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ADB:Haën, Anton van

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Artikel „Haën, Anton van“ von August Hirsch in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 10 (1879), S. 311–313, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Ha%C3%ABn,_Anton_van&oldid=- (Version vom 22. November 2024, 01:41 Uhr UTC)
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Haën: Anton van H., Arzt, im J. 1704 im Haag geboren, hatte, mit einer vortrefflichen Allgemeinbildung ausgestattet, die Universität in Leyden bezogen, um sich unter Boerhaave dem Studium der Medicin zu widmen. Hier zeichnete er sich durch einen, von glühendem Wissensdrange getragenen, rastlosen [312] Eifer so sehr aus, daß er nicht nur die Aufmerksamkeit seines großen Lehrers auf sich zog, sondern alsbald zu den bevorzugstesten Schülern desselben zählte. – Nach Beendigung seiner Studien habilitirte er sich in seiner Vaterstadt und war hier zwanzig Jahre lang als vielbeschäftigter, hochgeschätzter Arzt thätig. – Im J. 1754 erhielt v. H., auf Verlassung seines Studiengenossen und Freundes van Swieten, der eben damals mit der ihm von der Kaiserin Maria Theresia übertragenen Reform des medicinischen Unterrichtes und des Medicinalwesens in den kaiserlich österreichischen Staaten beschäftigt war, einen Ruf als Professor der medicinischen Klinik nach Wien. Die glänzenden Bedingungen, welche sich an diese Berufung knüpften und die intimen Beziehungen zu seinem Freunde nicht weniger, wie der wissenschaftliche Ehrgeiz, welcher das ganze Wesen v. Haën’s beherrschte, veranlaßten ihn, wiewol er bereits in höherem Alter stand, dem an ihn ergangenen Rufe Folge zu leisten, und sich damit einer eben so schwierigen als dankbaren Aufgabe zu unterziehen; er hat sich derselben in der glänzendsten Weise entledigt. – Die klinische Methode des Unterrichts in der Medicin war bis dahin auf deutschen Universitäten gar nicht geübt worden; nach dem Muster einiger italienischer medicinischer Facultäten hatte dieselbe in den Niederlanden, namentlich in Leyden Platz gegriffen, wo sie zuerst von Sylvius de la Boë eingeführt und später von Boerhaave auf den für jene Zeit möglichst hohen Grad der Entwickelung gebracht worden war, und mit der Ueberpflanzung dieser Methode nach Wien hat v. H. nicht nur den Glanz der „alten“ Wiener Schule begründet, sondern auch ein Beispiel für die andern deutschen Universitäten gegeben, an welchen bald darnach klinische Institute für die verschiedenen Gebiete der praktischen Heilkunde errichtet wurden. – Als getreuer Schüler und Anhänger Boerhaave’s huldigte v. H. jener wissenschaftlich empirischen Richtung in der Medicin, welche, nach ihrem Begründer mit dem Namen der „Hippokratischen“ belegt, die Voraussetzungslosigkeit in der Beobachtung und die strengste Objectivität im Urtheile und Schlusse auf ihre Fahne geschrieben, und welche, viele Jahrhunderte hindurch von den Jüngern der Wissenschaft verkannt, in Sydenham und später in Boerhaave ihre würdigsten Vertreter gefunden hatte. – In dem Geiste dieser Männer, deren Namen sich auch fast ausschließlich in seinen Schriften citirt finden, dachte, forschte und lehrte v. H.; als entschiedenster Feind jeder Theorie trat er gegen die eben damals in höchster Blüthe stehenden chemiatrischen und iatrophysischen Systeme in die Schranken – ein Umstand, der auch seine Abneigung und Polemik gegen die von Haller entwickelte Irritabilitätslehre[WS 1] erklärlich macht – und in dieser nüchternen Auffassung, welche er von der Aufgabe der medicinischen Wissenschaftslehre hatte, übertraf er selbst noch seinen Lehrer und dessen Commentator, van Swieten, dem er an umfassendem Wissen und gründlicher Bildung nicht nachstand. Mit seinem unermüdlichen Fleiße, seiner Begeisterung für die Wissenschaft und seiner glänzenden Rede wirkte er – ein Kliniker par excellence – zündend auf die Zuhörer, welche nach Wien strömten, um seines Unterrichtes theilhaftig zu werden. – v. H. hatte nur einen Genuß: Arbeit, aber auch nur einen Gedanken: sich selbst, und eben daraus erklären sich viele Schattenseiten in dem Charakter dieses bedeutenden Mannes, dessen Ehrlichkeit, Offenheit und Gutmüthigkeit übrigens von allen seinen Zeitgenossen gerühmt wird. – Seine Erfolge in der Wissenschaft und im öffentlichen Leben, sowie später seine Stellung am Hofe – er wurde im J. 1772, nach dem Tode van Swieten’s, Leibarzt der Kaiserin mit dem Titel Archiater – die unbeschränkte Macht, welche er über seine ganze Umgebung und namentlich über die Aerzte ausübte, steigerten sein ungemessenes Selbstvertrauen zum krassen Uebermuthe und stachelten seine Eitelkeit, welche durch die geringste Veranlassung, durch einen Widerspruch, durch ein Lob seiner Feinde, ja selbst durch eine Anerkennung [313] seiner Freunde sich verletzt fühlte. Dabei war er in der Form des gesellschaftlichen Umgangs wenig gewandt, in seinem Auftreten und Ausdrucke schroff, in seinem Tadel nicht selten ungerecht, in seinen kritischen Angriffen bissig. Ein treffendes Beispiel hiefür gibt besonders sein Auftreten gegen Haller, dessen Irritabilitätslehre er in mehreren Schriften („Difficultates circa modernorum systema de sensibilitate corporis humani“ 1781 und „Vindiciae difficultatum circa modernorum systema etc.“, 1762) angriff, und die Art, wie er diesen Streit führte; Haller antwortete auf die heftigen Angriffe in seiner Manier, und schließlich konnte v. H., der übrigens in der Hauptsache nicht ganz Unrecht gehabt hatte, nicht umhin, eine Art Abbitte zu leisten, indem er erklärte: virum proinde dignissimum esse, quem omnes germani per universum orbem artis filii, veneremur atque tanquam medicinae cultorem inclytum, promotoremque indefatigatum suspiciamus“. – Auch sein Verhältniß zu van Swieten, dem er seine Stellung verdankte, wurde schließlich gelockert und getrübt, da auch dieser seinen Angriffen nicht entging; nur vor einem Menschen hat er bis zum Ende seines Lebens die vollste Hochachtung gehabt – vor Boerhaave. – Eine andere Eigenthümlichkeit in dem Charakter van Haën’s war seine Hinneigung zur Mystik und zum Aberglauben, mit welcher er sich im vollsten Widerspruche zu seiner Aufklärung in allen wissenschaftlichen Dingen befand; man könnte fast auf die Vermuthung kommen, es sei ihm damit eben so wenig, wie mit andern seiner Ansichten Ernst gewesen, die er gegen die bessere Ueberzeugung geäußert hatte, um Opposition zu machen, wenn er nicht in einzelnen, übrigens den letzten Jahren seines Lebens angehörigen Schriften „De magia liber“ 1775 und „De miraculis liber“, 1776), in welchen er umfangreiche Betrachtungen über Wunder angestellt und die eben damals geläufige Theorie von der Zauberei und den Verhexungen aufrecht zu erhalten sich bestrebt gezeigt hat, den Beweis geführt hätte, wie ernst ihm die Sache war. – Unter den litterarischen Arbeiten v. Haën’s (ein vollständiges Verzeichniß derselben findet sich in Biographie medicale V, p. 13) nehmen die von ihm veröffentlichten Jahresberichte über seine praktische Thätigkeit in dem von ihm geleiteten Krankenhause („Ratio medendi in nosocomio practico Vindobonensi“, XV Voll. und „Continuatio“, III Voll. 1758–1779) die erste Stelle ein; sie enthalten einen Schatz ausgezeichneter Beobachtungen und geben den Beweis, wie gewissenhaft er von den Leistungen seiner Zeitgenossen Kenntniß genommen – man findet hier die erste praktische Verwendung der von seinem Collegen Auenbrugger erfundenen Untersuchungsmethode der Brustorgane durch die Percussion – wie umsichtig und geistreich er alle für die Untersuchung der Kranken gebotenen Hülfsmittel benutzt – er ist der erste, der die Thermometrie am Krankenbette geübt – und wie richtig er den hohen Werth der Leichenuntersuchung für das Verständniß der Krankheitsprocesse geschätzt hat. – Von der Schärfe seiner Kritik zeugt u. a. seine kleine Schrift über den Schierling („De cicuta“ 1765), in welcher er auf die Täuschungen hinweist, welchen sich die Aerzte (und namentlich sein College Störck in Bezug auf die Heilkräftigkeit dieses Mittels bei verschiedenen Krankheiten hingegeben haben, und wie alle die mit der Anwendung desselben angeblich erlangten Resultate auf diagnostischen Irrthümern oder auf übereilten Schlüssen beruhen. – 22 Jahre lang war es v. H. vergönnt, sich seiner großen Erfolge in der Wissenschaft, in der Lehre und im öffentlichen Leben zu erfreuen; er starb am 4. September 1776.

Ueber sein Leben und seine Leistungen vgl. Hecker, Geschichte der neueren Heilkunde, Berl. 1839. S. 397–428.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Irritabilitäslehre