Wer so modern denkt, daß er es überflüssig findet, daß die Knaben der altorientalischen Sitte folgend, beim Gebet oder beim Studium in der heiligen Sprache das Haupt bedecken, dem kann es auch gleichgiltig sein, wenn sie es tun. Und wenn durch das Befolgen einer überflüssigen oder gleichgiltigen, jedenfalls aber unschädlichen Volkssitte, die vielen eine religiöse Vorschrift erscheint, das Vertrauen für eine so wichtige Sache, wie die Schule gewonnen werden kann, so ist es unklug, der Orthodoxie diese und ähnliche Konzessionen nicht zu machen.
Ich setze als bekannt voraus, daß die Schulen der Baron Hirsch-Stiftung nur Knabenschulen sind.
Für die Mädchen, nach der landesüblichen Auffassung minderwertige Geschöpfe, die nur der Fortpflanzung dienen, bestehen keine religiösen Bedenken, die christlichen polnischen Schulen zu besuchen. Es gibt nur eine kleine Jubiläumsstiftung der Baronin Klara Hirsch, aus deren Mitteln drei Haushaltungsschulen geführt werden, von denen ich zu sprechen habe, wenn ich über die Erziehung der Mädchen berichte.
Bei unsern Besuchen der Stiftungsschulen war es mir eine besondere Freude und ungemein lehrreich, mit den Inspektoren der Schulen, die in der Verwaltung das Bindeglied zwischen Schule und Kuratorium bilden, zu sprechen. Diese Herren sind die begeistertsten und zugleich verständnisvollsten Pioniere der Kulturarbeit [15] in Galizien, und darum gibt es einen Punkt, der sie und auch die flüchtigen Besucher des Landes mit tiefem Bedauern erfüllen muß, das ist der Stillstand und Rückschritt, zu dem die Schulen verurteilt sind, weil die Geldmittel fehlen, sie aufrecht zu erhalten, oder gar auszubauen und zu vermehren.
Bis vor relativ kurzer Zeit ist die Wirksamkeit der Schulen für Galizien noch dadurch vertieft worden, daß die Knaben, nach Beendigung der Schule ein kleines Stipendium durch die Jewish Colonisation Association (J. C. A.)[15] bekamen, das ermöglichte, sie in eine Handwerkslehre unterzubringen, bis sie selbständig erwerbsfähig waren.
Diese Stipendien werden seitens der J. C. A. nicht mehr geleistet, und die Absolventen der Baron Hirsch-Schulen werden, wie ein Schulleiter sich ausdrückte, „gebildete Gassenbuben“, für die es vielleicht noch besser gewesen wäre, wenn man sie beim Talmudstudium gelassen hätte, weil sie sich dann nicht müßig in den Straßen herumgetrieben hätten.
Von jüdischen Volksschulen (außer den Baron Hirsch-Schulen), in[16] denen nicht nur hebräisch, sondern auch polnisch und deutsch[17] gelehrt wird, kann ich nur aus der sonst im Lande längst vergessenen josephinischen Zeit[18] die Perl-Schule in Tarnopol nennen, und die unter vorzüglicher Leitung stehende Gemeindeschule in Brody, die dafür zeugt, daß die Gemeinde bemüht ist, die alten guten Traditionen der früheren „Freistadt“ aufrecht zu erhalten.
Auch Lemberg hat eine Gemeindeschule, die einen sehr guten Eindruck macht, wenn auch manche kleine Beobachtung darauf schließen läßt, daß das pädagogische Verständnis im allgemeinen noch der Entwicklung harrt.
Was Lemberg speziell betrifft, so hatte man mir in Wien gesagt, es sei eine Stadt, die nur „geographisch“ in Galizien liege. Es wäre mir doppelt lieb, wenn ich dieser schmeichelhaft gemeinten Äußerung ganz beipflichten könnte, denn die Herren und Damen der maßgebenden jüdischen Kreise sind uns in einer Weise liebenswürdig entgegengekommen, daß ich gerne nur von dem sprechen würde, was wir an Einrichtungen fanden, die das Niveau der anderen Städte Galiziens überragen. Aber auch die freundlichste Aufnahme durfte uns nicht blind dafür machen, daß den Lemberger Anstalten, bei teilweise ausgesprochenem guten Willen, doch [16] die Tradition und die Erfahrung mangelt, Zweck, Mittel und Personen in ein harmonisches Verhältnis zu bringen.
Für uns ungerufene Fremdlinge, Eindringlinge, die noch nicht einmal etwas versprechen durften dafür, daß wir alles sehen und wissen wollten, für uns war die Bereitwilligkeit der meisten Lemberger Herren und Damen, von uns zu lernen, fast beschämend. Ich werde in meinem Bericht über den Kulturstand des Landes und seine einzelnen Faktoren jeweils wieder auf Lemberg zurückkommen, möchte aber die allgemeine Bemerkung nicht unterlassen, daß ich nach unserem zweiten Aufenthalt dort, auf der Rückreise, das lebhafte Gefühl hatte, nicht ganz vergeblich dort gewesen zu sein; man hat verstanden, was uns zu unserer Reise bewogen hat, man hat sich für Anregung jeder Art sehr empfänglich gezeigt und sich bereit erklärt, mitzuarbeiten wenn von außen Anstoß und vielleicht auch Mittel gebracht würden. Ich glaube, wir dürfen das in gewissem Sinne als einen idealen Erfolg bezeichnen, für den die realen Formen hoffentlich nicht ausbleiben werden.
Wenn man hört, daß die Baron Hirsch-Schulen nur für Knaben eingerichtet sind, weil es den jüdischen Mädchen, sowohl aus innern wie aus äußern Gründen, unbenommen ist, die öffentlichen Landesschulen zu besuchen, so könnte das leicht zu der irrigen Annahme führen, als geschehe im Lande irgend etwas Namhaftes für die Erziehung der Mädchen.
Vor allem muß man bedenken, daß Erziehung und einige elementare Kenntnisse grundverschiedene Dinge sind.
Abgesehen davon, daß die christlichen Lehrerinnen, denen die jüdischen Mädchen durch ihre mangelhafte Sprache ohnedies viele Mühe machen, sich selbst bei gutem Willen nicht mit den einzelnen Kindern eingehend beschäftigen können, würde ihnen auch über den Rahmen der Schule hinaus der Einfluß fehlen. Eine Erziehung im weiteren Sinne ist von der Schule überhaupt nicht zu erwarten.
In einer Familie, in der Vater, Mutter und Söhne Analphabeten sind, ist eine Tochter, die vier Volksschulklassen „geendet“ hat, wie der übliche Ausdruck lautet, ein „sehr gebildetes Fräulein“, und so gefährlich unerzogen und ungebildet sie ist, so gibt es für sie keine Instanz, bei der sie sich energischen Rat und Verwarnung holen könnte. Mir sind überhaupt nur sechs Stellen [17] bekannt geworden, an denen man sich von jüdischer Seite mit Mädchen-Erziehung beschäftigt, die drei Waisenhäuser in Krakau, Lemberg und Brody, und die drei Haushaltungsschulen in Tarnow,[19] Stanislau[20] und Kolomea.[21]
Die ersten nehmen nur je 20 Mädchen auf, die letzteren je 15, – also ungefähr 100 bis 120 Kinder, – aus einer Bevölkerung von 810000 Menschen, die durchschnittlich alle noch recht erziehungsbedürftig sind.
Was nun die Anstalten selbst betrifft, so ist ihren Verwaltungen eines gemeinsam: alle klagen darüber, daß sie kein Geld haben, und alle Mängel, die nicht zu übersehen sind, sollen dem Fehlen der Mittel zugeschrieben werden. Das ist natürlich nicht richtig. Es gibt Aufgaben in der Erziehung, deren Lösung nur auf einem bestimmten, langsam erworbenen Kulturniveau der Erzieher und Anstaltsleiter angestrebt werden kann. In Krakau sowohl wie in Lemberg fehlt der Leitung das Verständnis dafür, daß eine Anstalt ihre Schuldigkeit nicht getan hat, wenn sie die Mädchen bis zum 15. Jahre behütet, ernährt und kleidet und sie dann unselbständiger, als es Familienkinder sind (Anstaltserziehung macht unselbständig) ins Leben, und schlecht vorbereitet, in den Broterwerb schickt.
In der Krakauer Anstalt, die ihre Zöglinge in beängstigender Orthodoxie aufwachsen läßt, ist sogar trotz des guten Willens zweier Vorstandsdamen selbst die Aufgabe des „behütet, ernährt und gekleidet“ nur sehr ungenügend erfüllt. Unser Besuch in der Anstalt war vorher gemeldet. Die rosa Schleifen im Haar der Zöglinge konnten mich über mangelnde Zimmer- und Wascheinrichtung nicht trösten und noch weniger darüber, daß ich mit eigenen Augen die Kinder sich aufsichtslos auf der Straße herumtreiben sah.
Lemberg dagegen besitzt in einem Waisenpalast eine Einrichtung, wie sie leider in großen Städten sehr oft gefunden wird, wo Menschen das Bedürfnis und die Mittel haben, sich ein Monument zu setzen, und falsche Freunde ihnen nicht abraten, sich in mangelnder Kenntnis der realen Verhältnisse an einer großen Idee zu versündigen.
Zu der fehlenden Selbständigkeit, zu der ungenügenden häuslichen wie beruflichen Ausbildung der Mädchen tritt in Lemberg noch die Verwöhnung durch den äußeren Rahmen des Hauses, [18] um zugegebenermaßen den erziehlichen Erfolg der Anstalt recht herunterzudrücken. Auch werden die Mädchen zwischen 15 bis 16 Jahren entlassen. Eine Bestimmung, die geeignet ist, alles zu vernichten, was in der Erziehung eines Kindes bis dahin erreicht wurde, eine Bestimmung, die man in Krakau und Lemberg nicht gutheißen kann, weil sie, wie man mir dort zur Erklärung sagte, in den meisten Waisenhäusern und Erziehungsanstalten besteht.
Der Vorstand des Brodyer Waisenhauses erkennt und bedauert die Mängel seiner Anstalt – das ist schon sehr viel – und darum ist auch die Klage wegen ungenügender Mittel berechtigt. Auch hier wie in Krakau ein Analphabet als „Erzieher“ der Knaben, und eine Köchin oder Haushälterin als einzige „pädagogische Kraft“ der Mädchenabteilung.
Außer den genannten Anstalten gibt es noch in der Nähe von Krakau ein christliches Waisenhaus, in dem ständig 40 – 60 jüdische Kinder zwischen christlichen Kindern erzogen werden, obwohl man sie, bevor sie das gesetzliche Alter der Selbstbestimmung haben, nicht der Taufe zuführt.
Es ist dies eine von der Fürstin Osolinska erhaltene Anstalt, in der diese Dame aus Patriotismus alle polnischen Kinder, die im Wiener Findelhaus geboren werden, aufnimmt. Zu meinem Bedauern habe ich die Anstalt nicht gesehen, weiß also nicht, von welchem Geiste sie durchdrungen ist.
Wenn die Kinder dort so erzogen und gehalten werden, wie die Zöglinge eines Hauses in der Nähe von Dukla,[22] das dem heiligen Michael geweiht ist und von einem katholischen Pfarrer ganz selbstherrlich geleitet wird, dann wäre es in erster Linie aus menschlichen Gründen wünschenswert, Mittel und Wege zu finden, die Kinder besser zu erziehen. Seitens der Fürstin Osolinska sollen keinerlei Schwierigkeiten gemacht werden, die Kinder eventuell der Krakauer Gemeinde auszuliefern.
Aber in Krakau sowohl, wie im ganzen Lande fand ich die anderswo längst überwundene Anschauung der Minderwertigkeit unehelicher Kinder noch sehr stark ausgeprägt.
Daß uneheliche Kinder schutzbedürftiger sind, als eheliche, in der Familie lebende, wurde mir nur ungern zugegeben, und daß die Verbrecherstatistik beweist, daß die Vernachlässigung der Unehelichen sich schwer an der Gesellschaft rächt, schien unbekannt.
[19] Unter unehelichen Kindern sind aber jene Kinder nicht zu verstehen, die einer nach jüdischem Gesetz geschlossenen staatlich nicht anerkannten Ehe entstammen. Diese Kinder stehen unter dem Schutze ihrer Eltern und sind auch in dem weiteren Kreise ihrer Familie voll anerkannt.
Es gibt aber auch eine verhältnismäßig große Anzahl von jüdischen Mädchen geborener Kinder, die meistens bei Bäuerinnen zum Engelmachen[23] untergebracht werden. Die am Leben bleiben, sind heimatlos, rechtlos, verachtet, werden herumgestoßen und mißhandelt, sodaß es vollständig begreiflich ist, wenn sie sich nur unter vorherrschender Entwicklung der eigensüchtigen Triebe in ihrer Existenz behaupten können. Da diese bedauernswerten Geschöpfe gewissermaßen vogelfrei sind, wäre ihre Erziehung leichter zu leiten, als die der ehelichen Kinder, bei denen man sehr oft mit einem unvernünftigen Familienanhang zu kämpfen hat. Nach dieser Richtung weiß die Leitung der Haushaltungsschulen der Baron Hirsch-Stiftung von mancher Schwierigkeit zu berichten. Dennoch geben diese Anstalten ein sehr erfreuliches Bild zivilisatorischer Tätigkeit. In den Anstaltsräumen herrscht die größte Sauberkeit, die Mädchen sehen gut gepflegt aus und werden stramm zur Hausarbeit angehalten. Freilich weiß ich auch, daß man bei einer Anstalt, die äußerlich einen guten Eindruck macht, sein Urteil über dieselbe noch nicht abschließen darf.
Ich habe die Mädchen nicht arbeiten und nicht essen sehen, nicht im Verkehr miteinander und mit Fremden beobachtet, ich weiß nicht, ob die Anstaltsleitung nicht manches als Luxus bezeichnen würde, was ich als notwendiges Requisit der Reinlichkeit bezeichne. Um das und noch vieles andere wissen zu können, hätte ich ein paar Tage mit den Mädchen leben müssen. Aber jedenfalls ist auch hier viel guter Wille, und es ist auch gelungen, mit relativ geringen Mitteln viel Förderndes zu leisten.
In Tarnow und in Kolomea lernten wir zwei Damen der Lokalkomitees kennen, die für ihre Aufgabe den Haushaltungsschulen gegenüber großes Verständnis zeigten. Besonders in Tarnow hatten wir das Glück, durch das ungewöhnlich liebenswürdige und sehr dankenswerte Entgegenkommen eines ortsansässigen Ehepaares viel Wissenswertes zu erfahren.
Im Anschluß an die Haushaltungsschulen habe ich zu berichten, [20] daß ich in Krakau eine gleichfalls von Frauen sehr gut geleitete Volksküche oder Suppenanstalt fand.
Zum Glück für ihre Besucher muß man dort aus finanziellen Gründen an dem einzig richtigen Prinzip, kleine Preise für die einzelnen Portionen zu nehmen, festhalten. Dadurch sind Mißbräuche ausgeschlossen, wie sie in Anstalten zu treffen sind, die die Mizwoh[24] als Himmelsschlüssel über die Vernunft stellen.
Auch in Zloczow[25] besteht unter Leitung einer Dame eine Volksküche unter denselben Bedingungen.
Sonst erfuhren wir noch von Schulkinder-Speisungen durch die Baron Hirsch-Stiftung und in Lemberg durch die Gemeinde. Die Ordnung und Stille, mit der dort an 600 Kinder, die klassenweise in geordnetem Zuge aufmarschiert kommen, unter Aufsicht von Lehrerinnen, resp. Lehrern ihr Mittagessen einnehmen, ist geradezu musterhaft.
Eine eigentümliche Art von Naturalgabe an ein Hospital fanden wir in Tarnow in dem sogenannten Jausenvereine. Dort besteht ein Frauenverein, dessen Mitglieder, im Turnus, nachmittags mit ihrer Privatköchin in der Spitalküche erscheinen, um dort den mitgebrachten Kaffee zu kochen, und, mit Zutaten, an die Kranken zu verteilen. Es wird seitens der Spitalverwaltung auf diese Gabe sehr gerechnet. Sie wird aber den Damen, so klein sie ist – ich vermute der Form wegen – oft sehr lästig.
Wie man sieht, sind es nur sehr wenige stabile Einrichtungen, über die ich zu berichten habe. Es werden an anderen Orten noch andere sein, die nicht zu meiner Kenntnis kommen konnten, aber vermutlich stehen sie auf demselben Niveau wie diejenigen, die wir sahen.
Für Galizien könnten diese Institutionen sicher zu Ansätzen einer künftigen, entwicklungsfähigen, sozialen Hilfstätigkeit werden. Heute sind sie dem Geiste nach noch Wohltätigkeitsanstalten im traditionellen Sinne, denn soziales Denken, soziales Gewissen sind in den Kreisen der jüdischen Intelligenz Galiziens noch sehr wenig geweckt.
Maßgebend hiefür scheint mir die absolut passive Stellung, die die bürgerliche Klasse dem ausgedehnten Haus- und Straßenbettel gegenüber einnimmt. Außer den Neumondtagen, den Tagen vor hohen Festtagen, sind vielfach noch Montag und Donnerstag [21] feste Betteltage, an denen oft nur in halben Kreuzern eine Art von Steuer eingefordert wird. Wenige der gebenden Männer und Frauen erkennen darin das Symptom einer Krankheit im Volke, die aus dem Zusammenwirken verschiedener Ursachen entstanden ist, und die mit ebenso vielen Gegenmitteln bekämpft werden muß. Gedankenlos und gewohnheitsgemäß wird das Almosen gegeben und genommen. Denn da nach der Auffassung der Orthodoxie der Arme dem Gebenden als Medium dient, ein gottgefälliges Werk zu tun, so ist der Gebende dem Armen Dank schuldig, nicht umgekehrt, und die Idee, daß diese Art des „Wohltuns“ das Proletariat demoralisiert, findet keinen Eingang. Auch die religiöse Vorschrift, derzufolge ein Almosen dem Armen direkt gegeben werden muß, um für den Geber wirksam zu sein, ist ein Hindernis dafür, das schädliche Almosengeben in nützliche Fürsorge zu verwandeln. Dieselben halben Kreuzer, die man an der Türe verteilt, in Zentralstellen eingesammelt, könnten wirksam helfen, wenn sie sachgemäß praktisch verwendet würden. Aber dafür fehlt in Galizien noch das Verständnis, und darum der Wille.
Besonders den Frauen ist meines Erachtens der Vorwurf nicht zu ersparen, daß sie sich einschlägigen Erwägungen gegenüber noch sehr indolent verhalten.
So fortgeschritten modern sie in der Kleidermode sind, so unentwickelt altmodisch im Denken, so rückständig erscheinen sie noch in der Auffassung[26] allgemeiner Pflichten.
Als Gradmesser für diesen bedauerlichen Kulturtiefstand dient die Unwichtigkeit, die man der Kinderpflege beimißt, und die Stellung der Frauen zur Dienstbotenfrage.
Es ist mir aufgefallen, daß in den Straßen und öffentlichen Anlagen und Gärten die meisten der reichgekleideten Kinder der Aufsicht von ganz ungebildeten Personen anvertraut sind. Ammen oder gewesene Ammen, Bäuerinnen, die sich nur Sonntags die Gène auferlegen, ihre Röhrenstiefel zu tragen. Weiter ist das Fehlen von Kinderwagen bezeichnend. Die gewickelten Kinder werden mitsamt ihrer Wärterin in eine Paradedecke eingehüllt und, wenn die Würmchen in diesem Dunstkreis wimmern, jederzeit und jedenorts gestillt und mit energischer Schüttelbewegung zum Schlafen gebracht.
Diese Beobachtungen von der Straße lassen ganz direkt auf die Kinderzimmer schließen.
[22] Einige Damen klagten allerdings darüber, daß in Galizien keine besseren Kinderpflegerinnen und überhaupt nur sehr schlechtes Dienstpersonal zu bekommen sei. Aber ich meine, wenn sie wirklich so ganz von der Wichtigkeit der Qualifikation dieser Hausgenossinnen überzeugt wären, müßte man nach den wahren Ursachen der Minderwertigkeit des vorhandenen Materials forschen und ihnen abzuhelfen suchen.
Wie die Menschen es meist gerne tun, suchen auch die galizischen Hausfrauen die Ursache der Übelstände, die sie stören, nur in den andern und nicht auch in sich selbst.
Ich habe in allen Städten und Dörfern darnach gefragt, warum die Mädchen eine solche Scheu davor haben, häusliche Stellungen anzunehmen, und überall wurde mir gesagt:
1. daß die Frauen ihre Mädchen schlecht behandelten und schlecht bezahlten, und
2. daß die Dienstmädchen seitens der jüdischen Hausherren und Haussöhne sehr häufig der Verführung ausgesetzt wären.
Daraus ergibt sich eine große Verachtung des ganzen dienenden Standes, das ist derjenigen Individuen, die sich solcher Behandlung aussetzen, oder sie sich gefallen lassen.
Ich selbst konnte ja nur beobachten, daß die Frauen in das Wort „Dienstbot“ einen Ton der Verachtung legten, der wirklich empörend war.
Außerdem sind die Lebensgewohnheiten und Reinlichkeitsbegriffe des Landes geeignet, die Hausarbeit wirklich zu widerlicher Herkulesarbeit zu machen, sodaß die Abneigung der Mädchen gegen häusliche Stellungen eine gewisse Berechtigung hat.
Dieses mangelhafte Verständnis für Kinderpflege und die Vernachlässigung des eigenen Haushalts, für die bürgerlichen Kreise schon recht bedauerlich, sind für die große Masse der in größter Armut lebenden jüdischen Bevölkerung als die Wurzel vielen Unglücks, von Krankheit, Verwahrlosung und Verkommenheit anzusehen.
Seitens der Intelligenz hat aber dieses mangelhafte Verständnis auch noch die Folge, daß man wenig Eifer zeigt, Einrichtungen zu schaffen, die geeignet sind, in der Richtung der Kinderpflege und Volkshygiene belehrend und aufklärend zu wirken. Es ist bezeichnend, daß die Begriffe: Krippe, Kindergarten, Kinderhorte u. s. w. in ihrer spezifischen Bedeutung kaum bekannt sind.
[23] Nur Lemberg besitzt drei Volkskindergärten, die, wenn auch nicht ganz auf der Höhe moderner Anforderungen stehend, doch recht gut geleitet sind. In Krakau spricht man von der Errichtung irgend einer Volkspflegeanstalt, doch scheint man selbst noch nicht zu wissen, welcher Art sie sein soll.
Sonst begegnete mir auf meiner ganzen Reise keine Einrichtung, die den in ihrer Not und Armut schlaff und gleichgültig gewordenen Müttern durch die praktische Vorführung zeigt, wie ein Kind behandelt werden müsse, damit es durch Reinlichkeit und gute Gewöhnung ein gesunder und dadurch tüchtiger Mensch werde.
Auch nach dieser Richtung hat man mir immer wieder den Mangel an Mitteln als Grund der fehlenden Einrichtungen angegeben, doch auch hier kann ich die tatsächliche Armut der Gemeinden nicht als alleinige Ursache gelten lassen.
Die gut gekleideten Frauen könnten gerade an kleinen Orten auch ohne spezielle Einrichtungen belehrend auf die durch die Armut indolent gewordenen Familien einwirken, wenn sie selbst es technisch verständen, und wenn das soziale Gewissen nicht schliefe.
Mir persönlich hat man immer zu verstehen gegeben, ich sei so anspruchsvoll, weil ich aus dem Gan Eden, dem Paradiese Frankfurt nach dem Gehinnom, der Hölle Galizien gekommen sei.
Daß Frankfurt, häufig an Wohltätigkeits-Indigestionen leidend, für mich nicht immer maßgebend ist, war etwas, was ich den Herren und Damen kaum klar machen konnte, die noch glauben, man könne für Geld alles haben, auch das, was nicht mit Geld zu bezahlen ist: Verständnis für die Bedürfnisse des Volkes, persönliche Hingebung und Opferwilligkeit für eine Idee, Gewissenhaftigkeit und Treue in der Ausübung übernommener Pflichten, mit einem Worte: Menschen.
Nächst den Schulen und anderen Erziehungsstellen sind die Spitäler, Siechen- und Altersversorgungshäuser die maßgebendsten Faktoren zur Beurteilung des Kulturzustandes eines Landes.
Was wir in Galizien nach dieser Richtung zu sehen bekamen, ist unbeschreiblich traurig.
Ich hoffe, daß, wenn die Vertreter der Gemeinden auch nur eine Ahnung davon hätten, wie menschenunwürdig und dem heutigen Stande der Wissenschaft hohnsprechend es ist, was sie unter ihrer Verwaltung dulden, sie alles aufbieten würden, gewisse Veränderungen [24] einzuführen. Aber ich fürchte, sie ahnen es nicht. Und die Ärzte? Sollen sie alle müde und schlaff geworden sein in einem erfolglosen Kampf gegen die Verwaltung?
Zustände, wie das Siechenhaus in Tarnopol sie aufweist, sind derart, daß sie unter Juden, denen die Pflege der Kranken und Alten als eine erste religiöse Pflicht gelten soll, unbegreiflich sind.
Achtundzwanzig Betten von Greisen und unheilbaren Kranken belegt, unter der Aufsicht und Pflege eines einzigen Mannes, der aussieht, wie etwas, das ich sonst in Galizien kaum gesehen habe, wie ein Straßenkehrer.
Die Kost zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel, weshalb „erlaubt“ ist, daß etwaige Angehörige täglich Eßwaren bringen!
Man hatte uns gesagt, der Kreisphysikus hätte vor kurzem Kontrolle gehalten, und deshalb sei erst alles gelüftet und geputzt worden.
Ich kann nicht erzählen, was ich alles sah, und was ich nicht sah, aber ich werde den Jammer dieser Krankenzimmer und Aufenthaltsräume im ganzen Leben nicht vergessen.
Wir besuchten auch Krankenhäuser und Siechenhäuser, die weniger schlecht waren, aber gut ist keines, da in allen das ungebildete Pflegepersonal eine sachgemäße Führung ausschließt.
Daß sich die chassidischen Männer von keiner Frau berühren lassen, weil es ihr „religiöses Gefühl verletzt“, ist kein Grund dafür, daß sich die Arzte mit diesem Bedienungspersonal, diesem Schmutz und dieser Verwaltung zufrieden geben.
Was speziell das Kapitel der Spitalverwaltung, und im Zusammenhang damit der Verwaltung von Verlassenschaftsgeldern betrifft, so sind mir darüber so märchenhafte Dinge berichtet worden, daß ich mich wohl hüten muß, sie zu wiederholen.
Wenn aber die Gerüchte den Tatsachen entsprechen, ist dann in den betreffenden Gemeinden nicht ein Mann von tadelloser Rechtschaffenheit, der den Mut hat, den ersten Stein aufzuheben?
So wie die Spitäler sind die Ambulanzen auch keine Stationen, in denen dem Volk eine Aufklärung zu Teil würde über das, was in gesundheitlicher Hinsicht für das Wohl und Wehe von Familien entscheidend werden kann. Daraus wird denn auch erklärlich, daß im ganzen Lande in hygienischer Beziehung die krasseste Unwissenheit herrschen muß. Es kommen Fälle von [25] Typhus, sehr oft ist es der Hungertyphus, einfach nicht zur Anzeige und werden gar nicht, oder mit Hausmitteln behandelt. Desinfektion und Trennung der kranken und gesunden Familienmitglieder gibt es nicht, da eben Arzt und Pflegerin fehlen, die anordnen und überwachen, resp. ausführen was nötig ist und was gleichzeitig dem Volke als Lehre und Beispiel dienen könnte.
Lemberg besitzt ein von einem privaten Wohltäter mit großem Kostenaufwand erbautes, modern eingerichtetes Spital, in dem auch eine Ambulanz vorgesehen ist. Ob aber die Gemeinde so viel Verständnis für ihre sozialen Aufgaben und für ihre exponierte Stellung als reichste Gemeinde Galiziens hat und dasselbe darin zum Ausdruck bringt, wenigstens eine gebildete Frau, eine geschulte Kraft in diesem neuen Hause einzustellen, – das ist noch sehr fraglich.
In kleineren Orten ist für Krankenpflege gar nicht gesorgt. Die christlichen Spitäler nehmen zwar überall jüdische Kranke auf, aber wegen der fehlenden rituellen Verköstigung wird von diesem Rechte der jüdischen Gemeinden nirgends Gebrauch gemacht.
Für die dringendsten Fälle schwerer Erkrankungen gibt es an manchen Orten Gegenseitigkeitsvereine. Bei einer wöchentlichen Einzahlung von 1 bis 2 Kreuzern verpflichten sich die Mitglieder des Vereins, bei vorkommenden schweren Krankheitsfällen abwechselnd Nachtwachen zu leisten. Man kann sich denken, wie es um einen solchen Kranken bestellt ist, bei dem je eine Nacht ein Schuhmacher oder Fuhrmann, Schlächter oder Viehhändler u. s. w. die Nachtpflege besorgt.
Es ist ja rührend, wie solche Männer, die sich tagsüber im Broterwerb schwer gemüht haben, sich jederzeit bereit finden, im Rahmen ihres Verständnisses Krankendienste zu tun.
In der Praxis wird aber mehr einer religiösen Vorschrift genügt, als eine Hilfeleistung geboten, die dem Kranken, oft auch nur noch dem Sterbenden, eine Erleichterung bringt.
Ohne Zweifel läge es den Spitälern, ihren Vorstehern, Ärzten und Pflegerinnen ob, im Volke unermüdlich aufklärend zu wirken, aber von der Seite dieser Verwaltungen geschieht in dieser Richtung nichts.
Wenn man so in die Mangelhaftigkeit dieser wichtigen Einrichtungen auch nur flüchtig Einblick genommen hat, dann muß [26] man es nur zu begreiflich finden, daß viele Kranke, dem Triebe der Selbsterhaltung folgend, ihre Heimat verlassen, um außerhalb derselben Pflege und Heilung zu suchen. Sie wissen, daß sie nirgends elender zu Grunde gehen müssen als zu Hause.
Und wieder frage ich nach den Frauen in den Gemeinden, und wieder höre ich und sehe ich, daß sie abseits stehen, blind für ihre Pflichten, ihre Rechte nicht erkennend, schweigend nach der Vorschrift eines alten Kirchenvaters.
Kaum daß sie, mit wenigen Ausnahmen, wissen, daß es „draußen“ eine Bewegung gibt, die, indem sie die einzelne Frau befreit, der Allgemeinheit die größten Dienste leistet.
Mit dem Kapitel der Krankenpflege verlasse ich das Gebiet jener stabilen Institutionen, die zum Zwecke des Unterrichtes und der traditionellen Wohltätigkeit in Galizien geschaffen wurden.
Um das Bild des Landes zu vervollständigen, habe ich noch über Faktoren Rechenschaft zu geben, die, in allgemeinen Verhältnissen wurzelnd, die Physiognomie des Landes prägen. Hierher gehören vor allem Mitteilungen über die Wohnungsverhältnisse in Galizien. Ich kann dieselben abkürzen, indem ich sage, daß alles, was über sittliche und hygienische Mißstände des Wohnungselendes je beobachtet, gesagt und geschrieben wurde, vollinhaltlich auf die galizischen Zustände angewendet werden muß. Die mangelnde Kanalisation, die Abwesenheit von Kloseteinrichtungen und Wasser, der Mangel an Betten und Möbeln gibt aber den Wohnhöhlen in der Anlage, sowie in der Überfüllung einen noch viel grauenvolleren Charakter.
Die Wohnungen, die zu ebener Erde gelegen sind, das Dach konnte ich meist leicht mit der Hand berühren, sind die verhältnismäßig gesünderen, weil durch alle Fugen und Ritzen die Luft und auch die Sonne eindringen kann, aber die Kellerwohnungen, an deren Öffnung die Menschen wie Insekten an dunklen Fluglöchern aus- und einschlüpfen, sind unbeschreiblich. Und da haben wir alles im Mai, der besten Jahreszeit gesehen. Wie oft, wenn wir einen Raum betraten, bei dem man am Eingang zurückprallen zu müssen glaubte, dachte ich: wie muß es hier im Winter sein, wo man die Fenster verklebt und die schlecht schließenden Türen nach Möglichkeit geschlossen hält, weil neben all den hungrigen Mäulern der Familie auch noch der Ofen gespeist werden muß!
[27] Ich glaube, daß für das subjektive Gefühl der galizischen Bevölkerung der Segen der Gewohnheit den Unsegen der Abstumpfung weitaus überragt.
Für jeden durch die Kultur verfeinerten Menschen wäre ein Aufenthalt unter den dort landläufigen Bedingungen gleich dem in einer Folterkammer, die zur Verletzung aller unserer Sinne und Empfindungen eingerichtet ist.
Ferner als eminent wichtig für die Beurteilung des Landes sind die Erwerbs- und Arbeitsverhältnisse Galiziens zu betrachten. Sich über diese umfassend und fachgemäß zu orientieren, bedürfte es kaufmännischer Vorkenntnisse und eingehender Enqueten.
Uns bestätigte schon die laienhafte Beobachtung und Umfrage, oft auch eine unaufgefordert erfolgte Mitteilung die bekannte Tatsache, daß es für die Masse der Bevölkerung in Galizien zu wenig Arbeit und Verdienst gibt, hauptsächlich aber, daß die Leistungsfähigkeit der Juden zu ihrem eigenen unermeßlichen Nachteil und Schaden eine einseitig ausgebildete ist. Einen großen Irrtum, mit dem in der Beurteilung der Landesverhältnisse in Galizien oft gerechnet wird, bin ich heute in der Lage, richtig zu stellen: es gibt kein Handwerk und keinen Erwerb, den die Juden in Galizien nicht treiben dürfen. Ebenso können sie, wie mir von maßgebender Seite versichert wurde, Grund und Boden auch in kleinen Parzellen durch Kauf erwerben oder pachten.
In der Regel sind sie nach dieser Richtung auch in der Praxis keiner anderen Handhabung und Auslegung der Gesetze unterworfen wie die christliche Bevölkerung. Freilich sind die Verhältnisse in Bezug auf Bodenbesitz im ganzen Lande sehr bedauerliche, da der Großgrundbesitz die bäuerliche Bevölkerung in ihren vitalsten Interessen schädigt.
Nur die Schankgerechtigkeit und die Mautpacht sind diejenigen Erwerbszweige, die den Juden seitens der Regierung vollständig abgenommen und in christliche Hände übergeführt worden sind.
Auch damit erzähle ich nichts Neues, wenn ich berichte, daß der Kleinhandel in den Händen der Juden liegt, und ich würde nur Bekanntes wiederholen, wollte ich auf die historische Begründung dieser sich in allen Ländern gleichbleibenden Erscheinung näher eingehen.
[28] Es wird aber so oft von judenfeindlicher Seite auf die Tatsache „der Usurpirung des Handels durch die Juden“ in einer Weise hingewiesen, daß Außenstehende leicht zu der falschen Vorstellung gelangen, als könnte ein großer Teil der jüdischen Bevölkerung dadurch große Reichtümer erwerben und im Wohlstand leben.
Abgesehen von einer relativ sehr kleinen Anzahl wohlhabender Kaufleute, gehören die handeltreibenden Juden Galiziens zu dem ärmsten Proletariat, das die Welt aufweist.
Mir ist wiederholt versichert worden, daß der Verdienst manchen Familienvaters wöchentlich eben hinreiche, das Sabbatbrot und die Sabbatkerzen zu kaufen. Die ganze Lebenshaltung jener Juden, im Jargon der Antisemiten „Vampyre, die die christliche Bevölkerung aussaugen“, ist eine solche, daß kein christlicher Bauer oder Handwerker im Hinblick auf dieselbe eine Regung des Neides zu empfinden braucht. Hungerkünstler sind es, deren Bedürfnislosigkeit die einfachsten Existenzbedingungen so sehr herabgedrückt hat, daß bei den meisten ein Zustand dauernder Unterernährung herrscht. „Der Magen hat kein Fenster“ sagen sie, und wo noch nicht alle Energie erloschen ist, da werden Erinnerungen an vergangene gute Tage, an gute Herkunft (Jichus) mit der Hoffnung auf kommende bessere Zeiten, wie zwei Fäden, an denen das Leben hängt, fest verknüpft, und das kostbare Zwischenglied, um das man sie schlingt, sind die Kinder.
Wenn diese armen Menschen nur verstünden, diesen ihren einzigen Reichtum für die Familie und den Staat wertvoll zu gestalten.
Der Hang nach Luxus unter den Mädchen ist, wenn man die Armseligkeit der allgemeinen Lebenshaltung ganzer Familien in Erwägung zieht, vielleicht als eine Art mißleiteten Regenerationstriebes zu betrachten, den in gute Bahnen zu lenken, erziehlich auszunützen und umzugestalten mit zu den vornehmsten Aufgaben der künftigen Volkserzieher im Lande gehören wird.
Der Begriff dessen, was man Bedürfnis, was Luxus nennt, schwankt nach den gegebenen Verhältnissen.
Ich wollte, die galizische Bevölkerung hätte bald das unabweisliche Bedürfnis nach dem heute noch als Luxus aufgefaßten Besitz von einigen Hemden und anderen Wäsche- und Kleidungsstücken. [29] Welchen Aufschwung von Industrie und Handel würde das bedeuten, welche andere gleichfalls unabweisliche Bedürfnisse würde das zum Segen des Landes und zur Hebung des Kulturniveaus herbeiführen. Die Phantasie kommt förmlich in rasenden Galopp bei der einfachen Vorstellung des „Luxus“ von zwei ganzen, sauberen Hemden auf den Kopf der Bevölkerung.
Sehr bedauerlich im Handelsverkehr ist für das Land die bewußte Einführung von „Schundwaren für Galizien“. Ihre Einführung bedeutet, außer der ökonomischen, auch noch eine besondere Schädigung des Käufers, indem sie die Gewohnheit schleuderischen Einkaufs, Verkaufs und Gebrauchs hervorbringen und durch raschen Wechsel wieder eine Verführung zum Luxus im verderblichen Sinne bringen.
Das gilt selbstredend am meisten von Schnitt- und Modewaren.
Über den Verdienst der Aufkäufer, Zwischenhändler und Vermittler dürfte es wohl schwer sein, bestimmte Daten zu ermitteln, da die Leute nur ungern Auskunft geben, wohl auch selbst nichts Genaues wissen.
Handelsartikel sind hier meist die Produkte der bäuerlichen Landwirtschaft: Eier, Geflügel, Milch und Butter. In diesem Verkehr zeigt sich recht auffallend eine ausgesprochene Animosität zwischen der christlichen und der jüdischen Bevölkerung, die je kleiner die Geschäfte und die Preisdifferenzen sind, sich desto leichter zu großer Feindseligkeit ausgestalten. Unter Verhältnissen, in denen 10 Gulden ein Betriebskapital, und der Gewinn von 50 Kreuzern ein Geschäft ist, dem man Stunden widmen muß, kann sich nur schwer Weite und Größe des Blickes und der Gesinnung entwickeln. Es muß somit der Typus des Handelsjuden entstehen, der um halbe Kreuzer feilscht, wenn er einen Hering, einen Krautapfel, ein paar Zwiebel oder eine saure Gurke zum Mittagessen genießen will.
Bei unseren Wagenfahrten sind uns unzählige flache Leiterwagen ohne jedes Schutzdach begegnet, auf denen Händler und Aufkäufer eng aneinander gerückt saßen, oft im Stroh hockend, oft an lebendes Kleinvieh herangedrängt.
Sorgenvollen Blickes stieren sie vor sich hin, oder sie sprechen eifrig; aber gleichgiltig sind sie für die sie umgebende Natur, [30] gleichgiltig, ob die Sonne sie bescheint oder der Regen sie durchnäßt.
Wenn Menschen so leben, schlechter als das Vieh, an dessen Befinden und Gedeihen der Eigentümer ein Interesse hat, das für den galizischen Juden niemand empfindet, ist es da zu verwundern, wenn der Wunsch, Geld zu verdienen, jede andere Erwägung in den Hintergrund drängt, bis er so mächtig ist, daß er in den sträflichen Mißbrauch des Wuchers ausartet?!
Und hier tritt nun an manchen Orten die J. C. A. mit ihren Leihkassen ein und bringt praktischen und moralischen Segen ins Land. Der günstige Einfluß dieser Leihkassen kann gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Sie steuern dem Wucher und helfen den kleinen Gewerbetreibenden, indem sie zu niedrigstem Zinsfuße kleine Geldsummen ausleihen, die in so minimalen Raten zurückbezahlt werden können, daß die Schuldner diese Abzahlung nicht mehr als Druck oder Last empfinden.
Die Jahresberichte der Leihkassen sind von den verschiedensten Gesichtspunkten aus betrachtet sehr interessant. Für die Beurteilung der ganzen Bevölkerung ist es von höchster Wichtigkeit, zu erfahren, daß diese Gewerbetreibenden kleinster Kategorie – Männer und Frauen – in der Rückzahlung ihrer Schuld von größter Pünktlichkeit und Gewissenhaftigkeit sind, so daß es sich kaum ereignet, daß ein „Mitglied“ der Kasse gegenüber seiner Verpflichtung nicht nachkäme.
Die Verwaltung der Leihkassen geschieht meistens ehrenamtlich, aber nicht an allen Orten ausschließlich ehrenamtlich, und da ich hier doch nun einmal das Kapitel der Beamten streife, darf ich eine Bemerkung nicht unterlassen. Wie ich schon einmal sagte, ist es bei keiner größeren Körperschaft zu erreichen, daß alle Mitglieder derselben allen an sie zu stellenden Anforderungen gleichwertig genügen. „Es kann überall etwas vorkommen“, heißt es, wenn man gewissen Gerüchten mit bestimmten Fragen nahe kommt. Und da ist nur eins zu sagen: jede Hilfstätigkeit in Galizien[27] hat nicht nur in ihrer Spezialität im Lande zu wirken, d. h. die Schulen sind nicht nur Lehranstalten, die Leihkassen nicht nur Darlehensvermittlung, Versuche zur Einführung von Industrien nicht nur Arbeitsvermittlungen u. s. w.
Infolge der ganz besonderen Eigentümlichkeiten des Landes, [31] seiner dekadenten moralischen Struktur, haben alle Institutionen gemeinsam die große Aufgabe in Haltung und Verwaltung für das ganze Land vorbildlich zu sein.
Wenn „etwas vorkommt“, dann muß mit unnachsichtlicher Strenge vorgegangen werden, damit die Bevölkerung keinen Augenblick darüber im Zweifel bleiben kann, was erlaubt und was unerlaubt ist.
Bei der exponierten Stellung dieser Verwaltungen muß jede Nachsicht und Milde, die vielleicht persönlich angebracht sein kann, zu einer Verwirrung der allgemeinen Ehr- und Rechtsbegriffe führen, auf deren Stärkung im Volke es vor allem ankommt.
Bezüglich des Handwerks habe ich zu berichten, daß ich keine besondere Abneigung gegen dasselbe bemerkt habe, und daß die gangbarsten Handwerke (Schneider, Schuster, Tischler, Spengler, Anstreicher und Maurer) unter den Juden vielfach vertreten sind. Es würden sich Schüler aus den obersten Klassen der Baron Hirsch-Schulen gerne einem Handwerk widmen, wenn die 50 bis 80 Gulden Lehrgeld aufzubringen wären.
Es ist notwendig, daß die Lehrlinge bei guten christlichen Meistern in größeren Städten in die Lehre kommen, um sie wirklich konkurrenz- und erwerbsfähig zu machen.
Das, was an den kleinen Orten Galiziens selbst von einem Handwerker gefordert wird, darf nicht als Maßstab der Ausbildung gelten.
Daß manche Handwerkerschulen der J. C. A. an Verwaltungssünden zu Grunde gegangen sind, ist sehr zu bedauern, aber doch auch wieder gut zu machen. Ich meine, bei gutem Willen müßte sich ein Modus finden lassen, in dem die Lokalkomitees und die Vereinsdezernenten sich zu harmonischer Zusammenarbeit bereit finden. Zwei Klagen sind nach dieser Richtung typisch: die Lokalkomitees finden die wenig konziliante, diktatorische Art der J. C. A. unangemessen. Seitens der J. C. A. dagegen wird die Lokalexekution als vielfach verständnislos, mangelhaft, oft auch geradezu als korrupt bezeichnet.
Bei der Wichtigkeit der Aufgabe wäre es wohl der Mühe wert, Schwierigkeiten, die nur persönlicher, und nicht sachlicher Natur sind, zu überwinden.
Bezüglich der Lehrlinge sind die J. C. A.-Vertreter zu der [32] Ansicht geneigt, sie hätten nicht die Pflicht, den Baron Hirsch-Schulen die Absolventen behufs Weiterbildung abzunehmen sondern sich vor allem mit Kolonisation zu beschäftigen. Es handelt sich aber gar nicht darum den Baron Hirsch-Schulen einen Gefallen zu tun oder nicht, sondern darum, daß diese Schulen die Ziele der J. C. A. in hervorragendem Maße fördern, indem sie die Knaben mit Elementarkenntnissen ausstatten, und darum, daß die Schulleitung die Vermittlung zum Handwerk übernehmen will, – ohne welches eine Kolonisation einfach unmöglich ist.
Es gibt eben in den Aufgaben der Volkserziehung keine ganz scharf abgegrenzten Ressorts, und es wäre im Interesse des Ganzen sehr wünschenswert, wenn seitens der verschiedenen Kuratorien die Gemeinsamkeit des letzten Zieles – Kulturfortschritte im Lande anzubahnen – nicht außer acht gelassen würde. Die große Sehnsucht der Wohlwollenden im Lande ist die Einführung von Industrieen. Das bildet selbstredend eine große Schwierigkeit, da die Frage der Rentabilität eines Unternehmens dabei das Maßgebende ist.
Ein Unternehmer, der nicht einen großen Vorteil oder eine Garantieleistung findet, hat keinen Grund, sich unter schwierigen Verhältnissen mit ungelernten Arbeitern zu quälen, es sei denn, er habe zugleich ein sozial-moralisches Interesse daran, Arbeitgeber zu sein, – den Arbeitern zuliebe. Diese Voraussetzung wird bei Geschäftsleuten selten zutreffen. Erfuhren wir doch sogar von landesansässigen, jüdischen Fabrikanten, die „prinzipiell“ keine jüdischen Arbeiter beschäftigen: Arbeitgeber, die von außen veranlaßt werden, in Galizien arbeiten zu lassen, gehen auf alle dahin zielenden Vorschläge nur des eigenen Interesses, der landesüblichen Hungerlöhne wegen ein, – selbst dann, wenn sie sich als „kleiner Baron Hirsch“ aufspielen.
Wie die Verhältnisse nun einmal liegen, sind sogar die Ausbeuter willkommen! Die einzige Arbeitgeberin, die ständig Arbeit hat und die auch mit den Eigentümlichkeiten des arbeitswilligen Teiles der Bevölkerung immer Geduld haben muß, ist die Baron Hirsch-Stiftung, die aber ihren großen Bedarf an Stoffen und Kleidern importiert! (Die Stiefel, die zur Verteilung kommen, werden im Lande gearbeitet.)
Selbst auf die Gefahr hin „große Schererei“ zu [33] haben, und einige Jahre teurer zu arbeiten, müßte man Werkstätten und Nähstuben anlegen, um auf dem natürlichen Wege, auf Grund eines vorhandenen Bedarfs, das zu erreichen, was nach den Erfahrungen der J. C. A. und des Galizischen Hilfsvereins auf künstlichem Wege so schlecht gelingt, nämlich einige Stellen dauernder Arbeitsgelegenheit zu schaffen.
Die Puppenfabrik der J. C. A. in Tarnow macht auf den flüchtigen Besucher, besonders durch die Sauberkeit der Arbeitsräume, im Gegensatz zu den Lokalen, in denen z. B. die Federnsortiererinnen arbeiten, einen sehr guten Eindruck. Aber auch hier gilt, was ich von den Erziehungsanstalten gesagt habe: wer nicht mit den Mädchen gelebt hat, wer nicht das Vertrauen der Arbeiterinnen hat, um eventuelle Klagen zu hören, darf über einen Betrieb nicht das letzte Wort sprechen wollen. Ich sah auch noch andere Fabrikbetriebe, in denen scheinbar alles gut war und hörte später von geradezu erschreckendem Lohndruck und Ausbeutung der Arbeitskräfte.
Die Mädchen in der Puppenfabrik sind, trotzdem sie wöchentlich durchschnittlich nur zwei Gulden verdienen – Anfängerinnen bekommen nur 80 Kreuzer per Woche – leider zufrieden. Der ganze Betrieb scheint bei der Bevölkerung recht beliebt, was daraus hervorgeht, daß wir an verschiedenen Orten gebeten wurden, die Einrichtung von weiteren Puppenfabriken zu befürworten.
Daß eine Fabrik eine industrielle Notwendigkeit, d. i. im geschäftlichen Sinne rentabel sein muß, und kein Wohltätigkeitsinstitut, daß der Arbeitslohn kein Almosen mit Hindernissen sein darf, wird im Lande nur schwer begriffen.
Weniger gut als mit der Puppenfabrik geht es scheinbar mit der Strumpfstrickerei, was aber nur an der Organisation und der Geschäftsgebarung zu liegen scheint, da im Lande ein ständiger Bedarf an Strumpfwaren vorhanden ist.
Statt daß die galizischen Händler und Kaufleute ihre Ware in kleinen einheimischen Betrieben decken könnten, müssen sie außerhalb einkaufen, und die J. C. A. gab sich ihrerseits die größte Mühe, außerhalb Galiziens eine Firma zu finden, mit der sie einen Vertrag abschließen konnte, der seitens der Firma nicht immer eingehalten wurde. Das führte zu Störungen und Mißständen aller Art.
Auch über die Behandlung der Arbeiterinnen, und deren [34] obligatorische Krankenversicherung sind uns aus den Kreisen der Arbeiterinnen lebhafte Klagen zu Ohren gekommen.
Da aber, was immer von einem Institut von der Tendenz der J. C. A. ausgeht, gewissermaßen unter der Flagge der J. C. A. im Lande segelt, vorbildlich korrekt und vertrauenswürdig sein muß, so hat die J. C. A. auch dafür zu sorgen, daß die Rechte der Arbeiterinnen unter allen Umständen gewahrt bleiben.
Das geschähe am besten, wenn man die Mädchen über die Vorteile der Organisation, d. h. der Selbstvertretung und Selbsthilfe aufklärte. Da das aber voraussichtlich als ein Eingriff in politisches Gebiet aufgefaßt und zurückgewiesen würde, so bleibt nur die schärfste Kontrolle, sowie eine minutiöse Wahrnehmung der Rechte der Arbeiterinnen übrig, die eine ausbeuterische Übervorteilung nach irgend einer Seite ausschließt.
Auch der galizische Hilfsverein in Wien pflegt die Idee, Arbeitsgelegenheit ins Land zu bringen und scheut die Kosten nicht, einige Experimente zu machen. Seine Hauptleistung war die Einführung der Haarnetzindustrie. Über dieselbe ist zu berichten, daß sich fast überall eine große Enttäuschung eingestellt hat. Wie wir erfuhren, hat man anfangs zu große Versprechungen gemacht, die Mädchen erwarteten von einer Art leichter Spielerei goldene Berge. Heute hat sich herausgestellt, daß die Arbeit eine recht mühsame ist und große Akkuratesse und Geduld erfordert, während der Verdienst ein sehr geringer ist.
Da von dem galizischen Hilfsverein gar keine Vorkehrungen getroffen sind, Lohndruck, willkürliche Lohnabzüge und Verzögerung der Lohnauszahlung hintanzuhalten, so ist die Haarnetzerei nach kurzem Aufschwunge wieder stark im Rückgange begriffen.
Auch der Umstand, daß die Fertigkeit des Netzens nirgends anders zu verwerten ist, als da, wo bestimmte Firmen als Ausbeuter auftreten und daß die Übung des Netzens keine andere Arbeit neben sich duldet, macht die galizischen Mädchen abgeneigt, etwas zu lernen, was sie bei schlechter Bezahlung auch noch äußerlich an gewisse Firmen bindet. In christlichen Industrieorten wird die Haarnetzerei vielfach als Nebenverdienst in den Familien betrieben, unter jüdischen Mädchen in Galizien wurde sie oft von solchen erfaßt, die sich schämten, öffentlich als Arbeiterinnen zu gelten. Man arbeitet die Netze bei geschlossenen Fenstern und Türen, da, [35] wenn unversehens jemand kommt, diese Arbeit leicht zu verstecken ist!!! Weitere Experimente des galizischen Hilfsvereins waren die Knopfnäherei und Krawattenfabrikation. Weshalb die Knopfnäherei nicht eingeschlagen hat, konnte ich nicht erfahren.
Die Krawattenfabrikation scheiterte an der unglücklichen Art ihrer Einführung. Anstatt eine gute, geübte Krawattenarbeiterin als Lehrerin und Betriebsleiterin so einzustellen, daß sie, unter Kontrolle, in irgend einer Weise am Erfolg interessiert gewesen wäre, ließ man eine Schullehrerin in der Arbeit ausbilden. Nach vier Wochen schon sollte die Dame das eben Gelernte weiter lehren und den Betrieb leiten.
Unter diesen Umständen konnte die Arbeit nur schlecht und für den Verkauf unbrauchbar sein. Dieser Mißerfolg ist aber nicht maßgebend, denn es ist nicht ausgeschlossen, daß bei richtiger Handhabung die Krawattenfabrikation dennoch eine Zukunft hat.
Der galizische Hilfsverein steht nämlich erstaunlicherweise auf dem Standpunkt, nur Industriezwecke zu verfolgen, und zwar in dem Sinne, eine Anregung zu bringen, eventuell einige Lehrkräfte zu bezahlen, und die Entwicklung der Dinge dann sich selbst zu überlassen. Als Maßstab und Vergleich werden dann die Industriezentren anderer österreichischer Kronländer herangezogen.
Wenn aber nicht in Galizien alle Verhältnisse anders lägen als in anderen Ländern, wenn die jüdische Bevölkerung in Galizien die Kraft systematischer, konsequenter Arbeit schon kennte, – wozu brauchte man dann einen galizischen Hilfsverein? Dort genügt es heute noch nicht, eine Idee zu bringen, Handfertigkeit und Handgriffe zu lehren. Der Anfang ist dort noch schwerer als an anderen Orten, und der erziehliche Einfluß, den die Arbeit ausübt, kann sich nicht so rasch fühlbar machen, daß man die jungen, kaum gewonnenen Arbeitsrekruten nicht noch gewissermaßen beobachten und schützen müßte bis zu der Zeit, wo sie, durch Arbeit erstarkt, im stande sind, sich dem großen Heere anzuschließen, ohne gleich als Marodeure oder Deserteure wieder abzufallen.
Ganz getrennt von den genannten, künstlichen Versuchen, Arbeitsgelegenheit ins Land zu bringen, bestehen in Galizien einige nationale Industriezweige, die, da sie einem Bedürfnis der Bevölkerung entsprungen sind, auch eine ganz andere Entwicklung nehmen konnten.
[36] Es sind dies u. a. die Tallis[28] (Gebetmäntel)Webereien und die durch Heimarbeit hergestellten Aturos, das sind die silbernen Zierborten, die an einer Seite der Gebetmäntel angebracht sind.
Die Tallisweber sind organisierte Arbeiter, die dem österreichischen Weberverband mit seinem Bureau in Wien angehören.
Wir haben unter ihnen sehr intelligente Männer getroffen, die, obwohl Analphabeten, doch politisch reif und durchgebildet sind. Die Lage dieser Arbeiter ist eine sehr schlechte. Die Handwebestühle sind sehr primitiver Konstruktion, und ihr Betrieb verzehrt unverhältnismäßig viel Kraft; sie stehen in Räumen, die nach jeder Richtung unzulänglich find, und der Verdienst – ein Stücklohn, an dem sich die Unternehmer bereichern – ist sehr gering. Eine kleine Lohnerhöhung trat vor einiger Zeit ein, da nach einem mühsam durchfochtenen Streik das Richten der Stühle, eine sehr zeitraubende Vorbereitung zur eigentlichen Arbeit, jetzt eine besondere Entlohnung findet.
Da diese Tallisweber aber arbeiten können, konsequent und regelmäßig, da sie sozialpolitisch denken, so bin ich der sicheren Überzeugung, daß die Weberei in Galizien ein entwicklungsfähiges Gewerbe ist. So gut diese Tallisweber „Tüchel“ weben, könnten sie auf modern konstruierten Webestühlen auch andere Stoffe weben, oder weben lernen, und die ganze Herstellung könnte sich wenigstens teilweise nach einer Richtung ausdehnen, die, profanen Zwecken dienend, einem wachsenden Konsum im Lande entspräche.
Die Aturos werden, wie man uns sagte, nur an einem einzigen Orte in Galizien, in Sassow,[29] hergestellt.
Diese Borten sind eine Art Posamentierarbeit, auf Klöppelkissen mit Silberfäden über Baumwolleinlagen geknüpft. Es arbeiten innerhalb der Organisation ungefähr 200 Leute, die kürzlich beschlossen, zum Schutze der Zunft keine Lehrlinge, besonders keine Lehrmädchen aufzunehmen.
Wir sahen eine große Anzahl von ornamentalen Mustern (Variationen einiger immer wiederkehrender Formen), die den Eindruck schöner, schwerer Silberstickerei machten.
Auch dieser Industriezweig könnte, wenn moderner Geist sich sowohl der technischen, wie der geschäftlichen Seite belebend annähme, [37] zu ganz bedeutender Entwicklung gebracht werden. Heute wird fast noch auf derselben Basis gearbeitet, wie vor hundert Jahren.
Ich bin natürlich nicht in der Lage, einen ausführlichen Bericht über alle Arbeitsgelegenheiten der Juden in Galizien zu geben. Die beiden angeführten Industriezweige haben uns als jüdische besonders interessiert. Einen dritten, der auch dem Ritual dient, eine Tefillenfabrik (Gebetriemen und Gebetkapseln) haben wir nicht gesehen. Doch arbeiten Juden auch noch in vielen anderen Betrieben: in Druckereien, Porzellanmalereien, Kerzenfabriken u. s. w. Aber gleichviel, wohin unsere Blicke und Beobachtungen sich richteten, überall fanden wir unter den Juden einen eigentümlichen Zug von Gedrücktheit, Gleichgiltigkeit, oft von Stumpfheit, vereint mit Intelligenz, die sich von der der bäuerlichen Bevölkerung sichtlich unterscheidet.
Und wie bei den Schulen tauchte mir auch hier immer wieder die Frage auf, warum begnügt sich die Regierung mit Bevölkerungselementen, die national-ökonomisch betrachtet, so wenig wertvoll sind? Wäre es denn nicht, sowohl im Hinblick auf das allgemeine Staatseinkommen, als auf die Ausübung der Wehrpflicht vorteilhafter, einer Provinz, in der Handel und Industrie, also Volkswohlstand und, damit im Zusammenhange, Volksgesundheit und Volksmoral in einem Zustande der Dekadenz befinden, frische Kräfte zuzuführen, damit sie aufblühe?
Die Staatsanimosität gegen die Juden führt zu einer sehr deutlichen Art von Selbstbestrafung am Staatskörper. Die Individuen, die seit Generationen unter fortgesetztem Drucke leben, sind schwach und indolent geworden. Mit dem vielfach fehlenden Bewußtsein ihres Zustandes fehlt auch der Anstoß, ihn zu verändern, fehlt der Willensakt, ihre Lage zu verbessern.
Der Wunsch, die galizischen Juden als Staatselemente leistungsfähiger und damit wertvoller zu machen, könnte auch von der Regierung unterstützt werden, wenn sie ganz ohne „Sentimentalität und Humanitätsdusel“, ohne „Bevorzugung einer Rasse“ nur ihren einfachen Vorteil erkennen wollte.
Ich halte es für sehr bezeichnend für den Zustand dumpfen Dahinlebens der großen jüdischen Volksmasse in Galizien, daß [38] Ideen zur Förderung innerhalb derselben von außen gebracht werden müssen.
Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse aus eigener Kraft sind mir nicht bekannt geworden, weder im Lande selbst, noch bei den Galizianern, die außer Landes leben.
Auch die Idee des Auswanderns ist in vielen Fällen nicht als ein Aufschwung zu betrachten, sie entstammt oft einer gewohnheitsmäßigen Denkweise und ist auch ein Versuch, sich treiben zu lassen, um vielleicht in einem anderen Fahrwasser „glücklich“ zu werden.
Die Hauptidee, deren Ausführung dem leidenden Volke Hilfe bringen soll, und die auch von Freunden desselben reflektierend hineingetragen wird, ist, das jüdische Volk wenigstens teilweise wieder zu einem ackerbautreibenden umzugestalten.
Es ist keine Frage, daß die „Rückkehr zum Ackerbau“, wie das Schlagwort für die einschlägigen Bemühungen heißt, ein Eingehen auf Lebensbedingungen wäre, die nach jeder Richtung hin als gesund und darum als erstrebenswert zu bezeichnen sind. Aber diese Rückkehr kann nicht so einfach geschehen, selbst wenn der Einzelne das Verständnis und den Willen dazu besäße. Der Landbewohner sowie der Stadtbewohner hat ererbte und erworbene Eigenschaften und Eigentümlichkeiten, die ihn charakterisieren, und die nicht auf ein gegebenes Zeichen abgelegt und angenommen werden können.
Auch die Wechselwirkung zwischen Wollen und Können wird von seiten derer, die Projekte machen, häufig nicht genügend beachtet. Es ist sicher, daß man lieber etwas tun will, was man kann, als etwas, was große Schwierigkeiten bereitet; ebenso werden wir leichter das können, was wir wollen, – aber die Energie des Willens reicht doch nicht in allen Fällen aus, das Können zu erreichen.
So hören wir heute sehr oft, die Juden wollten keine landwirtschaftlichen oder ähnliche Arbeiten verrichten. Ich glaube, daß sie in vielen Fällen noch nicht wollen können.
Ein großer Teil der erziehlichen Aufgabe in Galizien wird darin bestehen, dem Wollen der Menschenkraft eine Richtung zu geben, die dem Einzelnen und damit der Gesamtheit förderlich ist.
[39] Die Theoretiker für Galizien werden oft ungerecht, indem sie außer acht lassen, daß das Volk, für das sie mit viel gutem Willen und Begeisterung am grünen Tisch arbeiten, keine gleichförmige Masse, sondern ein Konglomerat von Individuen ist, die bewußt oder unbewußt den Beglückungstheorien fremd bleiben, darum nicht wie gehorsame Kinder sofort auf dieselben eingehen.
Die ersten schlechten Erfahrungen, die die J. C. A. mit ihren Versuchen landwirtschaftlicher Kolonisation in Argentinien machte, sind sehr lehrreich. Heute hat man zwei wertvolle Erfahrungen aus jener Versuchsperiode zu verzeichnen: 1. man lasse nicht wahllos jedermann und jede Familie zur Neukolonisation eines Landes zu, und 2. man bereite die Emigranten für die Kolonisation vor.
Die Auswahl, sowie die Vorbereitung bedingen das Ausscheiden der Alten, Kranken und Schwachen, eine scheinbare Härte, ebenso wie sie die zielbewußte Vorbildung der Jugend – das Wollen lernen – zum unerläßlichen Grundsatz machen.
Der Aufgabe, die männliche Jugend für den Ackerbau vorzubereiten, suchte die J. C. A. durch die Gründung der landwirtschaftlichen Schule in Slobotka lesnia[30] gerecht zu werden.
Die Gerüchte, die über den Ankauf des Gutes, seinen Preis, seinen Wert, seine Bodenbeschaffenheit und andere nicht gleichgiltige Umstände in Umlauf sind, bin ich nicht im stande, authentisch richtig zu stellen. Keinesfalls ist alles, was eine wohlmeinende Auslegung zuläßt, auch schlankweg gut zu heißen. Aber auch ein zu teuer gekauftes Gut mit teilweise minderwertigem Boden könnte mit der Zeit das Experiment der J. C. A. als solches rechtfertigen.
Da aber zur Zeit die ersten Zöglinge der Anstalt noch nicht fertig ausgebildet sind, da man heute noch nicht weiß, ob die jungen Leute wirklich bei der Landwirtschaft bleiben wollen und können, so ist das Experiment der J. C. A. vor der Hand noch nicht als gelungen zu bezeichnen.
Slobotka lesnia ist ein teures Experiment. Warum verteuert man es durch Schul- und Luxusbauten, die wertlos werden, wenn sich binnen weniger Jahre herausstellt, daß der Versuch mißlungen ist, d. h. daß die Zöglinge sich nach zurückgelegter Lehrzeit anderen Berufen widmen, als dem Ackerbau und verwandten? Denn nur um kräftige, gesunde Jungen zu erziehen, bedürfte es [40] solchen Kostenaufwandes nicht. Es müßte aufs gewissenhafteste erwogen werden, ob das aufgewendete Kapital sich auf dem beschrittenen Wege in den Menschen verzinst, und ob nicht dieselben erziehlichen Erfolge, die das Experiment Slobotka lesnia bietet, auf andere Weise, mit kleineren Kosten erreicht werden könnten. Darüber kann man aber erst zu einem abschließenden Urteil gelangen, wenn man auf die Erfahrungen vieler Jahre und mehrere Generationen von Absolventen der Anstalt zurückblicken kann, und deshalb war das Investieren von Neubauten auf dem Gutskomplex jedenfalls verfrüht. Die ökonomische Seite der Frage darf durch alle Teile des Verwaltungskörpers nur von dem Standpunkt aus betrachtet werden, daß Stiftungsgelder Mündelgelder sind. Je reicher eine Stiftung, desto größer und vielgestaltiger ihre Aufgabe, desto größer die Verantwortlichkeit.
Die Schule hat vor allen Dingen die Aufgabe, die jungen Leute für das Landleben unter den einfachsten Verhältnissen vorzubereiten. Die Knaben sollen Freude an körperlicher Arbeit bekommen, sie sollen den Boden liebgewinnen, dem sie die Früchte abringen, das bäuerliche Leben in seiner gesunden, primitiven Urwüchsigkeit soll ihnen vertraut und teuer werden.*)
Als Beweis dafür, daß die Juden nicht, wie meist behauptet wird, durchgehends für das ländliche Leben untauglich und unfähig sind, kann, außer den zerstreut lebenden bäuerlichen Familien, die jüdische Bauernkolonie in Czerniejow[31] dienen. Dort sind „zehn Minjonim“, also 100 männliche Bewohner über 13 Jahre, die von Ackerbau und Viehzucht leben, wie die christlichen Bauern auch. Sie verheiraten sich nur mit Mädchen und Frauen, die zu ihrer bäuerlichen Lebensweise und ihrem Erwerb passen und sind städtischer Art fremd.
Ich kann nicht sagen, daß ich diese „jüdischen Arelim“ froher, zufriedener, weniger gedrückt gefunden hätte, als die städtischen Juden; dazu sind sie zu arm, geistig zu unfrei, aber sie sind körperlich viel kräftiger als die städtische Bevölkerung, und die Landarbeit, sowie die Abkehr von unsauberen städtischen Berührungspunkten hat ihnen ihre Sittlichkeit erhalten. – Außer den erwähnten [41] gibt es noch zwei mächtige, rein geistige Potenzen, die, wenn man für Galizien und in dem Lande wirken will, jederzeit beachtet und bedacht werden müssen: der Chassidismus und der Zionismus.
Der Chassidismus ist als Sekte, als eine Abzweigung innerhalb des orthodoxen Judentums anzusehen. Es gehört ihm ein so großer Teil der galizischen Bevölkerung an, daß er sehr bestimmend auf dieselbe eingewirkt hat. Historisch stellte er einst eine mystisch fromme, antitalmudische Richtung dar. Heute ist es der Chassidismus, der den Geist einer reinen Gottes- und Sittenlehre so fest in Formen und Formeln gebannt hält, daß seine Anhänger vielfach durch den Wust des Nebensächlichen den Kern der Lehre nicht mehr zu erkennen vermögen. Das geistlose Festhalten am Ritual und, damit im Zusammenhange, die Gesetzesdeutelei sind es, die oft die haarscharfe Linie zwischen Recht und Unrecht zu verwischen drohen, und die für das Volk, das in dem furchtbaren Ringen um seine Existenz vielfach unsicher geworden ist, eine große moralische Gefahr bergen.
Das Ritual, von dem es einst hieß, es sei der Zaun, der einen herrlichen Garten einschließt, es ist Selbstzweck geworden, es ist für den größten Teil der galizischen Juden die harte Schale einer tauben Nuß.
Von morgens bis abends, von Beginn des keimenden Lebens bis zum erlöschenden Atemzuge ist das menschliche Leben von Vorschriften begleitet. Was einst deren Zweck war, in allen Lebensäußerungen Gott zu suchen und zu finden, der Seele Aufschwung zu geben vom Alltäglichen ins Unendliche, – das hängt heute wie ein Bleigewicht an dem Alltäglichen und verflacht und versumpft und erdrückt die Menschen. Nur daraus ist es erklärlich, daß in und neben dieser orthodoxen Lebensweise Zustände tiefster sittlicher Verkommenheit unter den galizischen Juden herrschen können. Sie leben meist nur im Banne des Rituals, das man aus Aberglauben und aus Furcht vor der Nachrede des Nachbars nicht abzustreifen wagt, aber sie sind nicht fromm.
Eine Art fatalistischen Gottvertrauens, das die Hände in den Schoß legen läßt und schlaff und indolent macht, ist keine Frömmigkeit in dem Sinne der Erhebung, der Befreiung und der Auslösung von Kraft, das Sittliche und Gute zu wollen.
[42] Trotzdem die jüdische Religion kein Dogma und keinen Priester als Vermittler zwischen Gott und dem Menschen kennt, hat sich im galizischen Volke eben aus der Wichtigkeit der Gesetzesdeutung, die ein Talmud unkundiger Laie nicht vornehmen kann, in den sogenannten Wunderrabbis eine Art Priesterkaste gebildet, die von ihrem Einfluß auf das Volk den ausgiebigsten, und unheilvollsten Gebrauch macht. Ihr Einfluß ist furchtbar, denn er lähmt nicht nur jede Regung fortschrittlichen Gedeihens, sondern er tötet auch den Geist der jüdischen Lehre. Es gibt in Galizien Dynastien von Wunderrabbis, bei denen sich die „Erleuchtung“, der Einfluß und das Geschäft von Vater auf Sohn und, wenn nötig, auch auf den Schwiegersohn vererbt. Es wäre wahrscheinlich ein Unrecht gegen einige Männer, wollte man sie alle als Betrüger hinstellen; wurden wir (als Frauen!) doch bei dem einen und anderen in „Audienz“ empfangen, der keinen ganz unsympathischen Eindruck machte.
Die Rabbinersfrauen, „Rebbezen“, fanden wir alle intelligenter als die Männer in ihrer talmudischen Weisheit. Der Verkehr mit dem Publikum im Vorzimmer der Rabbiner scheint sie klüger und weltgewandter zu machen: das äußerte sich sichtlich in dem Verständnis für das, was unsere Mission für Land und Leute bedeuten sollte. Einige der Frauen machen mit dem eigentümlichen Kopfputz, der die Haare bedeckt und die Stirne mit einem Perlendiadem krönt, einen sehr vornehmen Eindruck.
Die Wunder, die die Rabbis tun, bestehen meistens in Ratschlägen geschäftlicher, medizinischer oder juristischer Art, die, wenn sie sich als wirksam erweisen, aus einer gewissen Routine im Übersehen der Verhältnisse, oder psychologischen und suggestiven Einflüssen hervorgehen. Daß manche Wunderrabbis Agenten haben, die in der Eisenbahn, in Wirtschaften und auf Märkten von ihren Wundern erzählen, ist ein Geschäftstrick, der aus der Konkurrenz entspringt und mit der modernen Reklame in Zusammenhang zu bringen ist.
Aber nicht allen gelingt es, durch den Aberglauben und die Beschränktheit ihrer Anhänger Reichtümer zu sammeln, wie die Herren von Chortkow[32], Sadagora[33] und Belschitz u. s. w., die ihren Einfluß auch auf das politische Gebiet spielen lassen, indem sie die Wahlen beeinflussen. Viele Wunderrabbis sind arm und bleiben [43] arm und müssen für ein mageres Suppenhuhn schon ihre Weisheit zu Markte tragen.
Wenn man die furchtbare Öde in Betracht zieht, in der das galizische Volk dahinlebt, darbend an Geist und Körper, Gott, Vaterland, Wissenschaft, Kunst, Wohlstand, alles, was den Menschen hoffen, streben und genießen macht, vergällt oder verschlossen, – und man bedenkt, daß diesem darbenden Volke eine Idee gebracht wird, die ihm Befreiung verheißt, – mehr als Befreiung, Freiheit! Freiheit in einem eigenen Lande zu wohnen, und als Bürger nicht mehr getreten und geschmäht zu werden, Freiheit zu leben, zu denken, zu genießen wie andere Menschen – kann es da wundernehmen, wenn das Volk diesen Gedanken gierig aufnimmt und ihm zujubelt?
Ein solcher Gedanke ist der Zionismus. In seinen befreienden und belebenden Elementen liegt die Größe und die Kraft des Gedankens, und wenn die Zionisten hielten, was der Zionismus verspricht, wäre er ein Segen für das jüdische Volk.
Es liegt aber in den gegebenen Verhältnissen, daß die Propaganda für den Zionismus zum größten Teile in den Händen ungebildeter, und was noch ärger ist, halb gebildeter Personen liegt, Menschen, deren Existenz an so losen Fäden hängt, daß sie nichts zu verlieren haben, Menschen ohne soziale Tradition, die, weil sie auf keine Entwicklung zurückblicken, auch keine Entwicklung vorhersehen.
Es gibt in Galizien unzählige zionistische Vereine, in deren Versammlungen von den Rednern bekannte Schlagworte wild hinausgeschrieen und von den Mitgliedern staunend und kritiklos aufgenommen werden. Kritiklosigkeit und Selbstverherrlichung sind zwei schwer zu überwindende Eigenschaften derer, die den Heilsgedanken des Zionismus predigen.
Wohl wäre es schön, dem jüdischen Volke ein Land zu geben. Aber so wie das Volk heute beschaffen ist, kann es noch nicht als Nation leben, es kann noch nicht arbeiten, und es ist noch nicht einmal reif genug, einzusehen, was es lernen muß. Der einzelne muß nicht nur lernen physische Arbeit zu leisten, er muß sie auch achten lernen; er muß lernen, sich einem Werdenden anzupassen, sich einem Ganzen unterzuordnen. Nur durch solche Bei- und [44] Unterordnung, durch Selbstzucht in jedem Sinne können die Juden nach und nach die Eignung erwerben, nicht für immer ein Volk zwischen den Völkern bleiben zu müssen, sondern eine Nation neben den Nationen zu werden.
Die Zionisten sind schlechte Bauleute. Ihre Luftschlösser sind Hochbauten ohne Tiefbau. Jeder von ihnen hält sich als Theoretiker auf irgend einem geistigen Gebiete für so bedeutend und wertvoll, daß er sich für zu gut hält, eine physische Arbeitsleistung von sich zu fordern. Und so sind die heutigen Zionistenführer alle Minister ohne Portefeuille im Zukunftsstaate der Juden!
Wie fasziniert starren sie auf das Ziel: „ein eigenes Land“ und vergessen darüber den Weg: „Erziehung des Volkes“. Der Weg führt über Kleinarbeit, und Kleinarbeit wird von den Zionisten verachtet. Sie verstehen sie nicht, weder technisch, noch ihrem Werte nach. Sie versprechen dem jüdischen Volke, es werde unter Dattelpalmen wandeln, aber sie scheinen die alte Fabel vom Knaben und der Dattelpalme nicht zu kennen.
Was die Zionisten zu ihrem großen Vorteil von den Sozialisten gelernt haben, ist, daß sie sich für ihre Zwecke an die Mitarbeiterschaft der Frau wenden. Aber wie fassen die zionistischen Frauen in Galizien ihre Aufgabe auf, die sich absolut mit der sozialen Aufgabe deckt, die alle Frauen in Galizien und alle Frauen in der ganzen Welt zu erfüllen haben?
Klären sie die Frauen und Mädchen etwa darüber auf, was jenseits ihrer Geistesschranken schon nicht mehr eine Frauenfrage sondern Frauenbewegung ist? Belehren sie die Jugend des Volkes über den Wert und den Segen der Arbeit? Zeigen sie ihnen praktisch, oder lehren sie sie theoretisch die Wichtigkeit der Kinder- und Krankenpflege? Klären sie sie auf über den Zusammenhang von sittlichem Leben und Gesundheit? Schildern sie ihnen die Gefahren der Tuberkulose und deren Bekämpfung? Haben die zionistischen Frauen den Mut, die Sittlichkeitsfrage als wichtigsten Programmpunkt ihrer Bewegung aufzustellen?
Nein! All das wird von den zionistischen Frauen in Galizien nicht verstanden, nicht beachtet, oder gar verachtet. Vorträge, Versammlungen und, wie bei den Männern, Propaganda des Wortes ohne Propaganda der Tat. Und dennoch haben die Zionisten recht: an die Frauen muß man sich wenden zum Heile eines Volkes. [45] Die Stellung der Frau in einem Volke kann die Stellung des Volkes unter den Völkern erklären, und ich glaube, daß es in diesem Zusammenhange kein Zufall ist, daß in dem Lande vorgeschrittener Frauenfreiheit, in Amerika, die jüdischen Männer den Mut fanden, für ihre russischen Glaubensgenossen einzutreten.
Die zionistischen Frauen dürften sich nicht damit begnügen, den Geist althistorischer, jüdischer Frauen zu beschwören und wieder beleben zu wollen. Die moderne Zeit verlangt moderne Frauen mit Eigenschaften und Kräften, die, dem Stadium der heutigen sozialen Entwicklung sich anpassend, dem vorwärts drängenden Strome zu folgen vermögen.
Das Ideal einer solchen modernen Frau den Töchtern des Landes zu zeigen, statt ihnen zu schmeicheln und sie über wichtige Tatsachen hinwegzutäuschen, – das wäre eine dankenswerte Aufgabe für Frauenvereine in Galizien. Es gibt auch einige zionistische Vereine, wie z. B. die „Rachela“ in Stanislau, die sich mit einer kleinen Anzahl von Kindern beschäftigen, aber nur zum Zwecke und im Sinne der zionistischen Tendenz. Außerdem gibt es Reformcheder, oder hebräische Schulen, von Zionisten unterhalten, die im Verhältnis zu den anderen Chedern sehr Gutes leisten und als Schulen Förderung und Unterstützung verdienen.
Nicht zu übergehen ist auch die Tatsache, daß die Zionisten im Rahmen ihrer kleinen Mittel Lesevereine und Bibliotheken gründen. Nur ist zu bedauern, daß der Lesestoff, den sie bieten, ein einseitig zionistischer ist, was die Kritiklosigkeit der Mitglieder befestigt. Aber immerhin sind diese Einrichtungen entwicklungsfähig und für das Land von weittragendster Bedeutung.
Auch für die Pflege der Geselligkeit sind die zionistischen Vereine in Galizien wertvoll. Sie geben Gelegenheit zu heiterem, anregenden Beisammensein, zur Förderung gesellschaftlichen Anstandes, zum Schliff der Manieren. Allerdings wäre es sehr wünschenswert, daß immer taktvolle und reife Elemente in diesen Vereinigungen tonangebend wären, damit, was edle Geselligkeit für die Jugend beider Geschlechter bewirken kann, nicht durch Übertreibungen ins Gegenteil ausarte.
Aus all diesen Einzelheiten wird begreiflich, daß der Zionismus geeignet ist, die Jugend zu gewinnen und Macht über die Geister zu erwerben.
[46] Vielleicht wird die Geschichte seine Mission einmal darin erkennen, daß er die Fanfare war, die schlafenden Geister zu wecken, damit die Juden sich wieder aufraffen, mit anderen Völkern gleichen Schritt zu halten in Ausübung ihrer Pflichten und in der Inanspruchnahme ihrer Rechte. Dann hätte der Zionismus eine große Aufgabe erfüllt, auch wenn die Gründung eines jüdischen Staates Utopie bleibt.
Ich hoffe, daß das jüdische Zweigkomitee zur Bekämpfung des Mädchenhandels es begreift, warum ich in meinem Berichte erst so spät auf eine Materie zu sprechen komme, die ich als Delegierte dieser Vereinigung vielleicht an erster Stelle zu besprechen gehabt hätte.
Da es aber nicht möglich ist, die Sittlichkeitsfrage eines Landes gerecht zu beurteilen, wenn man dessen allgemeine Lage und Verhältnisse nicht kennt, so war es notwendig, erst den Boden zu schildern, auf dem die in Bezug auf Sittlichkeit so traurigen Zustände sich entwickeln konnten.
Unbildung, Erwerbslosigkeit, Armut, erschreckende Wohnverhältnisse, Haltlosigkeit oder Lüge in religiösen Dingen, nachdem ich versucht habe, alle diese Momente darzustellen, kann der logische Schluß vom Standpunkt der Sittlichkeitsfrage aus nur ein solcher sein, wie er sich mit den tatsächlichen Verhältnissen deckt.
Zwar, wer erwartet, daß ich meinen Bericht über diese wichtigste Seite meiner Beobachtungen mit pikanten Details würzen kann, wird enttäuscht sein.
Nicht einmal mein kurzer Besuch einiger öffentlicher Häuser in Krakau brachte etwas, was in dieser Richtung sensationell zu nennen wäre. Aber gerade die Selbstverständlichkeit, mit der in allen Schichten der Bevölkerung von dem Vorhandensein und der „notwendigen“ Ausdehnung eines unsittlichen Gewerbes gesprochen wird, in der gedankenlosen und kritiklosen Beurteilung desselben liegt die furchtbare Gefahr für die Gesellschaft.
Ich hatte Gelegenheit, in Krakau mit einigen Damen zu sprechen, die bemüht sind, in national-polnischen Kreisen der hygienischen Auffassung der Sittlichkeitsfrage Boden zu bereiten.
Auch sie bestätigten für die Offiziers- und Studentenkreise eine rapide Zunahme beängstigender Symptome. Die Zahl der [47] öffentlichen Häuser ist sehr groß, und daß Inhaber und Inwohner meist Juden resp. Jüdinnen sind, ist bekannt. Es gehört natürlich nicht in den Rahmen meines Berichtes, über den Einfluß der Bordelle und das System der Reglementierung zu sprechen: doch war es mir interessant, konstatieren zu können, daß die Föderationsidee anfängt, auch in Galizien Anhänger zu gewinnen. Man mag persönlich zu derselben stehen wie man will, jede Kampfesweise ist zu begrüßen, die es sich zur Aufgabe stellt, von irgend einem Punkte aus die Volkskrankheit in Ursache und Wirkung anzugreifen und dadurch beginnt, die Volkskraft vor Verfall zu bewahren.
Für Galizien ist aber eines klar: weder die Bordelle noch der Mädchenhandel werden im stande sein, einen so korrumpierenden Einfluß auf die Bevölkerung auszuüben, wie die durch das ganze Land verbreitete und das Land verseuchende geheime Prostitution. Für die Beurteilung der Sachlage ist von größter Wichtigkeit, daß es nicht nur Not und Verführung sind, die die Mädchen zum Verkauf ihres Körpers drängen. Es ist mir wiederholt, und besonders von medizinischer Seite gesagt worden, daß eine erschreckend große Anzahl Mädchen und Frauen „besserer“ Familien, solche, bei denen von Erwerb oder Nebenverdienst ganz abgesehen werden kann, einem geheimen und außerehelichem Geschlechtsverkehr zugänglich ist. Und zwar sind dies nicht etwa Frauen und Mädchen, die auf irgend eine Art von modernen oder emanzipierten Ideen „infiziert“ worden sind. Es sind Frauen und Mädchen, die ultraorthodox leben, den Sabbat halten, die Speisegesetze und alle anderen rituellen Vorschriften mit der größten Ängstlichkeit befolgen und dennoch in sittlicher Beziehung absolut haltlos sind.
Dieser Widerspruch ist nur dadurch zu erklären, daß die Formen wertlos werden, sobald ihr geistiger Inhalt verloren gegangen ist, daß das Festhalten an leeren Formen direkt zur Lüge und Heuchelei führt. Bedauerlicherweise hat dieser Widerspruch häufig die Annahme gebracht, daß es in der jüdischen Gesetzesauslegung Stellen gäbe, die zu einer leichtfertigen Auffassung des Geschlechtsverkehrs verleiten können. Demgegenüber ist nur energisch zu betonen, daß die jüdische Gesetzgebung in der Halacha sowohl wie in der Kabala jeden Geschlechtsverkehr, der nicht der Fortpflanzung dient, aufs strengste verdammt. Da seit Jahrtausenden unter den Juden die Frau nur als Geschlechtswesen [48] bewertet, auf gegenseitige Zuneigung aber und geistige Anteilnahme am Leben des Mannes kein Gewicht gelegt worden ist, so war für die Hingabe der Frau weder ein ehrlich sinnlicher noch ein feingeistiger Reiz vorhanden. Eine gewisse Abstumpfung der jüdischen Frauen in geschlechtlichen Dingen hat infolgedessen Platz gegriffen.
Hierzu tritt, daß durch die Unbildung der Frauen ihrem Geiste und ihren oft lebhaften Empfindungen jede gesunde Nahrung abgeschnitten ist, so daß diesen außerhalb des körperlichen Ich kein Spielraum gegeben wird. So sieht man die Phantasie förmlich in Bahnen gezwungen, die auf verderblichen Boden führen.
Als letzten, aber sicher allerwichtigsten Faktor zur Erklärung der aus religiösen, sowie sozialen Gründen nicht ausreichend begründeten Erscheinungen ist meines Erachtens die Langeweile anzuführen.
Das Leben der Frauen und Mädchen in Galizien, die nicht aufs Verdienen in den drückendsten und beschämendsten Formen angewiesen sind, ist öde und entbehrt jeglicher Anregung, jeden Interesses. Das Aufgehen in großen und kleinen häuslichen Angelegenheiten, wie dies bei vielen deutschen Hausfrauen einst allgemein war und heute noch vielfach ist, fällt für einen polnischen Haushalt, christlich und jüdisch, weg; aber es treten auch keine anderen geschäftlichen, philanthropischen,[34] wissenschaftlichen oder gar politischen Interessen an deren Stelle. Dieser Menge fauler und denkfauler Frauen, Haustiere im niedrigsten Sinne, diesen müßiggehenden Mädchen, die nur darauf warten, durch eine möglichst „gute Partie“ ihrem Schicksal, der geschlechtlichen Verwertung, zu verfallen, steht in den Garnisonen, in der Beamtenschaft der kleinen Städte und in der talmudbeflissenen Jugend ebenfalls eine Menge von Müßiggängern gegenüber. Beiderseits braucht und sucht man Unterhaltung und Abwechslung und findet sie zum eigenen Schaden, sowie dem der Gesamtheit. Welchen Einfluß Schule und Arbeit im Gegensatz zu Unbildung und Müßigung auf einen ganzen Ort ausüben kann, davon ist Borislaw[35] ein auffallendes Beispiel. Trotzdem es durch die lehmige Beschaffenheit seines Bodens, durch die Erdarbeit und die für die Röhrenleitungen des Naphtha[36] beständig nötigen Aufgrabungen das schmutzigste Dorf war, das wir – freilich nach einem furchtbaren Platzregen – sahen, [49] macht es doch in seiner allgemeinen, regen Geschäftigkeit einen sehr erfreulichen Eindruck.
Da stehen nicht Gruppen schwätzender Weiber beisammen, da schlendern nicht Männer ziellos umher! Alles arbeitet: Christen und Juden, Männer und Frauen, unter der Erde und auf der Erde.
Die Baron Hirsch-Schule, das Verbot der Kinderarbeit, Arbeit für alle Arbeitswilligen, und an Stelle eines Regiments Soldaten einige tausend organisierter, sozialpolitisch geschulter Arbeiter sind ebensoviele Gründe, daß das Niveau der Sittlichkeit gegen frühere Zeiten und gegen andere Orte gehobener erscheint.
Es gibt Dinge, für die es dem einzelnen gegenüber theoretisch keine Entschuldigung gibt, sobald sich aber die Erscheinung wiederholt und häuft, so daß sie für einen größeren Kreis symptomatisch wird, kann die Erklärung der Erscheinung von einem gewissen Gesichtspunkte aus als Entschuldigung dienen.
Außer der Langeweile ist die absolute Unkenntnis der hygienischen Nachteile als Folge sittlicher Vergehen eine solche Erklärung, die für die Menge moralisch ungeleiteter Menschen zur Entschuldigung wird. Wir suchten auf unserer Reise sehr oft zu erfahren, wie weit in manchen Kreisen blindes Nichtwissen vorliege, das für manche Handlungen die Verantwortlichkeit vermindere, und wir fanden vielfach absolute Unwissenheit.
Sehr lehrreich nach dieser Richtung war eine Szene in einem weltabgeschiedenen Dorfe, wo Mädchen und Frauen unter dem Eindrucke dessen, was wir ihnen in sittlich-hygienischer Beziehung sagten, förmlich in Aufregung gerieten. Damit will ich nicht sagen, daß die gewerbsmäßigen Kuppler, Gelegenheitsmacher, Händler und Bordellbesitzer nicht wüßten, daß sie ihre Opfer auch körperlich zu Grunde richten, indem sie sich ihrer zur Ausbeutung bemächtigen. Aber die meisten Mädchen wissen nicht, was ihnen bevorsteht, und auch die Eltern, die es „nur“ mit der Moral nicht genau zu nehmen glauben, haben keine Ahnung von der Tragweite gesundheitlicher Schädigung „bis ins dritte und vierte Geschlecht“, wenn sie erlauben, oder veranlassen, daß ihre Töchter geputzt „auf die Straße“ gehen. Deshalb bin ich der festen Überzeugung, daß die Kenntnis der Krankheiten als Folge geschlechtlicher Ausschreitung manches Mädchen davon abhalten würde, sich im geheimen der Prostitution zu ergeben. Wie weit der Weg von einem amüsanten [50] Verhältnisse, dessen Reiz sehr bald nicht mehr entbehrt werden kann, zu einem zweiten und zu allen folgenden Vergehungen ist, hängt oftmals nur von äußeren Umständen ab.
Einmal ist es die Angst vor den Eltern oder den Dienstgebern, ein andermal die Erwartung eines unehelichen Kindes, Verlassen sein oder gekränktes Ehrgefühl, und in vielen Fällen die Unmöglichkeit, allein Mittel und Kraft zu finden, die beschrittene Bahn wieder zu verlassen, die von der geheimen zur öffentlichen Prostitution – dann an einem andern Ort, möglichst fern der Heimat – führt.
Und diese Mädchen sind es auch, deren sich hauptsächlich der Mädchenhandel in seinen verschiedenen Formen am leichtesten bemächtigen kann.
Daß der Mädchenhandel ein im Volksbewußtsein gutgeheißener Vorgang ist, ist nicht wahr, wenn auch Fälle vorkommen können, in denen Eltern mit Kupplern im Einverständnis sind. Es wirken eben in dem unglücklichen Lande viele Ursachen zusammen, die zu Korruptionserscheinungen aller Art führen müssen.
Im „Antichambre“ der Wunderrabbis, unter dem Torbogen, bei der Brothöckerin, und an anderen Stellen, die die Klatschbasen versammeln, werden Mädchenhandelgeschichten voll Schaudern erzählt. Allerdings erfolgt das Gruseln meist zu spät, und es fehlt den Leuten die Übersicht, aus solchen Geschichten das Allgemeine zu abstrahieren, und für den eigenen Gebrauch eine Nutzanwendung zu ziehen. Das Vorkommen des Mädchenhandels steht in direktem Zusammenhange mit der Auswanderung, die in Galizien unmöglich verhindert werden kann. Aus einem Lande, das seine Bewohner nicht ernährt, muß eine starke Emigration stattfinden, und die „jüdische Intelligenz“, die sich der steten Bevölkerungszunahme und dem wachsenden Elende gegenüber nicht zu helfen weiß, unterstützt die „Evakuierung“ des Landes.
Es ist mit Sicherheit vorauszusehen daß, trotz erschwerender Maßregeln und Gesetze seitens der durch Immigration bedrohten Länder, der Strom nach dem Westen immer größer werden muß.
Unterstützt wird die Bereitwilligkeit in der Bevölkerung, auszuwandern, durch eine unerhörte Leichtgläubigkeit die den gewissenlosen Agenten ihr Werben ermöglicht, und durch die absolute Unwissenheit des Volkes. So fehlen den Leuten alle geographischen [51] Begriffe. Da sie nicht wissen, ob nicht Amerika eine Stadt in der Nähe von London ist, da sie nicht wissen, in welcher Zeit irgend ein Ort erreicht werden kann, da sie weder schreiben noch lesen können, also Briefe und direkte Nachrichten gar nicht erwarten und bezüglich ihrer Echtheit kontrollieren können, so ist jedes Mädchen, das auswandert, d. h. das seinen Heimatsort verläßt, auch noch innerhalb des Landes allen Zufällen und Böswilligkeiten preisgegeben.
Ihre Unlust und Unfähigkeit gleichmäßig zu arbeiten, die Unkenntnis irgend einer Sprache außer Jargon und schlechtem Polnisch, hindert die Mädchen direkt, in eine gute Arbeitsstelle einzutreten. Das Hausier- und Kellnerinnengewerbe und geringe Verkäuferinnenstellen, die zulassen, gewisse ungeregelte Lebensgewohnheiten beizubehalten, locken sie am meisten, und damit sind sie jeder Aufsicht und jedem anständigen Familienanschluß entzogen.
Der Auswanderung die größte Aufmerksamkeit zuzuwenden, dürfte der Kardinalpunkt einer jeden Bekämpfung des Mädchenhandels sein.
In dieser Beziehung ist es sehr wichtig, daß die „freundschaftliche Warnung“ mit Adressen von Auskunftsstellen für allein reisende Mädchen, die wir an manchen Orten vorzeigten, überall wo wir sie zur Kenntnis brachten, von größter Wirkung war. Leider reichte unser Vorrat nicht, so viel davon zur Verteilung zu bringen, wie man von uns erbat. Wir konnten aber überall beobachten, welchen tiefen Eindruck die wenigen warnenden und aufklärenden Worte, die das Blatt enthält, auf die Kreise machte, für die sie berechnet sind.
Über einen sehr wichtigen Punkt in der Sittlichkeitsfrage, den Alkoholmißbrauch, bin ich zu meinem Bedauern gar nicht in der Lage, aus eigener Beobachtung etwas mitteilen zu können, da wir, um Schänken und Wirtshäuser zu besuchen, einer[37] besonderen Führung bedurft hätten, über die wir auf dieser Reise nicht verfügten. Auf der Straße habe ich nie betrunkene Juden gesehen mit Ausnahme eines Bettlers in Dukla, der mir aber hauptsächlich dadurch auffiel, daß sein aus Fetzen und Lumpen in allen Farben bestehender Kaftan einen Grundstoff nicht mehr erkennen ließ. Der Mann, wie er über die Straße schwankte, war eine der Erscheinungen, [52] bei denen ich bedauerte, weder Stift noch Kodak in meinem Dienst zu haben.
Bezüglich des Trinkens erfuhr ich nur, daß manche jungen Leute monatelang eine Mischung von Schnaps und Schnupftabak zu sich nehmen, um sich militäruntauglich zu machen, – was ihnen auch bei dauernder Schädigung ihrer Gesundheit gelingt.
Trotzdem der Mädchenhandel und die Sittlichkeitsfragen Ausgang und Ziel unserer Beobachtungen auf der Reise bildeten, kann ich doch darüber im Verhältnis zu der Wichtigkeit der Materie vielleicht am wenigsten Tatsächliches berichten.
Wie in dem Nervenzentrum eines Organismus sammeln sich die wichtigsten Interessenfragen eines Volkes zu Sittlichkeitsbegriffen und strahlen auch wieder aus diesen in Lebensäußerungen zurück.
Die Aufnahme von Eindrücken, der Umsatz und die Abgabe in Form von mehr oder weniger sittlichen Handlungen geschieht auf so unendlich fein verästelten Wegen, daß wir sie da, wo es sich nicht um grob Sinnfälliges handelt, gar nicht immer verfolgen können.
Je schwerer es aber ist, in Sittlichkeitsfragen gerecht zu sein, je schwerer die Verantwortlichkeit, um so größer, schwieriger und notwendiger ist die Aufgabe, alles heranzuziehen, was zur Beleuchtung und Beurteilung des Materials, das zu unserer Erkenntnis gelangt, dient.
Auf unserer Reise hat mich das Gefühl einer großen Verantwortlichkeit nie verlassen, und nun, da ich am Ende desjenigen Teiles meiner Mitteilungen bin, die meine Erfahrungen wiedergeben, fühle ich das Unzureichende derselben.
Ich muß es sagen: ich habe unendlich mehr gesehen, als ich erzählen kann, unendlich mehr empfunden, als ich ausdrücken darf, um so objektiv zu bleiben, wie es mir möglich ist.
Nun ich dem Bericht verlasse, um zu sachlichen Vorschlägen überzugehen, geschieht dies um so zaghafter, als ich mir wohl bewußt bin, daß meine Vorschläge keine erschütternden, die Lage der Dinge plötzlich verändernden sein werden: nicht Revolution, sondern Evolution braucht das Land.
Aber das Land ist nicht schwach, es ist nur geschwächt, es kann [53] sich nicht selbst aufhelfen. Die Hilfe muß von außen kommen, und der erste Schritt ist dazu geschehen; man fängt an in größeren Kreisen Interesse für Galizien zu bekommen.
Ob dieses Interesse ein egoistisches oder altruistisches ist, ist objektiv gleichgiltig, ist schon deshalb gleichgiltig, weil die Anschauungsweise eine mit der Zeit verschiebbare ist. Wer sich heute aus dem egoistischen Grunde für Galizien interessiert, weil die Angst besteht, die gefürchteten Polacken könnten in immer[38] größerer Zahl ihr Land verlassen und sich unangenehm in einem geliebten, sauberen Erdenwinkel oder Stadtteil niederlassen, kann zur Abwehr dieser Kalamität dasselbe tun, wie ein anderer, der aus altruistischen Gründen einem Haufen leidender, sinkender, intelligenter Menschen Hilfe bringen will. Und dabei ist es noch nicht ausgeschlossen, daß die Arbeit selbst den Egoisten zum Altruisten umwandelt.
Ich glaube, daß der Auftrag für Fräulein Doktor Rabinowitsch und mich, die Studienreise zu machen, aus einer solchen Kombination von Anschauungen und Gefühlen entstanden ist.
Ich hoffe, daß es mir gelungen ist, durch meinen Bericht über die Zustände in Galizien die Notwendigkeit klarzulegen, daß in erster Linie Kultur, d. h. Erziehung und hygienische Begriffe ins Land zu tragen sind, und daß man sich als Pflanzstätten derselben der Kinder und der heranwachsenden Jugend zu sichern haben wird, und zwar schon der Kinder im zartesten Alter.
Also erstens Krippen und Kindergärten! Aus Gründen, deren Darlegung mich zu weit führen würde, halte ich Stanislau, Tarnow und Brody für geeignete Orte, mit solchen Einrichtungen anregungsweise zu beginnen in der festen Überzeugung, daß sie rasch Nachahmung finden werden.
Jede derartige Anstalt muß nicht nur dazu dienen, eine relativ kleine Anzahl von Kindern aufzunehmen, sondern es ist ebenso wichtig, sie zu einem Lehrmittel für die ganze Stadt auszugestalten. Soweit ich die Verhältnisse und das Verständnis für solche Dinge seitens der galizischen Bevölkerung beurteilen zu können glaube, wird man Krippe und Kindergarten nicht trennen [54] dürfen, so wie man auch sonst derartige Einrichtungen den speziellen Landesbedürfnissen anpassend, nicht einfach die Statuten deutscher Anstalten bindend nach Galizien übertragen darf.*)
Was die Gründung und finanzielle Weiterführung dieser unentbehrlichen Volkspflegeanstalten betrifft, so ist mir in Brody und in Stanislau versichert worden, daß, auf eine Anregung und Mithilfe von außen, ein Teil der nötigen Mittel auch innerhalb der Gemeinde aufgebracht werden könnte.
Daraus würde sich für die Verwaltung schon die für alle derartigen Unternehmungen wünschenswerte Gestaltung ergeben, daß sie zum Teil aus einheimischen, zum Teil aus nicht ansässigen, unparteiischen Mitgliedern zu bestehen hätte.
Was die innere technische Leitung solcher Anstalten betrifft, so muß sie außer einer berufsmäßigen Leiterin einem Lokalkomitee übertragen werden, das die Kontrolle der einzelnen Ressorts zu übernehmen bereit ist.
Die beamtete Leiterin muß natürlich eine gründliche Vorbildung besitzen. Zu ihrer Unterstützung soll man eine Anzahl schulentlassener Mädchen einstellen, die gegen einen Wochenlohn, der etwas höher zu bemessen ist, als der ortsübliche Lohn für Fabrik- und Schneiderarbeit, durch Unterweisung und Mitarbeit in die Kinderpflege eingeführt werden. An den freien Abenden wären diese jungen Mädchen noch in den nötigsten Lehrfächern und in der deutschen und polnischen Sprache weiter zu bringen und in praktischer Näharbeit zu unterweisen. Nach 1 bis 2 Jahren können sie mit einem Zeugnis versehen als (Vorschlag 2) „ausgebildete Kinderpflegerinnen“ in häusliche Stellungen eintreten, eine Kategorie von Hausbeamtinnen, für die in Galizien mit der Zeit eine immer größere Nachfrage herrschen wird.
[55] 3. Für das Waisenhaus in Brody schlage ich die Anstellung resp. Entsendung einer tüchtigen, gebildeten Frau (oder Fräulein) als Leiterin vor. Dagegen hätte sich das Waisenhaus zu verpflichten, seine weiblichen Zöglinge nicht vor dem 16. bis 17. Jahre zu entlassen und, wenn in Brody eine Anstalt für Volkskinderpflege gegründet wird, die jeweiligen ältesten Zöglinge zur Ausbildung dahin zu schicken.
Damit will ich nicht sagen, daß ich den Beruf der Kindergärtnerin oder Kinderpflegerin für Mädchen als den einzig wünschenswerten ansehe. Aber alle Mädchen sollen die Kinderpflege verstehen, damit sie im Falle ihrer Verheiratung, nach der in landesüblicher Art sehr energisch getrachtet wird, für ihren Beruf als Mütter besser vorbereitet sind, als die heutige Generation der Mütter in Galizien es ist.
Für Krakau wäre die Einrichtung einer Haushaltungsschule sehr zu wünschen; sie könnte, wenn das Waisenhaus regeneriert würde, sehr vorteilhaft mit diesem verbunden werden.
4. Sehr energisch zu befürworten ist ferner die Gründung von kleinen Erziehungsheimen, in die aber nicht mehr als 15 bis 20 Kinder verschiedenen Alters (vom 1. Jahre an, diese als unentbehrliches Lehrmittel) Aufnahme fänden. Ein solches Heim sollte alle Fehler der traditionellen Anstaltserziehung zu vermeiden suchen und, durch die Nachbildung einer großen Familie, (auch Knaben bis zum 14. Jahre wären aufzunehmen) besonders auf die Charakterbildung der Kinder einzuwirken suchen.*)
Um alle Ziele einer solchen Erziehung, die zu entwickeln mich hier zu weit führen würden, im Auge zu behalten, vermeide man Neubauten und anspruchsvolle Anstaltsgebäude. Man begnüge sich mit einem auf dem Lande, oder in sehr ländlicher Umgebung gelegenen Hause, um den einfachen Betrieb aufzunehmen. Die ältesten Zöglinge, Mädchen zwischen dem 14. bis 16. Jahre, sollen gegen einen kleinen Monatslohn für die laufende Hausarbeit im Hause bleiben können, denn in Galizien ist es tatsächlich notwendig, und oft den Eltern gegenüber Pflicht, daß die Kinder schon frühzeitig etwas verdienen.
[56] Auch an dem Erträgnis einer Geflügelzucht und des Gartenbaues, die im Erziehungsheim betrieben werden sollen, kann man die ältesten Zöglinge teilnehmen lassen; teils, um in den Mädchen Lust und Interesse für derartige Arbeiten zu erwecken, teils, damit man ihnen bei ihrem Austritt aus dem Heim eine kleine selbstverdiente Summe mitgeben kann. Der Ort, an dem ein solches Erziehungsheim gegründet werden könnte, scheint mir, bei allerdings nur oberflächlicher Beurteilung, Zloczow zu sein, wo, wie ich glaube, leicht ein Damenkomitee zu bilden ist, das nach der unter Vorschlag 1 angegebenen Art, mit einem westeuropäischen Verein gemeinsam das Unternehmen zu leiten hätte.
Ein zweites derartiges Heim wäre vielleicht in der Nähe von Krakau zu errichten, damit den Findelkindern der Osolinkaschen Anstalt die Möglichkeit einer guten jüdischen Erziehung gegeben werde. Die Krakauer Gemeinde hätte dann die Pflicht, die Gründung finanziell zu unterstützen.
Meinen, allerdings noch ungenügenden Informationen nach wären die Kosten für solche Institutionen in Galizien bedeutend geringer anzuschlagen als in Deutschland, besonders, wenn man das Prinzip sachgemäßer Einfachheit durchgehend zur Geltung kommen läßt.
Aus der Absicht, wichtige, für das ganze Land vorbildlich wirkende Kulturstätten zu gründen, ergibt sich die Notwendigkeit, über eine Anzahl tüchtiger Leiterinnen verfügen zu können.
An der Qualität der Beamten zu sparen, wäre natürlich sehr wenig sachgemäß. Das beste Menschenmaterial muß herangezogen werden, damit die ersten, vorgeschobenen Posten im Kampf gegen Unwissenheit und Unkultur ihrer Aufgabe gewachsen sind. Um das zu ermöglichen, müssen die westeuropäischen jüdischen Gemeinden etwas aus ihrer vornehmen Exklusivität heraustreten und dem Gedanken Raum geben, daß es auch ihre Pflicht ist, an der Kulturarbeit für Galizien in ihrer Weise teilzunehmen.
Man weiß in Galizien noch kaum, was dazu gehört, eine Anstalt richtig zu führen, und es gibt auch keine Stipendien, um Studien in dem angeregten Sinne zu ermöglichen.
5. Darum sollten alle gut geleiteten jüdischen Anstalten es sich zur Pflicht machen, für einige Zeit unentgeltlich je eine galizische Hospitantin zur Ausbildung aufzunehmen. Die Kosten [57] für die betreffende Anstalt wären gering, der Wert der Ausbildung für Galizien enorm.
Natürlich dürfte nicht jede Bewerberin angenommen werden; es könnte Sache der B. B.-Logen[39] sein, für wirklich empfehlenswerte und empfohlene galizische Frauen und Mädchen Vermittlungen und Vereinbarungen zur Ausbildung von Krippenschwestern, Kindergartenleiterinnen, Haushaltungslehrerinnen und Volkserzieherinnen aller Art zu übernehmen. (Über das Kapitel der Krankenpflegerinnen werde ich an anderer Stelle zu sprechen haben.) Wenn in Galizien etwa ein Jahrzehnt solche Anstalten bestanden haben werden, wird auch im Lande selbst eine Bildungsgelegenheit vorbereitet sein. Vorerst aber müssen die Lehrkräfte noch von auswärts bezogen, oder außer Landes erzogen werden. Ich glaube sogar, das letzteres das häufigere sein wird, denn deutsche Frauen und Mädchen werden sich nur schwer in der nötigen Anzahl für Galizien finden lassen, besonders da die Kenntnis der polnischen Sprache eine unerläßliche Bedingung für jede Arbeit dort ist, die nicht das Mißfallen und Mißtrauen der politischen Behörden erwecken will.
Die Erwerbs- und Berufsfrage ist die der Erziehungsfrage zunächststehende. Es bedarf nicht erst der Betonung, daß die Vorschläge, die ich ausspreche, noch sehr genau erwogen sein wollen, aber sie sind dennoch nicht rein meiner Phantasie entsprungen, sondern sie gründen sich auf Mitteilungen und Beobachtungen im Lande.
Wie ich schon an anderer Stelle berichtete, glaubt man gut organisierten kleinen Maschinenstrickereibetrieben einen guten Erfolg vorhersagen zu können, ebenso einem gut geführten Betrieb für Krawattenfabrikation. Ferner sagte man mir, daß eine Nudelfabrik ein aussichtsreiches Unternehmen wäre, ebenso fehlt es an manchen Orten an Glanzwäschereien. Auf die Möglichkeit, Posamentierarbeit einzuführen, habe ich gelegentlich der Sassower Aturosfabrikation schon hingewiesen, und ich wiederhole, daß sie sicher sehr entwicklungsfähig ist.
Den Versuch, eine Federnschmückerei einzurichten, möchte ich anregen, weil solche Betriebe viele Mädchen beschäftigen können, und die Arbeit wenig Körperkraft erfordert. Vielleicht ließe sich dieser Versuch mit der Anfertigung von Kunstblumen, von Paris aus, einführen.
Besonders vielversprechend, und auch von allgemeinen Gesichtspunkten [58] aus wichtig scheint es mir, daß die Anregung zu einer rationellen Geflügelzucht ins Land gebracht werde.
Galizien hat heute schon einen ziemlich großen Export von Eiern und Geflügel. Die Juden sind die Aufkäufer und Händler, dafür sowohl, wie für Federn. Es wird nicht schwer sein, die Händler davon zu überzeugen, daß es für sie vorteilhafter wäre, selbst Züchter zu werden. Die Geflügelzucht ist zudem ein Erwerb, an dem sich die Frauen und Kinder mit Leichtigkeit beteiligen können. Ich denke, daß man eine rationelle Geflügelzucht mit Mästerei einrichten sollte, ein Unternehmen, das jüdische Arbeiter und Arbeiterinnen beschäftigen, und sich bei guter fachmännischer Leitung nicht nur selbst erhalten, sondern auch rentabel gestalten kann. Für sehr vorteilhaft hielte ich es, wenn an diesem, sowie an allen anderen Unternehmungen die Arbeiter durch Gewinnbeteiligung interessiert würden. Das würde sie an die Arbeit, sowie an den speziellen Betrieb fesseln.
Diese erste Geflügelzuchtanstalt sollte zugleich eine Schule sein, um die ländliche jüdische Bevölkerung nach und nach in solche bäuerlichen Erwerbszweige einzuführen. Durch mündliche Erklärung sowohl, wie durch eine eigene für den Zweck im Jargon abzufassende Belehrung kann man sich bemühen, besonders die Frauen auf die Vorteile einer kleinen Geflügelzucht im Hause aufmerksam zu machen, für die die Aufstellung von Brutmaschinen mit der Zeit in Aussicht gestellt werden kann. Auf meine Erkundigung erfuhr ich, daß die zur ersten Aufzucht nötigen Tiere, zwei Hennen und ein Hahn, ungefähr 6 bis 8 Gulden kosten.
In Sassow haben sich infolge Rundfrage 12 Frauen bereit erklärt, einen Versuch mit der Geflügelzucht zu machen. Ebenso würden die Bewohner des sehr armen Jaryczow und noch vieler anderer Ortschaften glücklich sein, wenn man ihnen die Aussicht auf einen kleinen Verdienst brächte.
Von sehr vertrauenswürdiger und unterrichteter Seite ist mir gesagt worden, daß es in Österreich einen Geflügelzuchtverein gibt, der gegen einen ganz kleinen Mitgliedsbeitrag jedem Mitgliede ein Zuchtpaar Tiere guter Rasse überläßt und Anleitung zur Behandlung gibt, unter der einzigen Bedingung, daß im nächsten Jahre ein junges Paar der Nachkommen wieder an den Verein abgeliefert werde.
[59] Wenn nun die J. C. A. oder sonst ein Verein, oder Privatpersonen die Vermittlung zwischen dem Geflügelzuchtverein und einer Anzahl jüdischer[40] Dorfbewohner übernehmen wollten, dann stünde dem wichtigen Versuche, einen unter Umständen sehr einträglichen Erwerb ins Land zu bringen, nichts im Wege.
Ferner erfuhren wir, daß der Boden Ostgaliziens für den Obstbau sehr günstig wäre. Trotzdem alljährlich ausländische Käufer kommen (meist aus England), die die Ernte auf den Bäumen aufkaufen, werde wenig rationeller Obstbau betrieben. Im Zusammenhange mit der Landwirtschaftsschule von Slobotka lesnia ließe sich möglicherweise der Obst- und Gartenbau fördern, und die Verwertung zu Backobst und Konserven u. s. w. könnte in Betrieben erfolgen, in denen, wenigstens in den Sommermonaten, viele Mädchen und Frauen Arbeit fänden.
Ich glaube, daß durch ein fortgesetztes Vertiefen in die Landesverhältnisse noch manche Arbeits- und Erwerbsmöglichkeit für die jüdische Bevölkerung geschaffen werden könnte.
Ein hervorragend wichtiger Beruf für Frauen und Mädchen, der ihnen in der ganzen Welt bereitwilligst eingeräumt wird, ist der Beruf der Krankenpflegerin. Für diesen fanden wir in Galizien, und das ist bezeichnend für den Tiefstand der Kultur, in allen Schichten der Bevölkerung das allergeringste Verständnis. Hier glaube ich, daß die B.B.Logen rasch und energisch eintreten müssen; um einerseits in Deutschland und England die Bereitwilligkeit der Krankenpflegerinnen-Vereine zur Ausbildung von Pflegerinnen für und aus Galizien zu erwirken, und andererseits Reisen und Studienstipendien für diesen Zweck zu bewilligen. Wenn man in Galizien erst im Hospital, in der Armenpflege und in der Privatpflege erfahren hat, was eine geschulte, gebildete Pflegerin bedeutet, dann werden sich auch nach und nach immer mehr intelligente Elemente für diesen vornehmsten aller Berufe finden. Mein nächster Vorschlag, der dahin geht, die Armenkrankenpflege etwas menschenwürdiger zu gestalten, wird auch notwendig Einfluß darauf haben, zu zeigen, daß eine gute Krankenpflegerin zu den wichtigsten und wertvollsten Beamten der Gemeinde gehören kann.
Da zu einer umfassenden Umgestaltung der Spitäler und Siechenhäuser in Galizien so viel Mittel und Verständnis gehören [60] würden, wie sie das Land in der nächsten Zeit nicht aufzubringen im stande ist, schlage ich vor, an Stelle dieser viel zu teueren Spitalpflege eine ausgedehnte ambulatorische Behandlung in Verbindung mit armenärztlicher und häuslicher Pflege treten zu lassen.
Ich nehme z. B. an, irgend eine Gemeinde kann aus Friedhofsgeldern, Fleischsteuern, den Einnahmen des Bades u. s. w. etwa 6000 Gulden für Spitalzwecke ausgeben. Dafür ist alles schlecht und ungenügend, und nur wenige Kranke werden die Wohltat dieser ungenügenden Pflege genießen, denn an dem Löffel der Administration, an dem Haus, dem Inventar, den Hilfsbeamten u. s. w. wird das meiste Geld hängen bleiben. Vorteilhafter wäre es, möglichst in der Nähe des Gemeindebades (um die Benutzung dieser Einrichtung leicht anordnen zu können) eine den modernen Ansprüchen an Vollständigkeit und Reinlichkeit genügende Ambulanz einzurichten. In derselben amtiert in den Vormittagsstunden ein von der Gemeinde gut bezahlter Arzt mit einer von der Gemeinde gut bezahlten Pflegerin. Beide haben in den Nachmittagsstunden Armenpraxis, resp. Armenpflege zu besorgen, für welche ihnen gleichfalls auf Gemeindekosten ein Depot an Wäsche, Bettwäsche, Bettzeug, Verbandsutensilien, Medikamenten und Anweisungen auf Nahrungsmittel zur Verfügung stehen. Abzüglich der Gehälter und der Miete kann sicher ¼ bis ⅓ des verfügbaren Geldes für derartige Ausgaben verwendet werden.
Bei besonders schweren oder operativen Fällen und bei ansteckenden Krankheiten (Blattern und Typhus), die nicht in häuslicher Pflege bleiben dürfen, haben Armenarzt und Armenpflegerin die Pflicht, die Übertragung des Kranken in das nächste christliche Hospital zu veranlassen und für rituelle Verköstigung zu sorgen.
Auf diese Weise kämen die Geldmittel der Gemeinde mit sehr geringen Verwaltungskosten wieder der Gemeinde zu Gute, und die Ambulanz wäre eine Station, von der aus Anleitung, Aufklärung und Hilfe in jeder Form direkt in die Bevölkerung getragen würde.
Wenn zwei nicht große Gemeinden, die auch nicht weit von einander gelegen sind, sich mit je drei Pflegetagen der Woche begnügen wollen, können sie auch Arzt und Pflegerin gemeinsam anstellen und sie werden ihren Gemeindemitgliedern immer noch eine reinlichere und bessere Pflege und kräftigere Beihilfe in Krankheitsfällen [61] zuteil werden lassen, als die wenigen Fälle gefürchteter Spitalpflege für die Gemeinde bisher bedeuten.
Durch den leichten Verkehr mit dem Arzt und die Bereitwilligkeit der Pflegerin wird manches Übel erkannt werden und zur Behandlung kommen, das sonst vielleicht erst zur Kenntnis des Arztes käme, wenn es zu spät ist. Besonders in der Kinderpflege könnte prophylaktisch viel geschehen. Eine derartige Krankenpflege wäre auch schon für solche Gemeinden erreichbar, die nicht daran denken könnten, ein Spital zu erbauen und zu erhalten. Abgesehen von dem praktischen Werte, den Ersparnissen und verminderten Verwaltungskosten – und Verwaltungssünden bei einer solchen Einrichtung, ist der moralische Einfluß, der von einem solchen Armenarzte und einer solchen Armenpflegerin, die das Vertrauen des Volkes genießen, in die Familien getragen werden kann, ein unschätzbarer.
Von den sittigenden und erziehlichen Einflüssen solcher Kulturbeamten, Volkspfleger im umfassendsten Sinne, steht das Höchste zu erwarten.
Was immer man für die Verbesserung der Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien vorschlagen und beginnen möge, es bedarf zu dem Gelingen des Planes eines vorbereitenden Verständnisses im Volke selbst. Dieses ist nur auf dem Wege der Aufklärung und allgemeinen Bildung zu erreichen, durch die Verbreitung von gesundem, kräftigem, freiem, nicht tendenziösem Lese- und Lehrstoff, an dem es fast vollständig mangelt.
Ich schlage darum vor, eine Zentralstelle für Volksbibliotheken und Volksbelehrung einzurichten.
Ein besonderer Beamter, Volksbibliothekar, von Hilfsarbeitern unterstützt, hätte von dieser Zentralstelle aus Bücher, Zeitschriften und Zeitungen nach den kleinen und kleinsten Orten Galiziens zu versenden, wo sie leihweise ausgegeben würden. Die ersten dieser Leihstellen werden voraussichtlich die Baron Hirsch-Schulen sein. Ich bezweifle nicht, daß die Lehrer mit Freude die Mühe des Ausgebens und der Rücknahme übernehmen werden. Hat doch jeder einzelne Schulleiter mir gesagt, daß ungeachtet einer daraus ihnen erwachsenden Mühewaltung Leiter und Lehrer gerne alles unterstützen würden, was dem Volke an Bildungsmitteln und Erwerbsgelegenheiten geboten würde. An Orten, wo keine Schulen [62] sind, und das sind vielleicht die wichtigsten, wird man andere Personen – Männer oder Frauen – suchen müssen und finden können, die das Amt eines „Subbibliothekars“ gerne übernehmen.
In den Baron Hirsch-Schulen könnte auch am Samstag und Sonntag ein Raum als Lesezimmer angewiesen werden. Bei dem ausgesprochenen Bildungsbedürfnis der jüdischen Jugend können diese kleinen Anfänge von Volksbibliotheken das beste Gegengewicht gegen den Straßen-„Korso“ am Samstagnachmittag werden.
Eine bedeutendere Ersparnis, vielleicht sogar die Möglichkeit einer baldigen Gründung dieser Zentralstelle für Volksbibliotheken kann dadurch erreicht werden, daß Interessenten für dieselben durch Sammelstellen in Deutschland Zeitschriften und Bücher an eine Zentralstelle in Galizien schicken, von wo aus die Organisierung der Versendung nach den verschiedenen Orten in nicht zu ferner Zeit beginnen könnte.
Selbstverständlich müssen es gute Bücher, vollständige Jahrgänge von Zeitschriften und regelmäßige Zeitungssendungen und spezielle Abonnements sein. Redaktionen werden sich auf Ersuchen gerne bereit finden, Gratisexemplare zu liefern. Aber die Idee, auf gute Manier seine Makulatur abzustoßen, muß von vornherein ausgeschlossen bleiben.
Der Beamte der Zentralstelle muß ein mit großer Vorsicht gewählter, taktvoller, gebildeter Mann sein; er hat eine sehr verantwortungsvolle Stelle, da er kontrolliert und bestimmt, welche geistige Nahrung dem Volke zugeführt wird. Er muß Kataloge anlegen, registrieren, was die Nebenstellen bekommen und verlangen, und stets darauf bedacht sein, im Wechsel und Austausch Anregung und Interesse in die Bücherverleihungen zu bringen.
Von der Zentralstelle sollen auch Wanderredner ausgesucht werden, damit durch Vorträge populärwissenschaftlichen Inhalts geistiges Leben nach den kleinen Ortschaften gebracht werde.
Unterstützt und lokal ausgebaut kann das Unternehmen auch durch die zionistischen Vereine werden, da ja an vielen Orten schon Sammelpunkte der strebsameren Elemente sich gebildet haben.
Auch diesen Gedanken kann ich hier nur in Form einer Anregung bringen, deren Ausbau und Details sehr sorgfältig erwogen und ausgearbeitet werden müßte. Die galizische Jugend, die intelligent und bildungsfähig ist, wird sie mit Begeisterung aufnehmen, [63] und ihren westeuropäischen Freunden empfehle ich sie als einen Weg, auf dem mit der Zeit außerordentlich viel Gutes vorbereitet und erreicht werden kann.
Ein weiterer Vorschlag, dessen Ausführung zu dem gehört, was ich für Galizien empfehlen möchte, ist die Abfassung und Verbreitung eines Flugblattes, das Aufklärung über die hygienische Seite der Sittlichkeitsfrage bis tief in die entlegensten Dörfer trägt.
Der Text muß klar und eindringlich sprechen, muß die Folgen unsittlichen Lebenswandels, wie er sich für die Gesundheit des Einzelnen, sowie in seinem Einfluß auf die Familien ergibt, auseinandersetzen, – kurz, es muß all das Elend geschildert werden, dessen Verschweigen und Verheimlichen so viel Unheil bringt. Dabei ist es nötig, daß das Flugblatt sich gleicherweise an die männliche wie an die weibliche Jugend wende, damit die Auffassung der einseitigen Moral, der einseitigen Verantwortlichkeit und der einseitigen Schädigung, unter der die Gesellschaft heute noch leidet, nicht befestigt, sondern berichtigt werde. Der Text muß mindestens zugleich in Jargon, deutsch, polnisch und russisch, vielleicht auch holländisch und englisch erscheinen. Als Stellen, ihn zur Verbreitung gelangen zu lassen, empfehle ich vorerst die Zahlstellen der J. C. A.-Leihkassen, Volksküchen, wo solche bestehen, und die Vereine. Besonders wertvoll wäre es aber, wenn man die Erlaubnis erwirken könnte, das Flugblatt unter den Zwischendeckpassagieren der großen Dampfer und der Auswanderer-Schiffe zu verteilen – ohne Unterschied der Konfession der Reisenden.
Ich bin auch sonst noch in der Lage, Adressen von Männern und Frauen in Galizien anzugeben, die sich für die größtmöglichste Verbreitung eines Flugblattes bemühen würden.
Auch die freundschaftliche Warnung verlangt, wie das Flugblatt, eine mehrsprachige Auflage, da man eine viel größere Sammlung von Adressenangaben, in und außerhalb Galiziens, beifügen muß, und sie kann und soll gerade so zur Verteilung kommen, wie es für das Flugblatt wünschenswert ist.
Im Anschluß an die „Warnung“ muß ich hier an die Einführung der Bahnhofmission erinnern, die von katholischen wie protestantischen Frauenvereinen mit gutem Erfolg geübt wird. Sie kann jüdischen Vereinen nur sehr empfohlen werden.
[64] Und damit komme ich nun zu meinem letzten und, wie ich glaube, dem wichtigsten meiner Vorschläge, der sich auf den eigentlichen Mädchenhandel bezieht, indem er sich mit der Auswanderung beschäftigt.
Ich weiß, daß es Personen und Vereine gibt, die den Standpunkt vertreten, daß zur Unterstützung der Auswanderung nichts geschehen dürfe. Diese Ansicht wird wohl aus gewissen Gründen zu erklären sein, und wenn damit die Einwanderung in andere Länder einfach unterbliebe, – denn die Furcht vor der Auswanderung in Galizien ist immer die Furcht vor der Einwanderung in ein bestimmtes Kulturland, – so hätte ein systematisches Nichtbeachten und Unterdrücken der vorhandenen Auswandererlust eine einseitige Berechtigung. Aber die Auswanderung kann nach Lage der Dinge nicht zurückgehalten werden. Sie wird auch tatsächlich nicht zurückgehalten, und deshalb ist es unrichtig, diesen sehr wichtigen Faktor von Amts wegen und von Vereins wegen zu ignorieren, sich nicht mit ihm zu beschäftigen.
Nur weil man sich um die Auswanderung nicht bekümmern will, konnte sie die Basis werden, aus der der Mädchenhandel sich so unheilvoll entwickeln konnte.
Nur wer weiß, unter welch unsinnigen Vorbedingungen und Wegen, mit welch’ ungeeigneten Mitteln, mit welch’ phantastischen Plänen und unsicheren Aussichten die Mädchen aus einem galizischen Dorfe die Reise nach Amerika unternehmen, kann die Gefahr begreifen, in die sie sich begeben, sobald der begreifliche Wunsch erwacht ist, ihre Lage zu verbessern.
Um alle diese abenteuerlichen Kombinationen mit ihren Gefahren auszuscheiden, schlage ich vor, versuchsweise erst an einem Orte das einzurichten, was ich Auswandererschulen oder Auswandererbureaux nennen möchte.
An einem nicht zu kleinen Orte, in einem bescheidenen Hause sammle man eine Anzahl von Mädchen, die die Absicht haben, auszuwandern. Ihr Aufenthalt dort, der nach meiner ungefähren Schätzung auf 4 bis 6 Monate anberaumt sein muß, muß ganz systematisch der Vorbereitung für die Reise und den neuen Verhältnissen, denen die Mädchen entgegengehen, gewidmet sein.
Die Mädchen müssen in erster Linie schreiben und lesen lernen, sie müssen auf ihren Gesundheitszustand beobachtet und in den ersten [65] Begriffen der Reinlichkeit und der eigenen Körperpflege unterwiesen werden; sie müssen etwas Haus- und Näharbeit lernen, und während der zweiten Hälfte ihres Aufenthaltes in dem Internat wird die Erlernung der englischen und der deutschen Sprache das wichtigste Lehrfach bilden.
Dies zeichnet in den gröbsten Umrissen die Aufgabe einer beamteten Leiterin und Lehrerin in der Anstalt, die leicht Zeit und Gelegenheit finden wird, mit ihren Pflegebefohlenen über die allgemeinen Seiten, die Interessen und Gefahren der Auswanderung zu sprechen, und sie liebevoll zu beraten.
Aber damit ist die Tätigkeit der Institution, wie sie mir vorschwebt, noch lange nicht erschöpft.
Gerade so wichtig, wie die erzieherische Vorbereitung der Mädchen, wird die Pflicht der Anstalt sein, alle Familienverhältnisse der Auswanderin in Galizien sowohl, wie deren etwaigen Angehörigen in anderen Ländern oder Erdteilen festzustellen.
Da es sehr oft vorkommt, daß Mädchen blindlings Anverwandte im Auslande aufsuchen wollen, die verzogen, verstorben, verschollen oder verdorben sind, so ist es sehr nötig, in der Auswandererschule eine Geschäftsstelle zu gewinnen, die, bevor ein Mädchen in die weite Welt läuft, auf Korrespondenzwegen alles in Erfahrung bringt, was für die Reisende zu wissen nötig ist.
Auch als Auskunftsstelle für jede Anfrage, die schriftlich oder mündlich an das Bureau gelangt, soll die Station dem Volke dienen. Um all dem genügen zu können, wird man Beziehungen zu ausländischen und überseeischen Gemeinden, Behörden und Privatpersonen anknüpfen, Verbindungen mit den verschiedensten Arbeitsvermittlungsstellen eingehen müssen, wodurch man mit der Zeit einen günstigen Einfluß auf die Berufswahl der Mädchen gewinnen wird. Und wenn während des Aufenthalts von 4 bis 6 Monaten für jeden Fall individuell alles vorsichtig eingeleitet und vorbereitet ist, die Mittel zur Reise nachgewiesen sind (um den Bettel zu verhüten), dann soll die Leitung der Auswandererstation in ihre letzte Funktion eintreten, indem sie kleine Gruppen von Mädchen bildet, die sie unter sicherem Geleit (mit weiblichen Vertrauenspersonen von Ort zu Ort) bis an ihr Reiseziel führen läßt.
Die Aufnahme in die Auswandererschule soll, wenn äußerst [66] tunlich, nicht ganz unentgeltlich sein; vielleicht ließe es sich ermöglichen, eine Art Ratenzahlung einzuführen, die einer Familie die Auswanderung einer Tochter, oder einem alleinstehenden Mädchen die Reise in eine neue fremde Weit unter gesicherten Bedingungen in Aussicht stellte.
Aber all das fällt in das Gebiet der Ausführung des Planes, die nur nach sorgfältigster Prüfung und Erwägung aller Details in Angriff genommen werden kann.
Während meine erstangeführten Vorschläge solche sind, die auf allgemeinen Kulturwegen die Lage der galizischen Bevölkerung indirekt zu beeinflussen geeignet sind, werden sich diese Auswandererschulen (vielleicht vier für das Land, in Verbindung und unter gemeinsamer Leitung stehend) zu einer direkten, sehr wirksamen Einrichtung zur Bekämpfung des Mädchenhandels entwickeln. Darum bitte ich, das Studium dieser Idee, die noch nirgends ausgeführt ist, in erster Reihe in Angriff zu nehmen.
Mit diesem Vorschlage muß ich meinen Bericht schließen.
Zwei Dinge hoffe ich durch denselben zum Ausdruck gebracht zu haben:
- erstens, daß es notwendig ist, eine Hilfsaktion für Galizien einzuleiten, und
- zweitens, daß, wenn eine Hilfsaktion, mit Umsicht und Verständnis geleitet, ins Leben tritt, sie nach jeder Richtung den größten Erfolg verspricht.
Daß wir selbst die Früchte der Arbeit, deren Notwendigkeit wir erkennen, nicht in ihrer Reife sehen werden, enthebt uns nicht der sozialen Pflicht, sie zu beginnen.
In der festen Überzeugung, daß aus dem Lande Galizien, speziell aus seiner jüdischen Bevölkerung Schätze kostbaren Menschentums herauszuarbeiten sind, sage ich wie Bürgers[41] sterbender Winzer zu seinen Söhnen: „Grabt nur!“
[67]
Die Reise, auf der ich mich mit Fräulein Pappenheim vom 28. April bis zum 1. Juni 1903 in Galizien befand, hatte zum Zwecke, Informationen über den jüdischen Mädchenhandel und dessen Bekämpfung einzuziehen. Wir haben uns aber bald davon überzeugt, daß man diese Frage ohne Berücksichtigung der allgemeinen Lage der Juden in Galizien nicht behandeln kann und haben daher unsere Aufmerksamkeit der Betrachtung der allgemeinen[42] Zustände zugewendet. In den Städten und Orten, die ich aufgesucht habe (Tarnow, Dombrowa,[43] Zabno,[44] Rzeszow,[45] Dukla, Lemberg, Jariczow,[46] Brody, Sassow, Zloczow, Tarnapol,[47] Czortkow,[48] Stanislau, Czerniejow, Kolomea, Slobotka lesnia,[49] Obertin,[50] Zaleszczyky,[51] Sadagora und Borislaw[52]), habe ich mir daher Mühe gegeben, jene Kreise der jüdischen Bevölkerung kennen zu lernen, in denen ich das Charakteristische des wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Niveaus der galizischen Juden finden zu können glaubte.
Durch die Beobachtungen habe ich die festeste Überzeugung gewonnen, daß der Mädchenhandel in Galizien keinesfalls als eine isolierte Erscheinung behandelt werden darf. Vielmehr wurzelt seine Ursache in der allgemeinen wirtschaftlichen und geistigen Armut auf der einen Seite und in der Unsicherheit der Existenz, die zu einer fortwährenden Fluktuation der jüdischen Bevölkerung von Ort zu Ort und von Staat zu Staat führt, auf der anderen Seite.
Daher richten sich die praktischen Vorschläge, die ich an den „Israelitischen Hilfsverein“ zum Zwecke der Bekämpfung des Mädchenhandels zu machen habe, einerseits auf die Abhilfe der wirtschaftlichen und geistigen Not der Juden, andererseits auf die Regulierung der jüdischen Emigration aus Galizien.
[68] Was zunächst die wirtschaftliche Armut der galizischen Juden anbelangt, so hängt diese nicht nur mit der allgemeinen Landesarmut, sondern auch damit zusammen, daß die Juden Galiziens ihrem Erwerbe nur in bestimmten Berufen nachgehen können. Am meisten kommt dabei die Tatsache zur Geltung, daß während 83,12 Prozent (3 195 144 Menschen der ganzen erwerbstreibenden Bevölkerung Galiziens) in der Landwirtschaft beschäftigt sind, die Juden, die 10,66 Prozent der gesamten Bevölkerung Galiziens bilden, sich nur mit einem minimalem Teil an diesem Haupterwerbszweige des Landes beteiligen. Von den 7 575 000 Hektar des in Galizien bebauten Landes besitzen die Juden 350 000 Hektar oder 4,51 Prozent des Gesamtareals. Diese Zahl reduziert sich aber auf eine ganz verschwindende Größe, wenn man, anstatt den Umfang des in den Händen der Juden befindlichen Landareals auf das Gesamtareal des bebauten Grund und Bodens, die Zahl der jüdischen auf die Zahl der christlichen Landbesitzer in Galizien bezieht.
Dann sehen wir, daß, während die 7 575 000 Hektar des gesamten Bodenareals Galiziens 1 811 787 Eigentümern gehören, die 350 000 Hektar des jüdischen Grundbesitzes nur in 650 Besitztümer zerfallen. Das heißt also, der Prozentsatz der jüdischen Landeigentümer beträgt 0,033 Prozent oder 0,33 pro Mille.
Während im Durchschnitt auf einen Landbesitzer in Galizien 4,1 Hektar kommt, besitzt jeder jüdische Landbesitzer im Durchschnitt 538,4 Hektar.
Daraus ersieht man, daß, während 61 Prozent des gesamten bebauten Landareals in Galizien im Besitze von Bauern sind, es sich bei den jüdischen Grundstücken, mit einer ganz kleinen Ausnahme, nur um Großgrundbesitz handelt. (Art. Galicya in Wielka Encyklopedya partzechna illustrowona B. 23/24, Warschau 1899.)
Der allgemeine Schluß, den man aus diesen Ziffern ziehen kann, ist, daß von dem Rechte des Landankaufs, das für die Juden in Galizien erst seit 1840 existiert, nur die reichen Juden Gebrauch gemacht haben, während das Volk noch immer dem Ackerbau fern steht. Diese zuerst ins Auge fallende Tatsache wird sehr leicht erklärlich, wenn man sie geschichtlich zu beleuchten sucht.
Als nämlich 1840 die Juden in Galizien das Recht erhielten, Land anzukaufen war das ganze Landareal schon im Besitze der einheimischen Bevölkerung; um dort einen landwirtschaftlichen [69] Betrieb anzufangen mußten die Juden von gelegentlichen Verkäufen Gebrauch machen. Dazu gehörte dreierlei: Kapital, Verständnis für die Landwirtschaft und die Gewohnheit der physischen Arbeit. Dies alles war nur dem Kapitalisten zugänglich, der das Land nicht nur kaufen, sondern es auch durch Ökonomen und Arbeiter bewirtschaften, resp. bebauen zu lassen im stande war. Der arme Jude aber, der kein Kapital zum Landankauf besaß, der weder eine Ahnung von dem landwirtschaftlichen Betrieb hatte, noch an schwere körperliche Arbeit gewöhnt war, konnte unmöglich, ohne jede Hilfe von außen, zur Landwirtschaft. übergehen.
Dennoch findet man hier und da in Galizien kleinere Ansiedelungen von jüdischen Bauern. Eine solche habe ich in Czerniejow bei Stanislau kennen gelernt, wo sich seinerzeit eine ganze jüdische Kolonie niedergelassen hat, über deren Entstehen ich leider nichts erfahren konnte.
Es handelt sich dabei um Kleinbetriebe, an denen die ganze Familie, außer den kleinen Kindern und Greisen mitarbeitet. Der Betrieb entspricht sowohl der Größe als auch der Bewirtschaftung nach dem allgemeinen Niveau der anderen bäuerlichen Güter Galiziens. Es sind Parzellenbetriebe von 5 bis 6 Joch (2½ bis 3 Hektar) mit ganz primitiver Wirtschaftsweise.
Die Bevölkerung besteht zumeist aus Analphabeten. Die jüdische Jugend wächst ohne Schulbildung heran, da die allgemeine Czerniejower Dorfschule den religiösen Ansprüchen der Juden nicht genügt und daher nur von wenigen jüdischen Knaben besucht wird. Dieser Mangel an Schulbildung läßt sich natürlich auch an der Wirtschaftsweise erkennen. Abhilfe ließe sich schaffen durch Gründung einer, wenn auch nur einklassigen Volksschule durch die Baron Hirsch-Stiftung, die, wie viele andere Baron Hirsch-Schulen, mit Abendklassen für Erwachsene verbunden sein könnte.
Die Leiter und Lehrer dieser Schulen müßten sich die elementaren landwirtschaftlichen Kenntnisse aneignen, die durch eine eigens dazu eingerichtete populär-landwirtschaftliche Schulbibliothek ergänzt werden könnten. Eine solche Bildungsgelegenheit würde den ganzen Stand der Czerniejower Bauern heben.
Der Pflege der landwirtschaftlichen Nebenbetriebe wie Gartenbau, Milchwirtschaft, Vieh- und Geflügelzucht wäre besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden.
[70] Da die einzelnen Betriebe so klein sind, daß von dem Erträgnis eine Familie kaum leben kann, so handelt es sich darum, dem jüdischen Bauer solche Nebenbetriebe zu verschaffen, die ihn von seiner Landarbeit nicht nur nicht ablenken, sondern ihn mit seiner Scholle noch inniger verknüpfen. An dieser Stelle soll die Bedeutung der Einführung von Gartenbauunterricht an den Volksschulen erwähnt werden. Ein solches Unternehmen bedarf keines besonderen Aufwandes an Geld und Kraft, wenn nur die Volksschule etwas Land zur Einrichtung einer Baumschule hat, und der Schulleiter Unternehmungslust genug zu dessen Bewirtschaftung besitzt. Solche Baumschulen werden gewöhnlich so angelegt, daß ihr Haupterträgnis dem Lehrer zufällt, während ein Teil der kultivierten Pflanzen unter die Schüler verteilt wird, damit sie sie in den Gärten ihrer Eltern anpflanzen.
Auf diese Weise würde es erreicht, daß die Schüler den Gartenbau nicht nur erlernen, sondern daß sie das Gelernte auch unmittelbar in die Praxis umsetzen können. Andererseits gewähren diese Schulgärten dem Schulleiter eine Nebeneinnahme, die nach der Berechnung eines Fachmannes, der für solche Schulgärten eintritt, (Schimanowsky : Der Garten an der Volksschule, russ.) 120 bis 400 Mark jährlich beträgt
Solche Schulgärten brauchen nicht nur bei Dorfschulen angelegt zu werden: in Ostgalizien, wo der Obstbau und -Handel stark entwickelt ist, könnten sie den Juden einen ganz neuen Erwerbszweig erschließen. Es schienen mir die Baron Hirsch-Schulen in den kleinen ostgalizischen Städten besonders gute Ausgangspunkte für solche Unternehmungen zu sein: so die Schulen in Obertyn und Zaleszczyky, wo, soviel ich weiß, kleine Gartenanlagen vorhanden sind, die jedoch zum Gartenbau-Unterricht nicht verwendet werden.
Wie der Slöjdunterricht[53] fürs Handwerk, so haben die Schulgärten für die Landwirtschaft den Zweck, den Kindern schon auf der Schulbank Verständnis und Liebe für ihre Arbeit beizubringen. Wie aber der Slöjdunterricht ohne eine Organisation des Handwerks nur einen erzieherischen und keinen wirtschaftlichen Zweck hat, so kann die Einführung des Gartenbau-Unterrichtes in den Baron Hirsch-Schulen für die Entwicklung der jüdischen Landwirtschaft keinen Wert gewinnen, bevor es eine jüdische Bauernbevölkerung in Galizien gibt. Sobald man es sich zur Aufgabe macht, [71] den Übergang eines Teils der jüdischen Bevölkerung Galiziens zur Landwirtschaft herbeizuführen muß man folgendes festhalten: Der Übergang der Juden zur Landwirtschaft kann an und für sich nicht als das Ideal dargestellt werden, wie es viele jüdische Philanthropen gern tun.
Das Czerniejower Beispiel beweist, daß die Landwirtschaft die Juden von ihrer wirtschaftlichen und geistigen Not nicht befreit, solange der Grundbesitz zu klein und die Bildungsmittel zu spärlich sind. Aber die christliche Bevölkerung lebt in Galizien geradeso schlecht und oft noch schlechter, als die Czerniejower Bauern. Wie die Statistik beweist, ist man bei dem bestehenden Parzellenbetriebe allgemein darauf angewiesen, sich einen Nebenerwerb in der Hausindustrie oder in der Stadt zu suchen.
Es wird von galizischen Sozialpolitikern gewünscht, daß der Fortschritt der Industrie, der den Abfluß der bäuerlichen Bevölkerung nach den Städten befördert, die Zahl der bäuerlichen Betriebe reduziere und damit den Umfang vergrößere.
Es ist für den gesamten Fortschritt Galiziens zu wünschen, daß die frei werdenden bäuerlichen Stellen zur Vergrößerung der übrigen Kleinbetriebe verwendet und nicht wieder selbständiger Bewirtschaftung zugeführt werden. Die Ansiedlung von Juden auf diesen freigewordenen Stellen wäre daher grundverfehlt.
Man muß nach anderen Mitteln suchen, um die Juden Galiziens der Landwirtschaft zuzuführen. Diese Mittel finden sich, wenn man die starke hypothekarische Belastung der landwirtschaftlichen Groß- und Mittelbetriebe in Galizien ins Auge faßt.
Die Summe aller landwirtschaftlichen Hypotheken beträgt in Galizien 800 Millionen Kronen oder 105 Kronen pro Hektar. Davon entfallen 560 Millionen oder 217 Kronen pro Hektar auf die Groß- und Mittelbetriebe und 240 Millionen oder 50 Kronen pro Hektar auf die bäuerlichen Betriebe.
Von den nicht kleinbäuerlichen Betrieben sind die Mittelbetriebe, die 18 Prozent aller nicht bäuerlichen Betriebe ausmachen, besonders stark belastet, so daß man überall die Tendenz der Partierung[54] der Mittelbetriebe und den Übergang zu kleinbäuerlichen Wirtschaften findet.*)
[72] Von dieser Tendenz könnten die jüdischen Philanthropen durch Gründung von jüdischen Landankaufsgenossenschaften und Bauernbanken Gebrauch machen. Zweck dieser Genossenschaften wäre es, größere Güter anzukaufen und sie in Bauernwirtschaften von 20 bis 25 Hektar einzuteilen, während die Bauernbanken den Juden durch Kreditgewährung und mäßige Amortisation den Ankauf solcher Wirtschaften zu ermöglichen hätten.
Bis diese Banken in Tätigkeit treten, muß eine gründliche Vorbereitung der Juden zum landwirtschaftlichen Berufe angebahnt werden.
Diese Vorbereitung hat die Jewish[55] Colonisation Association (J. C. A.) übernommen, indem sie im Jahre 1900 bei Kolomea ein Gut Slobodka lesnia angekauft hat, um eine jüdische landwirtschaftliche Schule zu gründen. 25 junge Leute im Alter von 14 bis 16 Jahren erhalten dort landwirtschaftlichen Unterricht.
Bei dem Besuche dieser Schule habe ich die Überzeugung gewonnen, daß sie alle Bedingungen erfüllt, die zur Heranziehung von gesunden, intelligenten und arbeitsfähigen Bauern führen. Jedoch wird das ganze Unternehmen einen einseitig erzieherischen Charakter behalten, wenn es nicht mit einer Bauernbank verbunden wird.
Die Absolventen dieser Schule können nur dann den Grundstock einer gesunden jüdischen Bauernbevölkerung bilden, wenn die J. C. A. für sie den den Landankauf besorgen und das Land gegen Amortisationszahlung in Betrieben von 20 bis 25 Hektar unter sie verteilen würde.
Damit würde die J. C. A. die Möglichkeit gewinnen, die jungen Ansiedler zu beaufsichtigen, zu kontrollieren und anzuleiten.
Das Aufgehen eines Teiles der Juden in der Landwirtschaft wäre nach jeder Hinsicht ersprießlich. Einerseits würde ein neues kräftiges und arbeitsfähiges, ökonomisches Element unter den Juden geschaffen, andererseits durch Abfluß eines Teiles der jüdischen Bevölkerung aus der Stadt die Existenzmöglichkeit der in der Stadt verbleibenden erleichtert. Endlich würde die unsichere, wirtschaftliche Lage eines Teiles der Juden beseitigt, da eine gesunde, landwirtschaftliche Bevölkerung seßhaft bleibt und selten Neigung zur Auswanderung zeigt.
[73] Wie solche Erscheinungen auf den Mädchenhandel zurückwirken müssen, ist klar. In einer seßhaften, wohlhabenden, arbeitsfähigen und intelligenten Bevölkerung gibt es für den Mädchenhandel keinen Raum.
Es muß aber wieder und wieder betont werden, daß diese Resultate bei proletarischen Bauernbetrieben nie erzielt werden: dort, wo alle Mitglieder der Familie auf Nebenerwerb ausgehen, ziehen auch die Mädchen in die Städte, um Arbeit zu suchen, und unter ungewohnten Lebensverhältnissen, von ihrer Familie getrennt und den schwersten Existenzkampf führend, werden sie leicht ein Opfer des Mädchenhandels und der Prostitution.
In der Stadt beschäftigen sich die galizischen Juden zum größten Teil mit dem Handel. Wenn man von kaufmännisch-kapitalistisch betriebenen Geschäften absieht, bleibt der Masse der jüdischen Händler nur der Kleinhandel übrig, der infolge mangelhafter Kreditquellen sehr unregelmäßig geführt wird. Der Wucher schleicht sich unter allen Deckmäntelchen in den Betrieb des jüdischen Kleinhändlers ein und macht ihn von dem Wucherer gänzlich abhängig. Da der Wucher zumeist mit anderen Geschäften verbunden ist, läßt er sich schwer aufdecken.
So habe ich in einer kleinen galizischen Stadt eine Form des Wuchers kennen gelernt, die mir bis dahin noch gänzlich unbekannt war: nämlich einen Wucher, der mit Juwelengeschäften verbunden ist. Wer von einem Juwelenhändler Geld leihen will, muß zunächst aus seinem Geschäfte einen Gegenstand kaufen, wobei die Preise von dem Juwelenhändler bestimmt werden. Dieser Handel bleibt aber ein nomineller. Da der angebliche Käufer nicht kaufen, sondern leihen will, muß er über den Kauf einen Wechsel ausstellen und den Gegenstand gleichzeitig in demselben Geschäfte hinterlegen, worüber er einen Pfandschein erhält.
Auf dem Papiere wird ihm nur der gesetzliche Zins berechnet, wozu noch die unkontrollierbare Rechnung für Lagergeld hinzukommt: tatsächlich hat aber der Schuldner außerdem noch doppelt soviel zu bezahlen als er bekommen hat, denn er hat nicht nur das gegen ein Pfand entliehene Geld, sondern auch den Preis des Pfandes selbst seinem Gläubiger zu bezahlen. Zwar bleibt er nach Abzahlung der ganzen Schuld im Besitze eines Schmuckgegenstandes, aber dieser ist für ihn überflüssig, und er muß ihn an [74] seinen Gläubiger – natürlich für einen Spottpreis – verkaufen. Geschäfte dieser Art wickeln sich häufig ab und ruinieren eine Anzahl von jüdischen Händlern, die, da sie sich ihr ganzes Leben lang nur dem Handel gewidmet haben, ohne Hilfe von außen für jeden anderen Beruf unfähig sind.
Diesem Übel suchen die Leihkassen des J. C. A. zu begegnen, indem sie den Juden billigen Kredit (6 %) gewähren. Überall wird von der Ehrlichkeit und Pünktlichkeit der Schuldner berichtet, die meistens kleine jüdische Handwerker und Händler sind.
Leider gibt es nach dem Berichte der J. C. A. vom Jahre 1903 in ganz Galizien nur sechs solche Leihkassen, deren Vermehrung dringend zu wünschen wäre.
Die Schaffung billiger Kreditmittel würde dazu beitragen, die jüdischen Händler den Ränken der Wucherer zu entreißen, und der jüdische Handel würde dadurch einen sichereren Charakter erhalten, eine Besserung, die auf die ganze Lebensweise der jüdischen Händlerklasse günstig einwirken würde.
Neben dem Handel finden die Juden in den Städten Galiziens in Industrie und Handwerksbetrieben Beschäftigung. Hier sind die Juden sehr stark vertreten, sofern sie nicht von antisemitischen Betriebsleitern zurückgedrängt werden.
Dieser Punkt darf nicht unberücksichtigt bleiben; so erfuhr ich von einer Sassower Papierfabrik, aus der alle jüdischen Arbeiter entlassen wurden, nachdem der Fabrikbesitzer, ein Jude, zum Christentum übergetreten war. In Borislaw erzählte man mir, daß christliche Besitzer von Naphtha-Gruben keine jüdischen Arbeiter aufnehmen u. s. w.
Dagegen gibt es andere Betriebe, in denen aus religiösen Gründen nur Juden als Arbeiter angestellt werden können, so die Sephorim-[56] und die Talessimfabriken.[57] In den Talessimfabriken, die ich in Galizien kennen gelernt habe, fand ich einen sehr tüchtigen, sittlich und intellektuell hochstehenden jüdischen Arbeiterstand, der durchaus keiner Unterstützung seitens der Philanthropie bedarf.
Die jüdischen Arbeiter und Arbeiterinnen in der Porzellanmalerei bei Brody und die Kerzenarbeiter in Kolomea stehen sozial und geistig viel niedriger als die vorerwähnten; ihre Lage läßt sich aber durch philanthropische Unternehmen nicht verbessern.
[75] Sehr gut gestellt sind die jüdischen Arbeiter in den Borislawer Naphtha-Gruben.
Im ganzen kann gesagt werden, daß die jüdischen Fabrikarbeiter Galiziens ein äußerst intelligenter und lebensfähiger Menschenschlag sind. Der Mangel an Industrie im Lande bringt es leider mit sich, daß nur ein kleiner Prozentsatz der galizischen Bevölkerung in den industriellen Betrieben Arbeit finden kann.
Die Frage, ob künstliche Industriebetriebe durch die Philanthropie einzuführen seien, muß entschieden verneint werden.
In dieser Hinsicht wurden uns zwei Vorschläge gemacht.
In Tarnow hat uns ein ruinierter Nudelfabrikant die Errichtung einer Nudelfabrik vorgeschlagen, da, nach seiner Angabe in ganz Galizien nur noch eine einzige Nudelfabrik in Lemberg bestehe. In Brody wurde uns ebenfalls von einem früheren Fabrikanten die Errichtung einer Strickwarenfabrik vorgeschlagen.
Ich vermag eine Unterstützung beider Projekte aus folgenden Gründen nicht anzuraten: es wurde absichtlich betont, daß beide Fabrikanten, die diese Vorschläge machten, als selbständige Unternehmer durch ungenügende Mittel ruiniert waren. Nicht der Unternehmungsgeist fehlt hier, sondern der Kredit.
Um also neue Industrien für die galizischen Juden zu schaffen,[58] bedarf es nicht neuer Unternehmungen, sondern eines gut geregelten industriellen Kredits. Ein philanthropisches Institut kann aber nie die Regelung des industriellen Kredites übernehmen, die auf den kompliziertesten Bankoperationen beruht. Darum muß die Frage der Industrialisierung Galiziens der allgemeinen Entwicklung des Landes überlassen werden.
Die speziell für jüdische Frauen von der J. C. A. gegründeten industriellen Unternehmungen lassen viel zu wünschen übrig.
Sie vereinigen die Mängel des Kollektiv- und des Privatbetriebes.
Auf der einen Seite sind sie, wie alle Kollektivbetriebe, schwerfällig und in ihrer Administration kostspielig, auf der anderen Seite treten sie den Arbeitern gegenüber als größte Ausbeuter auf, da die kaufmännische Seite Mittelspersonen überlassen wird. Tatsächlich habe ich speziell in der Strumpfwirkerei der J. C. A. in Kolomea von den gemeinsten Fällen Menschenwuchers gehört.
Die Arbeiterinnen machen dort den Eindruck von ganz unterdrückten [76] und verfolgten Menschen. Jedoch darf damit noch nicht das letzte Wort über diese Unternehmungen gesprochen sein. Einen gewissen Wert haben die Anstalten doch, da sie einen Erwerbszweig für diejenigen jüdischen Mädchen schaffen, die einmal erwerbsfähig selbständige Schritte zur Verbesserung ihrer Lage werden machen können. Hierher gehören die ebenfalls von philanthropischer Seite ausgehenden Hausindustrien, die jüdischen Mädchen einen Erwerbszweig zu verschaffen suchen. Hier ist die Haarnetzindustrie zu nennen, die von dem Wiener Hilfsverein für die notleidende jüdische Bevölkerung in Galizien im Jahre 1900 in Galizien eingeführt worden war.
Nach einem Berichte vom Jahre 1902 beschäftigt die Haarnetzindustrie mehr als 2000 jüdische Mädchen und Frauen. Der Arbeitslohn beträgt im Durchschnitt 2 Gulden wöchentlich, was dem Arbeitslohne einer Fabrikarbeiterin entspricht.
In manchen Orten wurde auch seitens der J. C. A. versucht, eine hausindustrielle Strumpfwirkerei dadurch zu errichten, daß an jüdische Frauen und Mädchen von bestimmten Zentren aus Strickmaschinen und Wolle verteilt und ihnen ihre Erzeugnisse abgekauft wurden. Beide Versuche sind insofern zu begrüßen, als sie jüdischen Mädchen und Frauen eine Erwerbsquelle bieten – eine entscheidende Bedeutung auf die ökonomische und soziale Entwicklung der Bevölkerung können sie jedoch nicht haben.
Das Handwerk ist überall von den Juden stark besetzt; die weiblichen Berufe, wie z. B. die der Näherinnen und Modistinnen sind derart überfüllt, daß eine Näherin oder Modistin etwa zwei Gulden wöchentlich verdient.
Dabei ist zu bemerken, daß die Arbeiterinnen ihr Handwerk sehr schlecht verstehen, um so mehr, als ihre Lehrzeit zumeist zu häuslichen Diensten bei der Lehrherrin ausgenutzt wird.
Dies bewirkt nicht nur die Armut der galizischen Handwerker, resp. der Arbeiterinnen, sondern macht sie auch völlig emigrationsunfähig, so daß die galizischen Näherinnen und Modistinnen, die ins Ausland kommen, dort gewöhnlich keine Beschäftigung in ihrem Berufe finden können und in ihrer Armut und vollständigen Unfähigkeit zu irgend einem Berufe allen Gefahren der Prostitution preisgegeben sind. Den Stand der männlichen jüdischen Handwerker Galiziens zu heben, war der Zweck der Handwerkerschulen und [77] Musterwerkstätten, die von der Baron Hirsch-Stiftung und der J. C. A. in Galizien eingerichtet wurden.
Es war diesen Schulen auch gelungen, ein sehr tüchtiges Handwerkermaterial heranzubilden, das zum Teil in Amerika, zum Teil in Wien sehr gutes Unterkommen gefunden hat. Leider wurden die Handwerkerschulen der Baron Hirsch-Stiftung zum Teil infolge ihrer Kostspieligkeit, zum Teil infolge Aufdeckens großer Verwaltungsmißbräuche in einigen Orten (Krakau, Rzeszow) aufgelöst.
Der Grund der Kostspieligkeit dieser Schulen liegt in den Statuten der Stiftung, die den Verkauf der in der Schule angefertigten Gegenstände verbieten, um den einheimischen Handwerkern keine Konkurrenz zu machen.
In den entsprechenden Anstalten der J. C. A., für die dieses Statut nicht maßgebend ist, kommt dieser Punkt nicht in Betracht und die von den Schülern angefertigten Gegenstände werden gewöhnlich verkauft. Daher sind in den Schulen der J. C. A. die Unterhaltskosten, die auf einen Schüler fallen, nachdem die Administrationskosten ein für allemal festgesetzt sind, verhältnismäßig sehr niedrig. So stellen sich die Kosten für einen Schüler in der Tischlerschule in Stanislau auf 80 Gulden jährlich inklusive Kleidung und Beköstigung. Man könnte also das Kontingent der Schüler dieser Schule durch Stipendien von Privatpersonen erweitern, ohne daß dadurch für die Schulverwaltung weitere Kosten entstehen.
Die Beschaffung von Stipendien speziell für die Stanislauer Tischlerschule wäre warm zu empfehlen. Es muß erwähnt werden, daß es überhaupt eine beliebte Art der privaten Wohltätigkeit in Galizien ist, Stipendien für die Lehre eines Knaben im Handwerk zu verteilen; jedoch geschieht es ohne jeden leitenden Gedanken. Die unterstützten Knaben werden zu Handwerkern in die Lehre gegeben, ohne daß irgendwelche Kontrolle stattfände, sodaß durch diese Art der Wohltätigkeit die Lehrlinge nur mangelhaft ausgebildet[59] werden, und das ohnedies niedrige Niveau des galizischen Handwerks noch weiter heruntergeschraubt wird.
Die Stipendien könnten eine wohltätige Wirkung erzielen, wenn man sie speziell für den Unterhalt der Schüler in den galizischen Handwerkerschulen der J. C. A. bestimmen würde.
Andererseits könnte die J. C. A. die Stipendien-Verwaltung dadurch organisieren, daß sie in einigen Städten nur die Kosten [78] für die Gründung und die Administration von Handwerkerschulen übernähme, den Unterhalt der Schüler dagegen privaten Stipendien überließe, die der Schule als ein Unterhaltsfonds zuzufließen hätten.
Das würde zweierlei bewirken: erstens die Heranbildung guter Handwerker und zweitens die Entziehung der Lehrlinge von schlechten Handwerkern, da die Stipendien, die den Handwerkslehrlingen zuzufließen pflegen, in den Schulen zentralisiert würden.
Im Falle die Zahl der Stipendien die Zahl der Schüler, die in einer Schule untergebracht werden können, übersteigt, muß die Schule die Kontrolle über die bei Handwerkern außerhalb untergebrachten Lehrlinge übernehmen. Damit würden die Handwerkerschulen der J. C. A. nicht nur den Unterricht leiten, sondern, was die Hauptsache ist, die Aufsicht über die meisten in der Handwerkslehre befindlichen Lehrlinge in Händen haben.
Eine solche Zentralisation der privaten Stipendien könnte auch von der Verwaltung der Baron Hirsch-Stiftung durchgeführt werden.
Es ist bekannt, daß die Baron Hirsch-Stiftung in Galizien bis vor kurzer Zeit den Absolventen ihrer Schulen Stipendien gab, damit sie eine Lehre durchmachen konnten.
Damit hat die Baron Hirsch-Stiftung die Kontrolle über die Ausbildung und die Sorge für die spätere Unterkunft ihrer Stipendiaten übernommen. Gegenwärtig ist die Stiftung nicht mehr in der Lage, die weitere Ausbildung ihrer Absolventen zu übernehmen.
Sie wäre aber wohl geeignet, die Kontrolle über die Ausbildung und die Sorge über die weitere Unterkunft der Stipendiaten Privater zu übernehmen, wenn diese durch Vermittlung der Stiftung das Lehrgeld den Meistern zufließen lassen wollten. Eine solche innige Zusammenarbeit der J. C. A. oder der Baron Hirsch-Stiftung mit den Philanthropen Galiziens wäre nur dann möglich, wenn diesen Körperschaften mehr Vertrauen entgegengebracht würde. Leider habe ich während meiner Reise davon nicht viel gesehen, und es wird noch viel Mühe kosten, die galizischen Juden zu einer Wohltätigkeitspflege nach westeuropäischem Muster zu erziehen.
Für die Gründung neuer Handwerkerschulen ist zu bemerken, [79] daß deren Errichtung dort zu empfehlen ist, wo bereits jüdische Haushaltungsschulen vorhanden sind, an die sie anzuschließen sind.
Durch die Haushaltungsschule ist eine billige Beköstigung der Schüler gesichert und den Schülerinnen Gelegenheit zu praktischer Kochtätigkeit gegeben.
Diese Kombination ist in Stanislau durchgeführt. Für die Frauen hat weder die Baron Hirsch-Stiftung noch die J. C. A. Gewerbeschulen geschaffen.
Der Stand der jüdischen Näherinnen, Modistinnen, Büglerinnen und dergl. ist in Galizien so niedrig, daß sie im Auslande ganz konkurrenzunfähig sind und dort entweder für Hungerlöhne arbeiten oder gänzlich untergehen müssen. Dem könnte man nur durch gründliche Ausbildung in Gewerbeschulen für Frauen abhelfen.
Da auch für die Heranbildung der jüdischen Mädchen zu einem Handwerk in vielen Städten Privatstipendien bestehen, so könnte die Errichtung solcher Schulen auf dem für die Knabenschulen vorgeschlagenen Wege erfolgen.
Die Einrichtung und die administrativen Kosten müßten von einer außenstehenden eigens dazu bestimmten Körperschaft übernommen werden, während die Unterhaltung der Schülerinnen aus Privatstipendien zu bestreiten wäre. Dabei ist von dem Prinzipe auszugehen, lieber wenige aber gute, als viele aber schlechte Arbeiterinnen auszubilden. Leider ist gewöhnlich das Umgekehrte der Fall.
Schlechte Arbeiterinnen hat Galizien genug, und sie arbeiten zu erschreckend billigen Preisen, während gute Näherinnen oder Modistinnen nicht nur im Lande selbst gut unterkommen können, sondern auch emigrationsfähig sind. Nicht zu übersehen ist, daß solche Schulen zugleich von großer erzieherischer Bedeutung werden können, wenn sie mit Abendklassen verbunden werden, in denen die mangelhafte Schulbildung der jüdischen Mädchen zu ergänzen wäre.
Schon als Lehrmädchen ist das galizische Mädchen allen verhängnisvollen Versuchungen ausgesetzt, die so viele Frauen und Mädchen zugrunde richten. Ihre kurzen Mußestunden werden ihnen zur Pein, da sie nicht wissen, was sie mit der freien Zeit anfangen sollen: wenn sie auch lesen können, so haben sie doch [80] keinen Leitfaden für ihre Lektüre. Im Hause hat und versteht ein Mädchen fast nichts zu tun. Von Mädchenklubs hat man in Galizien keine Ahnung, und die Straße wird für das Mädchen fast zur einzigen Abwechslung nach der täglichen Arbeit.
Ganz anders würde sich die Sache gestalten, wenn die Gewerbeschülerinnen schon während ihrer Lehrzeit in ihren Mußestunden beaufsichtigt würden, wenn die Schule ihnen die Möglichkeit gäbe, abends zusammenzukommen, um ihre Schulbildung zu ergänzen resp. lesen und schreiben zu lernen, wenn sie ihnen Lektüre böte, und sie zur Häuslichkeit und Hausarbeit anleitete.
Schon in ihren Lehrjahren sollten die jüdischen Mädchen zur Selbstachtung erzogen werden, denn dieses Bewußtsein der eigenen Würde ist ein Grundstein für die Hebung der Sittlichkeit und der sozialen Lage der jüdischen Mädchen. Ein gleicher Einfluß läßt sich auch von den Dienstboten- oder Haushaltungsschulen voraussagen.
Hier kommen jedoch noch andere Gesichtspunkte in Betracht. Der Lehrzeit im Handwerk entspricht im Hausdienste in Galizien in der Regel der Dienst als Kindermädchen, was jedoch eigenartig verstanden werden muß. Die Frauen der kleinen jüdischen Geschäftsleute, die gewöhnlich tagsüber außerhalb des Hauses bleiben und kleine Kinder zu Hause zurücklassen, mieten sich zur Beaufsichtigung ihrer Kinder junge Mädchen von 12 bis 14 Jahren, die zugleich als Laufmädchen verwendet werden.
Ein solches Mädchen erhält dafür einen Lohn von 1½ bis 2 Gulden monatlich, meistens ohne freie Station.
Sie lernt den Dienst als sklavischen Gehorsam kennen, der nur durch freche Unart durchbrochen werden kann. Wenn sie dann älter wird und in eine Stelle tritt für 3 bis 5 Gulden und mit freier Station, d. i. ein klägliches Bett in der Ecke der Küche und Überreste von der Mahlzeit der Herrschaften, so bestehen ihre Pflichten auch durchaus nicht in einer geregelten Arbeit, sondern in der Verrichtung der verschiedensten Dienste, die ihr von ihrer Herrin launisch und oft zwecklos vorgeschrieben werden.
Regelmäßig und planmäßig geführte Haushaltungen gibt es in Galizien fast gar nicht. Dies liegt zum großen Teil in der allgemeinen Unregelmäßigkeit des Lebens, weshalb man im Hauswesen [81] keine bestimmte Tischzeit festhalten kann, wodurch das ganze häusliche Leben einen ungeregelten Charakter erhält.
Wo die Dienstboten keine bestimmten Pflichten und die Hausfrauen keine bestimmten Forderungen haben, entsteht eine Unzufriedenheit bei beiden Teilen.
Die Hausfrau findet, daß ihre Dienstboten die Arbeit weder verstehen noch tun wollen und ist doch nicht im stande, sie zu unterweisen. Die Dienstboten ihrerseits haben allen Grund, sich über schlechte Entlohnung und Behandlung zu beklagen, besitzen aber weder das Können, noch die Intelligenz, um Besseres zu erlangen. Man weiß nicht, bei wem die Erziehung anfangen sollte, ob bei dem Dienstmädchen oder bei der Hausfrau.
Diese Frage wird in der Dienstboten- oder Haushaltungsschule gelöst. Sie erzieht tüchtige, arbeitsame Dienstboten und rüstet sie mit genügender Selbstachtung aus, damit sie den Hausfrauen gegenüber ihre Stellung behaupten können. Die Rückwirkung auf die Hausfrauen hebt den ganzen Stand der Dienstboten und zugleich die Achtung vor körperlicher Arbeit in eigener und fremder Wirtschaft.
Aber die Haushaltungsschule beschränkt sich nicht nur auf die Hebung des Standes der weiblichen Dienstboten. Sie hat noch eine zweite Aufgabe, nämlich die hauswirtschaftliche Erziehung der weiblichen Jugend; die volkswirtschaftliche Bedeutung allgemein gut geführter Privathaushaltungen ist bekannt.
Eine gute hauswirtschaftliche Erziehung der Frauen hat also einen allgemeinen volkswirtschaftlichen Wert.
Es kommt hinzu, daß ein gut geführtes Hauswesen auf das ganze Familienleben und dadurch auch auf das ganze sittliche Niveau der Gesellschaft eine günstige Wirkung ausübt. Wir haben aber selten unter den armen galizischen Frauen gute Hausfrauen getroffen.
Dies liegt hauptsächlich an ihrer Unwissenheit. Die jüdischen Geschäftsfrauen verstehen es z. B. gar nicht, die Stunden, in denen sie in ihren Geschäften sitzen und die Käufer erwarten, auszunützen. Sie sitzen gewöhnlich müßig da, während die Kinder daneben zerlumpt und schmutzig herumlaufen.
Zu den volkswirtschaftlichen und volkshygienischen Schäden, die in dieser Unhäuslichkeit der Frauen begründet sind, kommt das [82] Hauptübel, das im Wesen des Müßigganges liegt. Er bringt in das ganze Hauswesen ein Element der Untätigkeit und Apathie: jeder lebhafte Verkehr zwischen den Mitgliedern der Familie ist ausgeschlossen, und nur die Gewohnheit hält sie zusammen. Kein Wunder, daß junge Mädchen in solchen Familien keine Freude an dem Zusammensein mit ihrer Familie und an der Hausarbeit haben und darum in ihren Musestunden allen Versuchungen der Straße ausgesetzt sind. All dem wirkt die Haushaltungsschule entgegen, indem sie die Mädchen schon im frühen Alter an die häusliche Arbeit und an eine richtige Zeiteinteilung gewöhnt und sie auf allerlei Beschäftigungen aufmerksam macht, die in den Mußestunden verrichtet werden können, und von deren Ausführung die Gemütlichkeit und Befriedigung im häuslichen Leben abhängt.
Was in Galizien in dieser Richtung bis jetzt für die Juden getan worden ist, sind die drei Haushaltungsschulen der Baron Hirsch-Stiftung in Tarnow, Stanislau und Kolomea.
Sie machen alle einen sehr erfreulichen Eindruck und bringen ihre Absolventinnen sehr gut als Dienstmädchen unter. Was an ihnen auszusetzen ist, ist die kurze Lehrzeit (der Kursus in diesen Schulen dauert bloß zwei Jahre) und das vollständige Fehlen einer weiblichen Kontrolle. Ersteres ist durch die Beschränkung der finanziellen Mittel verursacht. Die Anstellung einer weiblichen Inspektorin für die Haushaltungsschulen würde jedoch von der Baron Hirsch-Stiftung getragen werden können.
Abgesehen davon, daß ein Mann nicht im stande ist, die Kontrolle einer Haushaltungsschule durchzuführen, erfordert diese Kontrolle einen so genauen Einblick, wie er nicht zugleich mit der anderer Einrichtungen gewonnen werden kann.
Man muß in einer Haushaltungsschule gelebt haben, um ihren Betrieb zu verstehen und verbessernd einwirken zu können. Daher müssen speziell zu diesem Zwecke ausgebildete und angestellte Frauen bevollmächtigt werden.
Da die Stiftung nicht im stande ist, neue Haushaltungsschulen zu gründen, so sollten sie von anderen Wohlfahrtsvereinigungen ins Leben gerufen und bestehende, wo nötig, unterstützt werden.
Als geeigneter Platz für die Gründung einer neuen Haushaltungsschule käme die Stadt Zloczow in Betracht. Dort soll die Bevölkerung viel weniger fanatisch sein als sonst in Galizien, und sie [83] wird daher der reformatorischen Tätigkeit einer sonst auf ritueller Basis stehenden Haushaltungsschule keinen Widerstand leisten. Die Damen der jüdischen Gesellschaft Zloczows schienen uns geneigt zu sein, das Protektorat über eine solche Anstalt zu übernehmen. Auch die Leiter der dortigen Baron Hirsch-Schule werden ihre Unterstützung nicht versagen. Von den schon bestehenden Anstalten, die nach den Prinzipien einer Haushaltungsschule reformiert werden könnten, kommen die Mädchenabteilungen des Lemberger und des Brodyer Waisenhauses in Betracht. Dem Lemberger Waisenhaus, einer sehr eleganten, groß angelegten Anstalt, fehlt es im übrigen an jeder Innigkeit und Gemütlichkeit des Zusammenlebens. Eine Reform wird hier sehr schwer sein, da schon die palastmäßige Anlage so viel Zeit und Kraft der Verwaltung in Anspruch nimmt, daß die Hauptaufgabe des Waisenhauses, die Erziehung der Kinder, davor zurücktreten muß. Im übrigen besitzt dieses Waisenhaus Mittel genug, um eine Reform selbständig durchzuführen. Anders steht es mit dem Brodyer Waisenhaus. Die Anstalt ist zwar im Besitze eines sehr angenehm gelegenen und gut eingerichteten Hauses; jedoch fehlt es hier so sehr an Betriebsmitteln, daß sie nicht im stande ist, eine ausgebildete Leiterin zu engagieren.
Vom Haushalt lernen die Mädchen in der Anstalt gar nichts. Das ist auch bei der bestehenden Leitung unmöglich, da der Haushalt der Anstalt von einer ganz unintelligenten, einfachen Frau geführt wird, die nicht einmal die elementarsten Begriffe der Reinlichkeit besitzt. Die Kleidungsstücke der Kinder werden von einer Schneiderin ausgebessert, wobei die Mädchen nie mithelfen. Die Zimmer sind nicht sauber genug: der Waschraum läßt an Reinlichkeit recht viel zu wünschen übrig.
Dies alles wäre bei einer geschulten und fähigen Leiterin ausgeschlossen. Es kommt hinzu, daß nur eine solche im stande ist, den Mädchen nach ihrem Austritte aus dem Waisenhaus einen passenden Beruf anzuweisen. Es gilt da, mit den Mädchen gelebt, ihre Fähigkeiten und Anlagen kennen gelernt zu haben und danach die Wahl eines Berufes zu beeinflussen.
Gewisse weibliche Berufe sind von den galizischen Jüdinnen gar nicht besetzt, weil sich niemand gefunden hat, der sie darauf aufmerksam gemacht hätte. Einer intelligenten Erzieherin würde es sicherlich gelingen, aus den Zöglingen des Brodyer Waisenhauses [84] eine Anzahl zu wählen, die sich dem Berufe der Kindergärtnerin, des Kindermädchens, der Haushaltungslehrerin oder der Krankenschwester widmen wollten und könnten. Bei den heutigen Zuständen aber lassen sich alle Absolventinnen des Brodyer Waisenhauses zu Schneiderinnen oder Putzmacherinenn heranbilden und stehen vor einer recht traurigen Zukunft. Das Protektorat des Brodyer Waisenhauses, das aus sehr verständigen Personen besteht, sieht die Vorteile, die die Anstellung einer tüchtigen Leiterin mit sich führt, sehr gut ein, ist aber nicht im stande, dieses Bedürfnis zu befriedigen. Es wäre daher wünschenswert, wenn irgend eine philanthropische Gesellschaft Deutschlands dem Brodyer Waisenhause ihre Hilfe angedeihen ließe und die Anstellung einer mit der Waisenpflege vertrauten Erzieherin durch Gewährung der Mittel ermöglichte.
Der unterstützenden Gesellschaft müßte das Recht der Auswahl der Leiterin und die Kontrolle der Anstatt vorbehalten bleiben, ohne jedoch in irgendwelcher Weise die Selbständigkeit der jetzigen Direktion zu beeinträchtigen.
Nirgends in Galizien schienen uns die einheimischen Philanthropen so empfänglich für fortschrittliche Neuerungen zu sein, wie in Brody, und nirgends würde sich eine philanthropische Zusammenarbeit der deutschen mit den galizischen Juden besser gestalten als dort. Gelänge es, eine gründliche Reform des Brodyer Waisenhauses durchzuführen, so würde es auch für alle anderen galizischen Städte vorbildlich werden, da Brody zu den regsamsten und aufgeklärtesten Städten Galiziens gehört. Wenn das Brodyer Waisenhaus einige seiner Absolventinnen der Haushaltung und der Kinder- und Krankenpflege zuführt, so wird der Gedanke an solche Berufe auch in anderen Städten Galiziens populär werden.
Wie wichtig es ist, die jüdischen Mädchen gerade für diese Berufe zu interessieren, sieht man erst bei der Besichtigung der jüdischen Krankenhäuser Galiziens. – Dort werden die Kranken von einem ganz ungebildeten Personal, ja oft von den eigenen Angehörigen betreut. Nicht einmal die elementarsten Forderungen der Hygiene werden in solchen Anstalten erfüllt. Übrigens wissen die galizischen Juden gar nicht, daß es auch anders sein kann, und wenn ein jüdisches Mädchen auch den Wunsch hätte, sich zur Krankenpflegerin auszubilden, würde sie gar nicht wissen, wo und wie man eine solche Ausbildung erhalten kann. Tatsächlich weiß man in Galizien [85] von den in Deutschland bestehenden israelitischen Krankenpflegerinnen-Vereinen fast gar nichts. Das gilt auch für andere weibliche Berufe.
Alle Anstalten, in denen sich die jüdischen Mädchen zu Krankenpflegerinnen, Kindergärtnerinnen oder Haushaltungslehrerinnen ausbilden lassen könnten und die Bedingungen zur Aufnahme in dieselben müßten durch Prospekte allgemein bekannt gemacht werden. Zugleich wäre es zu begrüßen, wenn die israelitischen Anstalten Deutschlands, wie Pflegerinnenheime, Waisenhäuser und Haushaltungsschulen, gut empfohlenen israelitischen Damen und Mädchen aus Galizien, die bei ihnen in die Lehre treten wollen, um später in Galizien zu arbeiten, auf jede Weise entgegenkämen, indem sie ihnen den Eintritt erleichtern und das Honorar ermäßigen.
Auch wäre die Stiftung einer Anzahl von Stipendien zum Zwecke der Ausbildung jüdischer Mädchen in solchen Berufen zu empfehlen.
In deutschen Städten, in denen ein Volkskindergarten, eine Volkskrippe, eine Haushaltungsschule und event. auch ein gut geleitetes israelitisches Waisenhaus vorhanden sind, würde sich gewiß die eine oder die andere israelitische Dame finden, die mit der Arbeit in diesen Anstalten bekannt ist und in der Armenpflege bereits gearbeitet hat. Eine solche Dame müßte dazu aufgefordert werden, die Ausbildung von jüdischen Mädchen zu leiten, die sich Kenntnisse in diesen Anstalten verschaffen, event. sich in einem dieser Berufe ausbilden lassen wollen.
Sie hätte dafür zu sorgen, daß Mädchen, die von außen kommen, in anständigen Familien als Pensionärinnen untergebracht werden und daß ihnen das Hospitieren in den betreffenden Anstalten möglichst erleichtert werde: sie hätte die jungen Mädchen bei der Auswahl eines Arbeitsfeldes für die Anwendung ihrer Kenntnisse zu unterstützen und sie auf weitere Gesichtspunkte für eine soziale Tätigkeit aufmerksam zu machen.
Natürlich müßte die ganze jüdische Gemeinde einer Stadt einer solchen Dame mit Rat und Tat entgegenkommen. Den jüdischen Mädchen Galiziens müßte man zugleich durch Stipendien und sonstige Mittel den Besuch solcher Bildungszentren erleichtern. Auf diese Weise werden die modernen Ideen sozialer Hilfspflege [86] auch in Galizien bekannt werden. Die Frauen, die in solchen Bildungszentren ausgebildet werden, würden neue Ideen nach Galizien mitbringen und die Reform der dort bestehenden volkspädagogischen Anstalten ermöglichen.
Damit habe ich so ziemlich alles aufgezählt, was die Philanthropie zur Linderung der wirtschaftlichen Not der galizischen Juden auf dem Wege der Schaffung neuer Berufe leisten kann.
Wir haben gesehen, daß es sich da hauptsächlich um eine indirekte Tätigkeit auf dem Wege der Volkspädagogik handelt. Die wirtschaftliche Armut kann durch die Hebung des geistigen Niveaus gelindert werden. Tatsächlich ist die Volkspädagogik die wichtigste Domäne der Philanthropie. Hier eröffnet sich für die soziale Hilfspflege ein so weiter Horizont, daß alles, was bis jetzt in dieser Richtung getan worden ist, nur der erste Schritt zu sein scheint.
Was bisher in Galizien geleistet wurde, ist der Baron Hirsch-Stiftung zu danken, die in ihrem Wirken für Volksaufklärung und Gesinnung vorbildlich ist. Hier werden die besten und größten Ideen der modernen Volkspädagogik verwirklicht, indem sie in einsichtsvoller Weise den Bedürfnissen der jüdischen Massen angepaßt werden. Zugleich bilden die Baron Hirsch-Schulen geistige Mittelpunkte für ganz Galizien, so daß jede neue volkspädagogische Institution von den Baron Hirsch-Schulen geistige Unterstützung erwarten kann. Dasselbe läßt sich auch von der ausgezeichneten israelitischen Volksschule in Brody und einigen israelitischen Volksschulen und Kindergärten in Lemberg sagen.
Jede Tätigkeit in dieser Richtung muß in Galizien von der Bekämpfung des Chederwesens ausgehen.
Es gibt in Galizien nichts Traurigeres, als diese „Schulen“, in denen unter der Aufsicht eines vollständig ungebildeten Melamed und eines noch ungebildeteren rohen Behelfers 15 bis 25 Kinder in einem Zimmerchen zusammengepfercht sitzen, in dem es nicht einmal für alle Kinder Sitzgelegenheit gibt, wo die Fenster nie aufgemacht werden und die armen Kinder in steter Angst vor dem vielsagenden „Riemenlockschu“ des Melamed in der stumpfsinnigsten Weise Gebete und Sprüche einüben. Oft nehmen auch Mädchen an dem Unterrichte teil. Die demoralisierenden Körperstrafen üben dabei eine sehr schädliche Wirkung aus; dazu kommt noch, daß im Cheder oft Sachen gelehrt werden, die auf die Naivität des Kindes gar keine [87] Rücksicht nehmen: kurz, alles von dem Lockschu bis auf die Unterrichtsmethode ist im Cheder danach eingerichtet, die Kinder zu demoralisieren und zu verdummen, und es ist nur ein Beweis der großen Lebensfähigkeit des jüdischen Volkes, daß aus dem Cheder doch oft sehr intelligente und begabte Menschen kamen. Den Cheder aber als eine religiöse Institution darzustellen, die deshalb geheiligt werden muß, heißt das Wesen der jüdischen Religion verspotten. Die Art der Bekämpfung der Cheders ergibt sich, wenn man die dreierlei Funktionen ins Auge faßt, denen der Cheder in der Regel dient.
Einmal tritt er an die Stelle der Volksschule, dort wo die Eltern aus religiösen Gründen ihre Söhne nicht in die allgemeine Volksschule schicken wollen; zweitens dient er der Erhaltung des hebräischen Wissens; drittens und oft vornehmlich scheint er als ein geeigneter Ort betrachtet zu werden, die Kinder aufzubewahren, während die Mütter dem Erwerb nachgehen. Die erste Funktion wird dem Cheder durch die Baron Hirsch-Stiftung entzogen, die in ihren Schulen gegenwärtig 9634 Knaben unterrichtet. Es ist nur zu bedauern, daß die Stiftung nur 50 solcher Schulen zu erhalten im stande ist.
Leider ist es nicht zu erwarten, daß eine derartige Institution noch einmal in Galizien ins Werk treten wird: es steht aber fest, daß mindestens noch 50 Schulen von jüdischen Knaben besucht werden könnten, woraus eine beträchtliche Konkurrenz für die Cheders entstehen würde.
Die Baron Hirsch-Schulen übernehmen auch die zweite Funktion des Cheders, nämlich die Erteilung des hebräischen Unterrichts: jedoch genügt derselbe den Ansprüchen der jüdischen Bevölkerung Galiziens nur zum Teil. Eine Institution, die dem Cheder auch diese Funktion rauben könnte, ist der sogenannte Muster- oder Reformcheder. Der Muster- oder Reformcheder stellt sich zur Aufgabe, den Unterricht der im Cheder durchgenommenen Gegenstände zu vereinigen, 1. mit der Erfüllung der Forderung der modernen Schulhygiene, 2. mit einem systematisch geregelten Unterricht, 3. mit dem Unterricht im hebräischen Schreiben, event. im Schreiben und Lesen der Umgangssprache, 4. mit Sing- und event. Turnunterricht, 5. mit der Verminderung der Schulzeit auf die üblichen Schulstunden, die durch Pausen unterbrochen werden. [88] Die Idee der Mustercheder, die in Rußland schon seit einigen Jahren populär geworden ist, wurde in Galizien erst von zionistischer Seite angeregt. In den Städten, die wir aufgesucht haben, haben wir nur in Rzeszow einen Reformcheder gesehen.
Es sind dort 40 bis 50 Kinder untergebracht, die einen systematisch geregelten Unterricht erhalten, nach Klassen in freundlichen hellen Schulräumen eingeteilt werden, Gesangunterricht erhalten und im ganzen einen frischen, munteren Eindruck machen. Allein da der Leiter des Reformcheders diese Schule zu Erwerbszwecken unterhält und auf einen Verdienst angewiesen ist, ist das Schulgeld ziemlich hoch. Der Besuch des Mustercheders ist daher nur den Vermögenden möglich. Damit diese Schule auch den armen Juden zugänglich werde, würde sie entschieden eine Subvention verdienen. Die Verbreitung solcher Mustercheder kann von der wohltätigsten Wirkung auf das ganze Chederwesen Galiziens sein. Immer mehr Knaben würden dadurch dem Cheder entzogen, während die Privatcheders sich den Mustercheders anzupassen versuchen müßten.
Von Mustercheders können ganze Kommissionen ausgehen, die die Kontrolle über alle Privatcheder zu führen hätten. Dies geschieht auch mit großem Erfolg manchenorts in Rußland.
Einen konkreten Ausgangspunkt für die Reform des Chederwesens können die Talmud-Thoras bilden, die der direkten Aufsicht der jüdischen Gemeinden Galiziens unterstellt sind. Leider sind diese Talmud-Thoras in der Regel noch schlimmer als die Privatcheders bestellt. Während der Mustercheder den Privatcheder in seiner zweiten Funktion ersetzt, kann er nicht zugleich auch seine dritte Funktion übernehmen, nämlich die der Unterbringung der Kinder im Laufe des Tages.
Der Mustercheder beschränkt die Schulstunden, und die Mutter, die ihre Söhne hinschickt, hat nicht die Beruhigung, ihr Kind von früh morgens bis spät abends versorgt zu wissen.
Diese Beruhigung der Mutter zu geben ist nicht und kann nicht Sache der Schule sein. Die Schule, so hohe, erzieherische Aufgaben sie auch hat, kann nicht die Familie ersetzen. Dies geschieht in Volkskrippen, Volkskindergärten und Kinderhorten.
Von jüdischen Volkskrippen hat Galizien keine Ahnung, dagegen gibt es in Lemberg drei jüdische Kindergärten, die jüdische [89] Kinder für die Volksschule vorbereiten. In diesen Kindergärten wird den Kindern die Möglichkeit eines gemütlichen Zusammenseins unter der Aufsicht einer Vorsteherin gewährt, die sie erzieht und auf jede Weise ihre guten Anlagen zu entwickeln sucht.
Einzelheiten, die an diesen jüdischen Volkskindergärten Galiziens bei dem Vergleich mit deutschen Volkskindergärten auszusetzen sind, fallen bei den großen Verdiensten nicht ins Gewicht.
Ein weiteres erzieherisches Moment liegt darin, daß der Kindergarten vielen erwachsenen Mädchen die Möglichkeit gibt, sich in der Kinderpflege auszubilden, da die Vorsteherinnen einige Absolventinnen der Volksschule zur Aushilfe nehmen, die für ihre Dienste bezahlt werden und zugleich den Umgang mit kleinen Kindern und die Kinderpflege erlernen.
Auf diese Weise werden in Deutschland Bonnen[60] herangebildet, die nicht nur sehr gut untergebracht werden, sondern auch in ihrer eigenen Familie die pädagogischen Ideen der Kindergärten verwerten.
In Lemberg haben bis jetzt die Leiterinnen der jüdischen Kindergärten keine solchen Helferinnen gehabt. Nach einer Rücksprache mit Dr. Biegeleisen, dem Leiter einer jüdischen Mädchenschule in Lemberg und mit zwei Leiterinnen der dortigen jüdischen Volkskindergärten haben wir jedoch die Überzeugung gewonnen, daß sie bald den Versuch machen werden, einige Mädchen auf die angegebene Weise auszubilden. Dr. Biegeleisen würde dabei einige Absolventinnen seiner Schule auswählen, die er als Helferinnen für die jüdischen Kindergärten vorschlagen wird. Zugleich wird ihnen die Möglichkeit gegeben, Nähstunden zu nehmen. Man sieht, wie vielseitig die Aufgaben eines jüdischen Volkskindergartens werden können.
Erstens bekämpfen sie indirekt den Cheder, indem sie an seine Stelle treten und der im Erwerb stehenden Mutter Gelegenheit bieten, ihre Kinder während ihrer Abwesenheit fast für den ganzen Tag gut unterzubringen, und zweitens bilden sie eine Vorbereitung für die Volksschule, event. für den Mustercheder, da die Kinder dort die Umgangssprache erlernen und sich an die Schuldisziplin gewöhnen. Drittens verbreiten sie volkspädagogische Ideen in den jüdischen Familien. Dies geschieht durch den Verkehr der Kindergärtnerin mit den Müttern ihrer Zöglinge, durch [90] die Anfänge einer Erziehung, die das Kind selbst vom Kindergarten nach Hause bringt, und durch die Vermittlung der genannten Helferinnen. Schließlich schaffen die Kindergärten neue Berufe für jüdische Mädchen, indem sie ihnen die Möglichkeit geben, sich als Bonnen auszubilden.
Die größte Wichtigkeit des Volkskindergartens ist und bleibt aber sein erzieherisches Wirken: er ersetzt den Kindern die Familie, indem er von dem Ideale einer Familie ausgeht, in der alle Mitglieder froh und munter zusammenleben, arbeiten und lernen. Angesichts dieser großen Bedeutung wäre die Errichtung neuer Volkskindergärten in Galizien sehr erwünscht. Geeignete Plätze dafür scheinen mir für den Anfang Stanislau und Brody zu sein.
Eine Anstalt wie die Herzlsche in Brody (jüdische Volksschule), wo sowohl Mädchen als auch Knaben Unterricht erteilt wird, entläßt von Jahr zu Jahr intelligente, fortgeschrittene Absolventen.
Die jüdischen Frauen, die in Brody zum großen Teil im Erwerb stehen, (außer den im Handel beschäftigten Frauen sind noch die in der Federnreinigungsindustrie und in der Porzellanmalerei beschäftigten Frauen zu nennen) werden jedenfalls mit Freude einen Volkskindergarten begrüßen, der die Aufsicht über ihre Kinder während des Tages übernimmt. Aus dem Brodyer Waisenhaus würde sich, besonders nach der genannten Reform, sicherlich ein Kontingent gut veranlagter Mädchen rekrutieren, die der Kindergärtnerin helfen und zugleich den Umgang mit kleinen Kindern und die Kinderpflege erlernen könnten, um sich dadurch zu Bonnen auszubilden.
In Stanislau stehen zwar keine jüdischen Frauen im industriellen Erwerb, aber hier sprechen andere Umstände für die Errichtung eines Kindergartens. Erstens ist die dortige Baron Hirsch-Schule eine der besten in Galizien und man könnte auf die Unterstützung der Leiter dieser Schule rechnen. Zweitens könnte ein Teil der Absolventinnen der dortigen Haushaltungsschule sich in einem Kindergarten als Bonnen ausbilden.
Beide Städte, Stanislau und Brody, haben den Vorteil, in Galizien sehr populär zu sein, daher die dortigen Volkskindergärten zu Musterinstituten für andere Städte werden können. Sowohl in Stanislau als auch in Brody werden sich Leute finden, [91] die ein derartiges Unternehmen durch Mitgliedsbeiträge unterstützen.
Die Hauptkosten und die Leitung einer solchen Anstalt müßten jedoch auf eine nichtgalizische Gesellschaft fallen, daher können als Leiterinnen nur galizische jüdische Damen angestellt werden. Zur Leitung eines Kindergartens gehört nämlich sowohl die Kenntnis der polnischen Sprache als auch volles Verständnis für das Leben der jüdischen Masse Galiziens.
Das Lemberger Seminar bildet Kindergärtnerinnen im Laufe eines halben Jahres aus. Es wäre gut, wenn man geeigneten Mädchen den Besuch dieses Seminars durch Stipendien ermöglichen würde, damit sie dann in den Dienst einer jüdischen Anstalt in Galizien eintreten können. Ferner müßte eine Anzahl von Stipendien dazu gestiftet werden, um jüdische Kindergärtnerinnen eine Zeitlang in Deutschland an den dortigen Musteranstalten weiter auszubilden. Der Besuch der Kindergärten kann bei den Kindern schon vom dritten Jahre an beginnen. Dagegen wären Kinderkrippen einstweilen für Galizien noch nicht zu empfehlen.
Während der Volkskindergarten nur für noch nicht schulpflichtige Kinder bestimmt ist, kommen für schulpflichtige Kinder Kinderhorte in Betracht. Dort wird die Beschäftigung der Kinder auch außerhalb der Schule beaufsichtigt, ohne jedoch die Kinder an die Strenge der Schuldisziplin zu binden. Die Horte nähern sich in ihrem Arbeitsplane noch mehr einer Familie als einer Schule. Zum Teil hat schon in den Schulen, deren Unterricht nicht während der gewöhnlichen Schulstunden stattfindet, der Slöjd- und Gartenbauunterricht den Charakter eines Hortes.
Der Verkehr des Lehrers mit den Schülern bei einer angenehmen, anregenden Arbeit hat die erzieherische Wirkung einer gesunden, arbeitsamen und intelligenten Familie. Dasselbe läßt sich von den nachmittäglichen Kochstunden für schulpflichtige Mädchen sagen, eine in Galizien noch unbekannte Einrichtung. Solche nachmittägliche Beschäftigungen ersetzen jedoch einen Hort nur zum Teil. Sie verlangen von dem Kinde eine bestimmte Arbeit und geben ihm keine Möglichkeit, sich selbst frei zu beschäftigen. Diese freiwillig geregelte Arbeit des Kindes, die keines Befehles wartet, wird im Horte ermöglicht. Dort versammeln sich die Kinder während der Nachmittagstunden, machen unter der Aufsicht einer [92] Leiterin ihre Schulaufgaben, kleine Handarbeiten, lesen Bücher, die diese Leiterin auswählt, spielen Gesellschaftsspiele, und ihrem freien Willen wird bei der Auswahl der Beschäftigung ein gewisser Spielraum gelassen.
Auch hier haben die Zionisten den ersten Schritt getan: wenigstens ist der einzige Hort, den wir in Galizien gesehen haben, der Mädchenhort in Stanislau, aus Privatmitteln und aus der Privatinitiative der dortigen zionistischen Mädchenvereine gegründet.[61] Hier verbringen 15 schulpflichtige Mädchen unter Aufsicht ihre Nachmittagsstunden und kehren nach einem kleinen Imbiß gegen Abend nach Hause zurück.
Daneben erhalten die Kinder die Möglichkeit, die polnische Sprache praktisch zu üben, die sie zu Hause nicht hören und die ihnen im späteren Leben für das Weiterkommen in Galizien dienlich ist.
Zu den großen Vorteilen des Hortes gehört die Billigkeit der Einrichtung. Er kann in jedem Schulraum angebracht werden, wobei Ausgaben nur für den Imbiß, für manches Schulmaterial und event. für die Anstellung einer Leiterin ins Auge fallen. In Stanislau arbeiten die Leiterinnen des Mädchenhortes ohne Entgeld: gewiß könnte es auch anderen Horten gelingen, ehrenamtliche Leiterinnen, resp. Leiter zu gewinnen, die aus reiner Liebe zur Sache die nachmittäglichen Beschäftigungen der Kinder beaufsichtigen. Jedoch muß man in der Auswahl sehr vorsichtig sein, da solche unentgeltlichen Arbeitskräfte sich am schwersten kontrollieren lassen.
Es ist klar, daß es Institutionen, wie Volksschulen, Kindergärten und Horten nicht nur gelingen kann, die Cheders zu bekämpfen sondern sie greifen in die tiefsten Probleme der Volkserziehung ein und können eine ganze Gesellschaft reformieren.
Während wir in der Volksschule der Schule als Lehranstalt und im Volkskindergarten der Schule als Erziehungsanstalt begegnen, übernimmt sie in den Abend- und Samstagsschulen noch höhere Funktionen.
In solchen Schulen, wie in den sich eng an sie anschließenden Volksbibliotheken und Toynbeehalls[62] wird die gesellschaftliche Erziehung des Volkes gefördert, wird das Volk enger zusammengeschlossen und bekommen die besitzenden Klassen die Möglichkeit, [93] sich dem Volke zu nähern. Die elementare Bedeutung der Abend- und Samstagsschule ist klar. In einem Lande wie Galizien, wo es so viele erwachsene Analphabeten gibt, sind solche Schulen ein wahrer Segen für das Volk. Die Baron Hirsch-Stiftung hat die Bedeutung dieser Schulen schon in den ersten Jahren ihres Bestehens eingesehen, indem sie an ihren meisten Schulen Abendklassen eingerichtet hat. Nach dem Berichte von 1901 unterhält die Baron Hirsch Stiftung 31 solcher Abendschulen, in welchen über 1600 Menschen aus dem Dunkel der Unwissenheit herausgerissen werden.
Die Abendschulen haben jedoch noch einen weiteren Wert. Sie entziehen den Mann der Schänke und die Frau der Straße; sie erwecken im Volke das Bedürfnis nach einer freundlichen und anregenden Geselligkeit und führen zur Erweiterung seines ganzen Gesichtskreises. Es muß mit Bedauern ausgesprochen werden, daß die Baron Hirsch Stiftung für die jüdischen Mädchen in dieser Richtung nichts getan hat.
Dabei haben es die Mädchen noch nötiger als die Männer, denn für sie existiert in Galizien gar keine Möglichkeit einer geistigen Geselligkeit: ihre ganze freie Zeit gehört der Straße, und jeden Abend sind sie neuen Versuchungen ausgesetzt.
Der genannte zionistische Mädchenverein in Stanislau hat eine Abend- und Samstagsschule für Mädchen eingerichtet, in der die Mitglieder des Vereines unentgeltlich unterrichten. Sonst haben wir von keiner einzigen Abendschule für Mädchen und Frauen in Galizien gehört – und dies in einem Lande, wo das jüdische Volk kaum die Umgangssprache beherrscht, wo ein großer Prozentsatz der Bevölkerung Analphabeten aufweist, wo die jüdischen Mädchen nirgends die Möglichkeit haben, auf gemütliche und angenehme Art zusammenzukommen, um etwas zu lernen oder zu hören.
Dabei ist die Errichtung von Abend- und Samstagsschulen ebenso billig wie die Einrichtung von Horten. Es gehört dazu ein Schulraum, den man in einer lokalen jüdischen Schule unentgeltlich oder gegen eine sehr kleine Entschädigung bekommen kann, und geeignete Lehrkräfte, die sich zum Teil ebenfalls unentgeltlich aus intelligenten Volksfreunden rekrutieren lassen. Dazu kämen noch die Kosten für Heizung und Beleuchtung. Es wäre den [94] jüdischen Haushaltungsschulen zu empfehlen, einer solchen Abend- oder Samstagsschule einen Raum zur Verfügung zu stellen. An dem Unterricht sollten dabei auch die Schülerinnen der Haushaltungsschule, die zum großen Teil aus Analphabetinnen bestehen, teilnehmen. Ein solches Experiment ließe sich mit am besten an der Stanislauer Haushaltungsschule machen, wo die zionistische weibliche Abendschule bereits anregend gewirkt hat.
Eine solche Abendschule ließe sich mit einer Flickschule vereinigen, wobei die Schülerinnen in zwei Schichten eingeteilt werden müßten, von welchen jede abwechselnd den Unterricht in den Schulfächern und im Flicken genießt.
Auf ähnlichen Prinzipien wie die Abendschulen, werden in Ländern mit einer starken analphabetischen Bevölkerung Mädchenklubs eingerichtet. Die Mädchen werden dort in einige Gruppen eingeteilt, die sich je nach den Bedürfnissen, die sie in die Klubs führt, bilden. Die eine Gruppe wird im Lesen und Schreiben unterrichtet, die andere im Flicken oder Handarbeit, die dritte liest aus einer eigens dazu eingerichteten Bibliothek, die vierte unterhält sich, hört Musik oder irgend einen Vortrag, der zu diesem Zwecke im Raume des Klubs abgehalten wird.
Ein solches Unternehmen ist viel kostspieliger als eine Abendschule und bedarf einer eigenen Gründung. Ein Klub kann aber auch allmählich als Erweiterung einer Abendschule entstehen.
Einen ferneren Schritt zur Erweiterung der Volksbildung und Volkserziehung bilden die Volksuniversitäten. Auch hier haben die Zionisten Galiziens vorbildlich gewirkt. So gibt es zionistische Toynbeehalls in Lemberg und Tarnapol. Wir konnten dieselben leider nicht sehen, da wir während der Ferienzeit dort waren.
Jedenfalls sind solche Unternehmungen zu begrüßen, doch glaube ich, daß die Einrichtung von Abendschulen speziell in Galizien von einer viel größeren Tragweite werden kann, als anderswo. Dort ist das Verhältnis zwischen Schüler und Schulleiter viel intimer, der Leiter kann die Schüler fortwährend beobachten und fördern: er kommt mit ihnen regelmäßig zusammen, kann einen Einblick in ihre Lebensverhältnisse gewinnen und allmählich aus dem Lehrer zum Freunde seiner Schüler werden. Ich bin der festen Überzeugung, daß die Verbreitung von jüdischen Mädchenklubs [95] und weiblichen Abendschulen bei richtiger Leitung in der Bekämpfung des Mädchenhandels Großes erreichen kann.
Die besprochenen Anstalten sind dazu eingerichtet, dem Volke Bildung und Erziehung außerhalb der Familie zuzuführen. Auf die Familie üben sie eine Wirkung aus, die von allergrößter Bedeutung ist; doch genügt sie nicht, wenn sie nicht durch entsprechende Hauslektüre ergänzt wird. Das Bedürfnis nach einer speziell jüdischen Volksliteratur wurde von den Lehrern der Baron Hirsch-Schulen auf den ersten Zeilen ihrer pädagogischen Zeitschrift „Swiatlo“ erkannt, und einige Lehrer gaben bald darauf einige Kindererzählungen aus dem jüdischen Leben in sehr billigen Broschüren heraus. Die bestehende Kinderliteratur genügt für die Bedürfnisse jüdischer Volkskinder nicht, sie führt sie in ein ganz unbekanntes Milieu hinein, das den Begriffen und Gewohnheiten der Kinder ganz fern liegt, und spricht zu ihnen eine Sprache, die sie nicht verstehen; so kann die bestehende Kinderliteratur, so lange besondere Verhältnisse im Charakter und Leben der Juden bestehen, nicht zum geistigen Eigentum des jüdischen Kindes werden. Dasselbe läßt sich von der allgemeinen Volksliteratur sagen. Sie kann sich nicht im jüdischen Volk einwurzeln. Während aber eine jüdische Kinderliteratur erst geschaffen werden muß, gibt es literarische Werke genug, die das jüdische Leben berühren und darum dem jüdischen Volke zugänglich sein müssen. Es wäre die Aufgabe eines jüdischen Volksverlages, diese Werke auszusuchen, zu billigen Preisen herauszugeben und durch Übersetzungen aus fremden Sprachen zu ergänzen. Daneben müßten jüdische Volksbibliotheken bestehen, in denen diese Bücher verliehen oder in Lesehallen ausgestellt werden. Ebenso wertvoll könnte die Herausgabe eines allgemeinen jüdischen Lesebuches für jüdische Volksschulen werden.
Die Lesestücke, die in den vorhandenen Lesebüchern enthalten sind, passen nicht immer für das Verständnis der jüdischen Kinder. Ein gutes Lesebuch für jüdische Kinder müßte erstens eine Anzahl von Lesestücken enthalten, die dem jüdischen Milieu entnommen sind, zweitens in einem Stil gehalten sein, der auf den kleinen Wörterschatz der jüdischen Kinder Rücksicht nimmt und sie allmählich in die Reichtümer der Sprache einführt, drittens aber Lesestücke, die die Ideen einer modernen Volkserziehung in einer populären Weise darstellen.
[96] Letzteres kann auf folgende Weise geschehen. Es müßten kleine Erzählungen aus dem Leben der Juden auf dem Lande, populäre und zugleich ausführliche Beschreibungen des Tier- und Pflanzenlebens mit guten Bildern, Beschreibungen des Lebens der Juden in überseeischen Ländern, Beschreibungen des Lebens in Kindergärten, Horten, Haushaltungsschulen und Krankenpflegeschulen u. s. w. in einer leichten, zugänglichen, angenehmen Form zum Inhalte des Lesebuches gemacht werden. Es ist eine Arbeit, die große pädagogische und schriftstellerische Leistungen verlangt, sie gehört aber meines Erachtens mit zur Reform der jüdischen Volkserziehung.
Wenn es auch nicht in die Kompetenz der Vereine gehört, die mich nach Galizien gesendet haben, diese Ideen der Volksliteratur zu verwirklichen, so fühlte ich mich dennoch verpflichtet, diesen Gegenstand hier zu erwähnen.
Wir sehen, daß die Erscheinung des jüdischen Mädchenhandels uns auf Wege zur Hebung des allgemeinen wirtschaftlichen und geistigen Niveaus des galizischen Juden führt.
Daß in dieser Richtung bis jetzt so wenig getan worden ist, zeigt die große Schuld der jüdischen Gesellschaft gegen ihre armen jüdischen Glaubensgenossen Galiziens.
Der Baron Hirsch-Stiftung ist es gelungen, trotz des Widerstandes der Fanatiker etwas Licht und Luft in das Leben der galizischen Juden zu bringen: viele Gesellschaften und Vereine suchen den armen Juden Galiziens ihr schweres Los zu erleichtern, doch sind im allgemeinen die galizischen Juden von der Philanthropie recht sehr vernachlässigt, und heute stehen wir vor dem Mädchenhandel, einer der schlimmsten Erscheinungen des modernen Lebens, die nur durch eine Anhäufung der traurigsten Verhältnisse erklärt werden kann. Beweist diese Tatsache den Zerfall der jüdischen Familie, einen organischen Fehler in der sittlichen Anschauung der Juden? Keinesfalls. Es erfüllt uns mit Grauen, wenn wir hören, daß jüdische Mädchen, die in überseeischen Ländern sich prostituieren, von dort ihren Eltern Geld senden, während diese nicht einmal wissen, auf welche Weise dieses Geld verdient wird. Betrachtet man aber diese Tatsache näher, so sieht man, daß der Familiensinn auch in diesen Unglücklichen noch lebhaft genug ist, um das Band zwischen Kindern und Eltern zu erhalten. Gegen [97] diesen Familiensinn, gegen die allgemeine Volksmoral, gegen den Wunsch und die Sehnsucht nach einem besseren Leben wenden sich Hunger, Unwissenheit und Laster. Was hilft alle Moral und aller Familiensinn, wenn die jüdischen Mädchen darauf angewiesen sind, in fremden Ländern ihren Erwerb zu suchen; wenn sie in diesen Ländern, deren Sprache und Sitten sie nicht kennen, in die schwerste Not geraten und von betrügerischen, verbrecherischen Leuten umgeben sind, die sie zum Gegenstand des gemeinen Erwerbes und des Lasters machen? Hier hat kein Mensch das Recht, zu verurteilen, so lange nicht alle Wege zur Besserung dieser Zustände betreten waren.
Einen dieser Wege habe ich gezeigt: das ist die Hebung des allgemeinen wirtschaftlichen und geistigen Niveaus der galizischen Juden, speziell der jüdischen Mädchen Galiziens. Diese Hebung macht die Emigration überhaupt überflüssig, oder macht sie die Juden, indem sie auf die Erziehung von intelligenten, arbeitsfähigen Menschen hinausgeht, emigrationsfähig? Dies ist ein Weg, der für die ganze Zukunft der galizischen Juden bestimmend werden muß. So lange aber noch die Resultate dieser Tätigkeit in der Zukunft liegen, muß für die Gegenwart die Regulierung der Emigration jüdischer Mädchen übernommen werden. Dies geschieht schon zum Teil durch die Warnungen für die ins Ausland reisenden Mädchen und Frauen, die von der Hamburger Zweigabteilung des Vereins zur Bekämpfung des Mädchenhandels herausgegeben worden sind.
Diese Warnungen sind mit Angabe von Adressen in verschiedenen Städten Europas versehen, in denen man sich der durchreisenden jüdischen Mädchen annimmt und sie durch Ratschläge und Anweisungen unterstützt.
Jedoch fehlt es noch an Adressen in Amerika, wohin sich der allgemeine Strom der Auswanderung wendet. Es müßte zwischen Amerika und Galizien ein ganzes Netz von Stellungsvermittlungsstätten verbreitet werden, in denen die galizischen Mädchen erfahren könnten, wo und was sie durch die Emigration zu erwarten haben. Diese Stellungsvermittlungsstätten müßten in allen galizischen Städten allgemein bekannt werden. Daneben müßten Emigrationsschulen errichtet werden, in denen die emigrierenden Mädchen mit der Sprache, der Geographie und den Lebensbedingungen des [98] Landes, wohin sie emigrieren sollen, vertraut gemacht und in irgend einem Gewerbe unterrichtet werden. Vielfach könnten diese Schulen durch Emigrationsvereine ersetzt werden, wo den ins Ausland reisenden Mädchen Stellenvermittlung und Gelegenheit zur Vorbereitung für diese Stellung geboten wird.
Man darf sich nicht verhehlen, daß bei dem Mädchenhandel ein Faktor mitspielt, der von keiner Wohlfahrtseinrichtung reguliert werden kann: nämlich, die allgemeine Unsittlichkeit der Männer.
Solange die meisten Männer in der Frau nur eine Sache sehen, die ihre geschlechtlichen Bedürfnisse zu befriedigen hat, werden die Bordelle fortwährend mit verführten Mädchen versorgt werden.
Wenn man es sich auch versagen muß, nach dieser Richtung in der unmittelbaren Zukunft zu helfen, muß man jedoch im Auge behalten, daß der Hauptgrund des Mädchenhandels in der allgemeinen Unsittlichkeit der Männer liegt.
Ich schließe mit der Hoffnung, daß sich Menschen und Vereine finden werden, die der Verbesserung der Lage der galizischen Juden mit allem Aufwand von Kraft und Energie beisteuern werden.
St. Petersburg, 3. September 1903
Fußnoten der Autorinnen
[40] * Einige pädagogische Bemerkungen, die nicht ganz in den Rahmen dieses Berichtes passen, sind direkt an die zuständigen Stellen vermittelt worden.
[54] * So würde ich z. B. raten, Kinder unter einem Jahr nicht aufzunehmen. Deren Pflege ist bekanntlich die schwierigste, und ihr Erfolg wird durch häusliche Unvernunft sehr oft vernichtet. Ein oder der andere Todesfall, der unter den Säuglingen aus Gründen, die mit der Krippe gar nicht zusammenhängen, vorkäme, würde bei dem Aberglauben und Mißtrauen der Bevölkerung einer Neuerung gegenüber, eine solche Volkspflegeanstalt von vornherein in Verruf bringen. Also Vorsicht in der Auswahl und Aufnahme der Kinder und Anstellung eines bezahlten Arztes, der in der Stadt bekannt ist und das Vertrauen der jüdischen Bevölkerung genießt.
[55] * Ein detaillierter Plan für ein solches Erziehungsheim kann in diesem Bericht keinen Raum finden, derselbe ist noch besonders sorgfältig auszuarbeiten.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Julius Plotke (* 5. Oktober 1857, † 27. September 1903), Rechtsanwalt und Kommunalpolitiker in Frankfurt a. M., Mitglied des Vorstands der Jewish Colonization Association.
- ↑ Brody
- ↑ Rynek (poln. Markt)
- ↑ Abgabestelle für Spirituosen aus der Destillerie des Grundbesitzers, von dem Leibeigene bzw. Landpächter bis 1889 eine bestimmte Quote abnehmen mussten, zumeist von Juden betreut; siehe Propination.
- ↑ Baron Maurice de Hirsch (1831–1896), Unternehmer und Philanthrop, der 1873 über Stiftungen an die Alliance Israélite Universelle vor allem den Bau und Unterhalt zahlreicher Schulen ermöglichte.
- ↑ Krakau
- ↑ Lemberg (rus. Lwow).
- ↑ Cheder (hebr. Zimmer): traditionelle, religiös geprägte Schulen.
- ↑ Melamed (hebr. Lehrer für Kinder); siehe Melamed (englisch)
- ↑ knelen (jidd. unterrichten, lehren; von mhd. knellen, knallen, mit der Knute schlagen)
- ↑ Belfer
- ↑ Jargon
- ↑ Vorlage: werd
- ↑ „Königreich Galizien und Lodomerien“ gehörte von 1772 bis 1918 zu Österreich.
- ↑ Jewish Colonization Association
- ↑ Eingefügt: in
- ↑ Juden in der österr. Monarchie mußten nach einem Gesetz Kaiser Josephs II. deutsch sprechen.
- ↑ nach Joseph II.
- ↑ Tarnów
- ↑ Heute Iwano-Frankiwsk.
- ↑ Heute Kolomyja.
- ↑ Dukla
- ↑ Engelmachen
- ↑ Mizwot: die Gebote des Judentums, bzw. deren Erfüllung, hier insbesondere des Gebots der Mildtätigkeit.
- ↑ Heute Solotschiw.
- ↑ Vorlage: Affassuung
- ↑ Vorlage: Galilizien
- ↑ Bezeichnung für den Gebetsmantel bei den Aschkenasim (sonst: Tallit).
- ↑ Heute Sasov, Ukraine, war ab 1830 etwa 100 Jahre lang weltweites Zentrum der Herstellung von in „Spanier Arbeit“ (Kombination von Webarbeit und Stickerei unter Verwendung schwerer Gold- und Silberfäden) ausgeführten Atarot (Halsbänder).
- ↑ Heute Lisna Slobidka.
- ↑ Heute Ukraine, südlich von Iwano-Frankiwsk (Stanislau).
- ↑ Heute Tschortkiw.
- ↑ Sadhora war damals ein Zentrum des Chassidismus. Heute ist es ein Stadtteil von Czernowitz.
- ↑ Vorlage: philantropischen
- ↑ Boryslaw
- ↑ Naphta oder Erdnaphtha war damals eine geläufige Bezeichnung für Petroleum oder Steinöl.
- ↑ Vorlage: einen
- ↑ Vorlage: immmer
- ↑ Heute B’nai B’rith.
- ↑ Vorlage: jüdiischer
- ↑ Die Schatzgräber
- ↑ Vorlage: allgegemeinen
- ↑ Heute Dąbrowa Tarnowska.
- ↑ Żabno
- ↑ Rzeszów
- ↑ Nähe Lemberg.
- ↑ Heute: Ternopil.
- ↑ Heute: Tschortkiw.
- ↑ Vorlage: Slobotka, Lesnia
- ↑ Heute: Obertyn.
- ↑ Heute: Salischtschyky.
- ↑ Heute: Boryslaw.
- ↑ Werkunterricht (Slöjd) in Skandinavien.
- ↑ Teilung, Aufteilung
- ↑ Vorlage: Jewisch
- ↑ Sephorim ist der Plural von hebr. Sepher (Buch).
- ↑ Talessim ist der Plural von jidd. Talles (Gebetsmantel).
- ↑ Vorlage: schafffen
- ↑ Vorlage: ausgegebildet
- ↑ Bonne: Kindermädchen (frz.: bonne d’enfants)
- ↑ Vorlage: geründet
- ↑ Name der 1848 begründeten Einrichtung des Settlement movement (englisch). Idee der Toynbee Halls (englisch) ist, dass Reformer aus der Mittelklasse, die sich um eine Verbesserung der Lebensverhältnisse der Unterschicht bemühen, dies mit größerem Erfolg tun, wenn sie unter denen leben, denen sie helfen wollen.