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ADB:Rütimeyer, Karl Ludwig

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Artikel „Rütimeyer, Karl Ludwig“ von Gerold Meyer von Knonau in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 53 (1907), S. 654–657, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:R%C3%BCtimeyer,_Karl_Ludwig&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 04:58 Uhr UTC)
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Rütimeyer: Karl Ludwig R., Naturforscher, geboren am 26. Februar 1825 zu Biglen, Kt. Bern, † am 25. November 1895 zu Basel. Aus einer alten stadtbernischen Bürgerfamilie stammend, war R. der Sohn des Pfarrers Albrecht R., der in der Landgemeinde Biglen im mittleren Theil des Kantons Bern wirkte. So nahm er auch selbst an ländlicher Arbeit Theil und gewann aus der ihn umgebenden Natur Eindrücke für das ganze Leben. Erst 1838 kam er nach Bern, nachdem ihn vorher der Vater unterrichtet hatte, und durchlief die dortigen Schulen. Schon da wandte er seinen Fleiß botanischen Studien zu, und ebenso begann er das Berg- und Kartenzeichnen und erwarb sich dadurch eine Fertigkeit, die ihm später bei seinen zoologischen und paläontologischen Werken sehr zu statten kam. Als sich R. 1843 an der Berner Hochschule immatriculirte, geschah es zwar für das Studium der Theologie; doch hielt ihn besonders die von dem Professor der Geologie Bernhard Studer gebotene treffliche Anregung auch stets in Verbindung mit den naturwissenschaftlichen Fächern, bis er dann ganz sich nach dieser Seite wandte, allerdings zunächst zum Brotstudium der Medicin. Schon 1847 löste R. eine akademische Preisfrage über die geologischen Verhältnisse des Gebirges zwischen Emme und Thunersee – des Gebietes, in dem er seine Jugendjahre zugebracht hatte –, die ihm dann als Dissertation diente, und 1850 vollendete er die medicinische Prüfung. Studienreisen nach Paris, ganz besonders dann aber ein Aufenthalt in Süditalien und Sicilien, wohin er als ärztlicher Berather einen jungen kranken Berner Patricier begleitete, füllten die nächsten Jahre aus. Aber sein reges Heimathsgefühl, ebenso die 1855 vollzogene Verehelichung hielten ihn fest. Freilich war seine erste Berufsthätigkeit, seit 1853 als außerordentlicher Professor für vergleichende Anatomie an der Universität [655] Bern, daneben als Lehrer der Naturwissenschaften an der Real- und Industrieschule, keine befriedigende, so daß er für Uebernahme der Lehrstelle für Geologie und Paläontologie am eidgenössischen Polytechnikum in Zürich sich bereit erklärte; doch kam dann da 1855 ein Ruf nach Basel an die neugegründete Professur für Zoologie und vergleichende Anatomie zuvor. R. folgte demselben, obschon auch da noch der naturwissenschaftliche Unterricht an der Gewerbeschule hinzukam. Dieser Universität blieb er, trotz mehrmaliger Berufungen, treu. Basel gab ihm 1867 das Ehrenbürgerrecht, die Universität 1875 den Titel des Doctors der Philosophie; durch zahlreiche Ehrungen von Seiten wissenschaftlicher Körperschaften der Schweiz und des Auslandes wurde er ausgezeichnet. Erst in höheren Jahren schränkte er seine Arbeit, durch Abgabe einzelner Vorlesungen, ein, bis ihm in ehrenvollster Weise auf Neujahr 1894 die Entlassung aus der Activität ertheilt wurde.

Ueber R. urtheilten der Leipziger Anatom His: „Mit R. ist eine Forscher- und Gelehrtennatur edelster Art dahingeschieden, ein Mann voll der fruchtbringendsten Gedanken und von wunderbarer Kraft und Zähigkeit der Arbeit“ und der Zürcher Zoologe Keller: „In der Nachwelt wird R. fortleben, und man wird, um ihm die richtige Stellung anzuweisen, ohne Uebertreibung sagen, daß seit Konrad Geßner die Schweiz neben Agassiz keinen anderen Zoologen hervorgebracht hat, der im Auslande so großen und wohlthätigen Einfluß gewann, wie Ludwig R.“

Als Lehrer wirkte R. durch seine charakteristische Vortragsweise sehr anregend, so daß auch aus anderen Facultäten seine Collegien besucht wurden, doch ebenfalls dadurch eigenthümlich, daß der Vortragende, hierin gleichfalls ganz der Berner, absichtlich seine heimische Aussprache durchklingen ließ. Ueber seine Bedeutung als Gelehrter wurde geäußert: „R. ging auch hier seine eigenen Bahnen. Die Probleme waren ihm weder durch die wissenschaftliche Zeitströmung, noch durch irgend eine Autorität zugewiesen, sondern traten an ihn heran theils im Zusammenhang mit seiner eigenen Entwicklung, wie die Probleme über Thal- und Seebildung, theils auf mehr zufällige Weise, wie diejenige der Pfahlbauten und die Egerkinger Fauna, sowie die Untersuchungen über fossile Schildkröten, indem ihm Funde und Sammlungsobjecte zur Bestimmung vorgelegt wurden. Aber seine ganz ungewöhnliche Kraft, unermüdlichen Fleiß und peinlichste Sorgfalt setzte er nun an die Lösung dieser Aufgaben und führte sie in immer neuen Anläufen und immer neuen kleineren Abhandlungen durch zwei bis drei Jahrzehnte hindurch in einer solchen Weise und mit solchem Geiste aus, daß nicht bloß seine Arbeit als Muster von Zuverlässigkeit und Genauigkeit anerkannt wurde, sondern oft dadurch der Forschung ganz neue Richtungen sich eröffneten“. So war R. von großer Vielseitigkeit.

Zoologie als Naturgeschichte im vollen Sinne des Wortes, zur Auffindung der die früheren Generationen mit den späteren verbindenden Fäden, ist in der durch R. vollzogenen Begründung einer wissenschaftlich-anatomischen Rassenlehre, in Heranziehung der Paläontologie, für die Hausthiergeschichte, wie für die Thiergeographie, geleistet worden. Seine Arbeiten für die Menschheitsgeschichte, im Anschluß an die Forschungen über schweizerische Schädelformen, betrachtete er selbst noch im letzten Lebensjahre als ergänzungsbedürftig. Dagegen bilden die der Erdgeschichte im engeren Sinne gewidmeten Untersuchungen noch heute die Probleme zur Discussion über die Gestaltung der Erdoberfläche. In der Abhandlung „Ueber die Grenzen der Thierwelt“ nahm R. ausdrücklich Stellung zum Darwinismus, indem er aus seinen Untersuchungen über die Wirbelthiere zur Erkenntniß der Veränderlichkeit und Umbildungsfähigkeit [656] der Arten gelangt war, doch im vollen kritischen Verhalten gegenüber der eigentlichen Darwin’schen Theorie, besonders auch der Selections-Hypothese. Hinwider führte ihn sein Interesse an den Bestrebungen des Schweizer Alpenclubs, dessen Jahrbüchern er werthvolle Abhandlungen beisteuerte, zur lebhaften Theilnahme an der Messung der jährlichen Schwankungen der Gletscherbewegung am Rhonegletscher. Für Basel waren seine Messungen und Untersuchungen des Grundwassers von wohlthätigen praktischen Folgen begleitet. Seine tiefere ästhetische Naturerfassung legte er in zwei mehr populär gehaltenen Werken: „Der Rigi“ und „Die Bretagne“ nieder, in denen er es verstand, das Auge dem Leser zu schärfen und weiterhin die Schilderung zur Erklärung zu gestalten, und in seinen Schriften, wie in erst länger nach dem Tode erschienenen Briefen und Tagebuchblättern tritt seine Weltanschauung als eine ethische Naturbeurtheilung zu Tage.

Für Basel leistete R. als Vorsteher der naturwissenschaftlichen Anstalten durch die systematische Vergrößerung, die einsichtsvolle Ergänzung und Anordnung der 1855 in recht kleinem Umfange vorgefundenen vergleichend anatomischen Sammlung, die ganz sein Werk war, wirklich Großes; 1883 fiel ihm die Besorgung der naturwissenschaftlichen Sammlungen überhaupt zu. Der Basler Naturforschenden Gesellschaft erwies er sich in zahlreichen Vorträgen gefällig, wie er auch sonst in solchen vor größere Oeffentlichkeit trat; die schweizerisch-paläontologische Gesellschaft half er gründen. Handlungen edler Pietät vollzog R., indem er stets gern in wohldurchdachten, trefflich charakterisirenden Nekrologen verstorbenen Fachgenossen und Freunden seine dankbare Gesinnung bewies.

R. selbst wurde durch den infolge seiner Reisen ehrenvoll bekannten Basler Naturforscher Paul Sarasin, als 1899 seine Büste in den neu eingerichteten Sammlungsräumen enthüllt wurde, vortrefflich charakterisirt: „Seine Seele dürstete nach Erkenntniß. Sein Wesen war gekennzeichnet durch ein beständiges Suchen nach tieferer Einsicht des Weltganzen, und es gab für ihn keine verbotene Frucht der Naturforschung. Wohl hatte er ein tiefes Gefühl vom Unzureichenden in der menschlichen Einsicht gegenüber dem Wesen der Welt; aber er versuchte sich an Allem. So hinterließ er uns das Bild eines geharnischten Geistes, muthvoll die schwierigsten Probleme aufsuchend und die Stirn ihnen bietend. Es trat ihm, als einem ersten Meister in der Paläontologie, die Wahrheit der Descendenzlehre sofort deutlicher vor das Auge, und manche Stellen seiner Werke äußern sich in zustimmender Weise; es war ihm einleuchtend, daß dieselbe sich auch auf den Menschen beziehen müsse. Als jedoch verkündet wurde, daß eine solche Lehre identisch sei mit einer materialistischen Weltauffassung, als unduldsamer Fanatismus eine solche Auffassung zur Parteisache gestaltete, da wandte er sich von ihr ab und ging schweigsam seinen eigenen Pfad. Gewohnt, die Natur mit einem Gefühle der Andacht zu betrachten, mit dem Auge des Künstlers sie genießend, strebte er nach einer Erkenntniß derselben auf theistischer Basis, in Bakonischem Sinne eine Verbindung dieser Art als die philosophische Endfrucht wissenschaftlicher Forschung betrachtend“.

Vgl. außer den durch Leopold Rütimeyer, am nachher zu nennenden Orte, S. 2–3, erwähnten Nekrologen in Zeitungen C. Schmidt, in den Verhandlungen der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft 1895 (mit einem chronologischer: Verzeichniß der Publicationen – nach 1896 kamen noch hinzu: „Gesammelte kleine Schriften, nebst autobiographischer Skizze“, Band I u. II, herausgegeben von H. G. Stehlin, 1898, und: „Briefe und Tagebuchblätter – Anhang: Drei Gedenkreden“, herausgegeben von Leopold [657] Rütimeyer, 1906), ebenso von C. Schmidt: „L. R. als Gebirgsforscher“, im Jahrbuch des Schweizer Alpenclub, Band XXXI, 1896, ferner His, im „Anatomischen Anzeiger“, Band XI, 1896, R. von Hanstein, in „Naturwissenschaftliche Rundschau“, Jahrgang XI, 1896, H. G. Stehlin, in „Korrespondenzblatt für Schweizer Aerzte“, Band XXV, 1895, Umlauft, in „Deutsche Rundschau für Geographie und Statistik“, Band XVIII, 1896, Theoph. Studer: „Ueber den Einfluß der Paläontologie auf den Fortschritt der zoologischen Wissenschaft“, 1896, besonders auch L. E. Iselin, dessen vielfach an die Schrift „Ungeordnete Rückblicke auf den der Wissenschaft gewidmeten Theil meines Lebens, geschrieben in den Jahren 1888–1895“ sich anlehnendes Lebens- und Charakterbild zuerst im „Basler Jahrbuch“ von 1897 erschien und 1906 – nebst P. Sarasin’s „Kurzen Worten der Erinnerung“ von 1899 – den „Briefen und Tagebuchblättern“ wieder vorangestellt wurde.