ADB:Sichel, Julius
Stricker), nach der anderen in Würzburg (Wecker). Jedenfalls siedelte er aber 1822 nach Berlin über und promovirte daselbst 1825 mit der Dissertation: Historiae Phthiriasis internae verae fragmentum. Er war darauf Assistent bei Schönlein in Würzburg und bei Friedrich v. Jäger [148] in Wien und ging auf Anrathen des letzteren 1830 nach Paris, wo er zunächst vorzugsweise theoretischen Studien oblag und sich zum französischen Staatsexamen vorbereitete. Er machte dasselbe 1833 mit der Schrift: „Propositions générales sur l’ophtalmologie, suivies de l’histoire de l’ophtalmie rhumatismale“ (in deutscher Uebersetzung von Philipp, Berlin 1834) und erwarb gleichzeitig den Titel eines „licencié des lettres“. Der Schritt, den S. mit seiner Niederlassung in Paris that, war für seine fernere Laufbahn entscheidend, für den Bestand und Fortschritt der Augenheilkunde in Frankreich von höchster Bedeutung. Die Augenheilkunde lag nämlich zu Anfang dieses Jahrhunderts in Frankreich gänzlich darnieder; nur ganz wenige Chirurgen gaben sich mit Operationen ab, und der Durchschnitt der Aerzte wußte aus Mangel an jeglicher Unterweisung im Universitätscurse nichts von Augenkrankheiten; so fiel deren Behandlung Quacksalbern und herumziehenden Künstlern zu. S. gebührt das große Verdienst, eine wissenschaftliche Augenheilkunde in Frankreich gegründet zu haben. Der erste Schritt dazu war die Errichtung einer Klinik im J. 1832, der ersten Augenklinik in Paris, und die Abhaltung von Vorlesungen. Sichel’s Klinik erlangte bald hohe Bedeutung und seine Privatpraxis wurde die ausgedehnteste der damaligen Zeit. S. stieg nun in seiner Lebensstellung von Staffel zu Staffel: er wurde Augenarzt der Erziehungsanstalten der Ehrenlegion, beständiger Ehrenpräsident des internationalen ophthalmologischen Congresses, Ehrenpräsident des deutschen ärztlichen Vereins u. a.; 1867 kam S. für den durch Civiale’s Tod freigewordenen Sitz in der Akademie in Frage; er blieb jedoch mit 10 gegen 45 Stimmen gegen Larrey in der Minderheit, der einen mächtigeren Einfluß zur Seite hatte. – Wie hier, so hatten in der glänzenden Laufbahn, auf die S. schon im besten Mannesalter zurückblicken konnte, sich ihm mannigfache Hindernisse in den Weg gestellt: es bedurfte der ganzen unermüdlichen Arbeitskraft Sichel’s, um sie zu überwinden. Den besten Beweis dafür liefert seine Erwähnung in dem 1845 von Sachaile herausgegebenen Buche: Les médecins de Paris, wo ihm, dem ersten Ophthalmologen des damaligen Frankreich, – jegliche Bedeutung abgesprochen wird und an Stelle sachlicher Erörterung allerlei kleinliche und hämische Bemerkungen treten, deren Beweggrund – Brotneid – nur zu deutlich zu ersehen ist. Wir erfahren aber aus dem interessanten Schriftstück, daß S. in wahrhaft großem Stile arbeitete: er ist der gesuchteste Augenarzt, hält von 7 bis 12 Uhr Vormittags Sprechstunde, Nachmittags um 2 Uhr beginnt seine Thätigkeit auf der Klinik – und diese enorme praktische Thätigkeit sah S. nur als Dienerin seiner wissenschaftlichen Studien an, neben dieser Thätigkeit hat er Zeit gefunden und Kraft besessen, seine ärztlichen Erfahrungen durchzuarbeiten und litterarisch zu verwerthen und nebenher noch selbständige Studien auf anderen Gebieten zu treiben. Bei Gelegenheit seiner Candidatur zur Akademie (1867) gab S. ein Verzeichniß seiner Schriften heraus: dasselbe umfaßt 140 Nummern verschiedensten Umfangs und verschiedenster Gebiete. Besonders der Zeitraum von 1840–1860, mit dem Abschluß der „Iconographie ophthalmologique“ endend, stellt eine Periode intensivster litterarischer Thätigkeit dar; die „Gazette des hôpitaux“ sowie die „Annales d’ocultistique“ bringen fast in jedem Bande einen oder mehrere Beiträge aus der Feder des rastlos thätigen Gelehrten; die Zahl der Veröffentlichungen steigt mehrfach während eines Jahres auf 10 und selbst 15. Mit dem Abschluß des genannten Zeitraums nimmt die Zahl von Sichel’s Veröffentlichungen ab, und neben den rein medieinischen Schriften nehmen solche anderer Gebiete einen größeren Raum ein als früher. Thätig war jedoch S. bis an sein Lebensende; drei Wochen vor seinem Tode hat er seine letzte Arbeit „Geschichte der Operation des grauen Staars durch die [149] Methode des Aussaugens“ (Archiv für Ophthalmologie 14) vollendet. Sie ist im obengenannten Verzeichnisse noch nicht enthalten. Dasselbe zählt im übrigen 107 ophthalmologische, 4 medicinische oder chirurgische Werke im weiteren Sinn und 8 Schriften zu Geschichte der Medicin auf. Sichel’s Hauptwerk ist die 1852–59 erschienene „Iconographie ophthalmologique, ou description des maladies de l’organe d la vue, comprenant l’anatomie pathologique, la pathologie et la thérapeutique médico-chirurgicales“ (Text von 823 Seiten und Atlas von 80 Tafeln in 4°). „S. gibt in ihr eine bündige, besonders die Diagnose scharf bezeichnende Darstellung der Augenkrankheiten mit colorirten Abbildungen, deren künstlerische Ausführung und Naturtreue kaum etwas zu wünschen übrig läßt. Sie machen den wichtigsten Theil des Werkes aus. Der Text soll nur als Commentar dienen“ (Cannstatt, Jahresbericht 1853). Die Iconographie ist die Frucht zwanzigjähriger Arbeit und umfaßt vieles von dem, was S. früher in kürzerer Form mitgetheilt. Es kann hier weder auf dies, noch auf die übrigen medicinischen Schriften Sichel’s näher eingegangen werden. Es mag nur bemerkt sein, daß S., obwohl Specialist, niemals den Blick für das Ganze verlor, im Gegentheil stets von seinem Specialfach ausgehend in diesem den Schlüssel zur Lösung allgemeinerer Fragen suchte. Dieser weitere Blick zeigt sich besonders in den auf die Geschichte der Medicin bezüglichen Arbeiten, bei deren Abfassung S. neben allem anderen besonders seine umfassenden Sprachkenntnisse zu statten kamen; konnte er doch selbst arabische Schriftsteller in den Kreis seiner Darstellung ziehen.
Sichel: Julius S., berühmter Augenarzt und ausgezeichneter Entomologe, dabei auf dem Gebiete der Archaeologie und Philologie thätig, einer der fleißigsten und vielseitigsten Gelehrten, geboren am 14. Mai 1802 zu Frankfurt a. M., † am 11. November 1868 zu Paris. S. besuchte bis zum 18. Jahre das Gymnasium seiner Vaterstadt und begann 1820 seine medicinischen Studien, nach der einen Quelle in Tübingen (Neben der Ophthalmologie war es die Entomologie, speciell das Studium der Hymenopteren, in der S. am meisten thätig war; dieselbe ist mit 25 Arbeiten in der obigen Aufzählung vertreten. S. war der bedeutendste Kenner der Hymenopteren, der bis jetzt lebte, und besaß eine Sammlung, die noch heute einzig dasteht. Sie wurde von S. dem Museum des Jardin des plantes vermacht; das Britische Museum zu London wie das Senckenbergische zu Frankfurt a. M. thaten vergebliche Schritte, sie zu erwerben. Sichel’s Schriften über Hymenopteren, darunter als umfangreichste die „Études hyménoptérologiques“ 1865, sind fast sämmtlich in den „Annales de la Société entomologique de France“ erschienen, deren Alterspräsident S. geraume Zeit war. Auch hier, auf dem engumgrenzten Felde der zoologischen Wissenschaft suchte S. Aufschluß über Fragen allgemeinen Interesses zu erhalten; das Verhältniß von Art und Varietät, der Zusammenhang der Formen beschäftigte ihn; seine letzte Veröffentlichung zoologischer Natur führt den Titel: „Considérations sur la fixation des limites entre l’espèce et la variété, fondées sur l’étude des espèces du genre hyménoptère Polistes.“ (Comptes rendus Paris 67. 1868.)
S. starb an den Folgen einer Steinoperation; zehn Jahre hatte er sein Leiden mit Geduld ertragen, so lange als es ihn nicht an der Thätigkeit hinderte. Als dies eintrat, war er zur Operation entschlossen, da ihm ein Leben ohne Arbeit unerträglich war; den Vorstellungen der Freunde hielt er entgegen, er sei Philosoph genug, um auch einen unglücklichen Ausgang gleichgültig hinzunehmen. Der Ausgang war unglücklich; ein Leben voll rastloser, unermüdlicher Thätigkeit war beendet, nach den Worten der Schrift ein köstliches Leben, wie kaum ein zweites.
- Nekrolog von Wecker, Monatsblätter für Augenheilkunde. 1869. S. 33. – Biographie von Stricker in: Hirsch, Biogr. Lexikon der Aerzte V, 386. – Notice sur 1es travaux scientifiques de M. Sichel. Paris 1867. 4°. 73 p. – Sachaile, Les médecins de Paris. Paris 1845. – Annales d’oculistique 1869. p. 92.