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Das Gelübde einer dreißigjährigen Frau

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Textdaten
Autor: Marie Tihanyi Sturza
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Titel: Das Gelübde einer dreißigjährigen Frau
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Erscheinungsdatum: 1905
Verlag: Arthur Cavael
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Commons
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Das Gelübde einer dreißigjährigen Frau


Roman
von
Marie Tihanyi Gräfin Sturza



Leipzig · · · · Arthur Cavael · · · · 1905
I.

„Anna! – Anna! Hören Sie denn nicht? Es läutet schon zweimal, und Sie machen noch immer nicht auf!“

„Natürlich habe ich gehört; das ist doch kein Grund, alles aus der Hand fallen zu lassen, es brennt ja nicht im Haus. Aber den Leuten da ist es wohl einerlei; sie glauben, man hat nichts anderes zu tun, als ihrer Läuterei nachzulaufen,“ brummte die brave alte Anna in ihrer Küche vor sich hin.

Die Tür zum kleinen Salon, in dem Fräulein Deaken vor einem mit Heften ganz beladenen Tische saß, stand offen. Sie korrigierte eines dieser Hefte.

Ein drittes Mal ertönte die Glocke, diesmal schon mit allen Zeichen von Ungeduld.

„Oho, das ist aber doch schon zu arg,“ sprach Fräulein Deaken sich erhebend und schleppte sich schweren Schrittes zur Tür: „Ich versichere Sie, Anna, so kann es nicht mehr weiter gehen – wenn ich selbst die Tür öffnen muß …“

„Gut, gut, ich geh’ ja schon, bemühen Sie sich nicht, gnädiges Fräulein,“ sprach Anna, indem sie sich den Zipfel ihrer fleckigen Schürze in den Gürtel steckte. „Es ist sicher Fräulein Stella – nur die macht solchen Randal – da sehen sie, was habe ich gesagt?“

„Sie sind geradezu unausstehlich!“ wandte sich Fräulein Deaken zu der alten Magd. „Gehen Sie in Ihre Küche und machen Sie die Türe zu.“

Anna tat trotz der Rüge nichts dergleichen, sondern stellte sich vor Fräulein Deaken hin: „Ich sollte aber doch schon einmal wissen, was ich für Mittag zu kochen habe,“ erwiederte sie.

„Geben Sie endlich Ruh’ und schauen Sie, daß Sie in die Küche kommen. – Ich bitte um Entschuldigung, meine Damen, dieser alte Eigensinn bringt mich ganz aus der Fassung… Treten Sie ein, meine Damen.“

Eine junge Frau und ein junges Mädchen traten lächelnd ein, sie schienen es gewohnt zu sein, derlei Zänkereien hinter der geschlossenen Türe des Fräulein Elise Deaken zu hören.

Bon jour, Miß, wieder ein Streit mit Ihrer sweatmaid?“ fragte das junge Mädchen, Stella Ellissen, indem sie eine Ledermappe mit Heften und Büchern auf den Tisch und ihren Hut auf den Divan warf – aber auch schon vor dem Spiegel stand, um ihre zerzausten Haare zu ordnen – die Arme erhoben, die Brauen gerunzelt, den Mund gespitzt, denn ihre blonden Löckchen waren rebellisch geworden.

Frau von Ellissen und der „englische Professor“, wie man Fräulein Deaken in vertrautem Kreise nannte, drückten sich mit freundlichem Blicke die Hand.

„Haben wir auch gearbeitet?“ fragte die Miß in zweifelndem Tone.

„Ein wenig… Entsetzlich, diese Gedichte von Tennyson… Ich möchte lieber übersetzen.“

„Was denn, kleine Närrin?“

„Etwas von Swinbure – oder lieber gar nichts, wenn ich aufrichtig sein soll.“

„Aber, aber, sei doch vernünftig. Man muß lernen, um etwas zu wissen.“

„Was zu wissen? Englische Gedichte auswendig schnattern? Welch albernes, dummes Zeug!“

„Stella,“ sagte Frau von Ellissen sanft, „welche Sprache, welcher Ton!“

Yes, my mother, I know. Ich bin nun einmal eine schlecht erzogene Tochter, du hast mich zu spät in die Hand bekommen; ich sehe es ja ein. Aber man muß sich daran gewöhnen, es ist der Schick der modern erzogenen jungen Mädchen.“

Frau von Ellissen zuckte leicht die Achseln mit dem sanften Lächeln, setzte sich und blätterte in den Büchern, die auf dem Tische lagen, während Miß Stella’s Hefte prüfte.

Der Unterricht begann, unterbrochen von vorlauten Bemerkungen Stella’s, mitunter auch von einem kurzen Meinungsaustausch zwischen Miß und Frau von Ellissen. Letztere ließ sich auf einen Stuhl am offenen Fenster nieder, das auf den Kirchenplatz ging und zerstreute sich an dem einförmigen, schleichenden Hin und Her der Provinzler; dann lehnte sie sich hinaus und schaute auf die romantische Vorhalle der Kirche, deren Schwelle zu dieser Stunde niemandes Fuß überschritt.

Die Miß wandte sich an die junge Frau:

„Haben Sie nicht im Vorbeigehen dem Orgelspiel ein wenig zugehört?“

„Wir sind sogar eingetreten, um besser zu hören,“ antwortete Frau von Ellissen, „es wurden Gesänge und Präludien von seltener Schönheit geprobt.“

„Wirklich ganz herrlich,“ bemerkte Stella, die sich mit den Ellenbogen auf den Tisch gelümmelt hatte und mit ihrer Hand die Feder anmutig im Kreise herumtanzen ließ.

Die Miß versuchte, ihr einen unzufriedenen Blick zuzuwerfen und erteilte ihr eine kleine Rüge:

„Ihre Aufgaben, Stella … doch etwas schneller, nicht so nachlässig.“

„Ich arbeite ja, Miß, darf man denn nicht einmal verschnaufen?“

Als Stella sich wieder an das Schreiben machte, wandte sich Miß neuerdings an Frau von Elissen:

„Ja, man übte die von Friedrich Seuriet komponierte Hymne, welche zu Ostern aufgeführt werden soll.“

„Unter der Leitung Ihres Bruders, nicht wahr?“

„Nein, Franz hat für diese Aufführung seinen Platz einem seiner Schüler übertragen.“

„Also doch!“ sagte Stella sich umwendend. „Ich merkte gleich, daß auf das Instrument schrecklich eingehauen wurde.“

„Stella, du bist ungezogen,“ rief Frau von Ellissen.

„Lassen Sie nur,“ entgegnete die Miß mit einem leichttraurigen Lächeln. „Stella ist aufrichtig und wir wissen, daß ihr das Spiel meines Bruders nicht so gut gefällt, wie das des Baron Seuriet.“

„O nein, Miß, das ist nicht richtig; nicht das Spiel des Herrn Deaken ist es, daß mir nicht gefällt, sondern das, was er spielt. Und würde er auch Seuriet, Bach, Frank oder Berlioz spielen – Sie sehen ich bin nicht wählerisch – ich würde, es geradeso bewundern, wie Ihr beide, was nicht wenig heißen soll, hu? Mich langweilt all dies Zeug – ich habe immer Lust dabei zu singen: „Manon, Manon“ oder „Ihr Engel rein, vom Himmel her“, anstatt mich ins Gebet, in tiefe Andacht zu versenken. Ich kann nichts dafür, daß ich so bin – ich bin eben so!“

„Sagen Sie mir nur, wo Sie das alles hernimmt?“ fragte Frau von Ellissen in einem Ton, der unzufrieden schien.

„Keinesfalls aus den Gedichten von Tennyson,“ antwortete die Miß und schlug mit der Hand leicht auf das vor ihr liegende Buch, um die Aufmerksamkeit ihrer Schülerin zu wecken.

„Wie? noch?“ brummte Stella leise.

„Sie haben ja noch nicht einmal angefangen. Ich bemerke Ihnen, daß ich Sie hier behalten werde, bis Sie mit der Seite fertig sind.“

„So? Dann – du hast gehört, Mama, da kannst du spazieren gehen. Ich schlafe hier. Miß, haben Sie ein Zimmer? – mit einem guten, weichen Bett – wo sich’s süß träumen läßt – zum Beispiel von Faust und Gretchen? Ich sag’s Ihnen lieber gleich, ich beanspruche ein gutes Kopfkissen, also überlegen Sie sich’s!“

„Sie ist wirklich fürchterlich!“ erwiderte die Miß lächelnd und wider Willen an dem verzogenem Kinde Gefallen findend, das sie hatte aufwachsen sehen. Und schließlich ist es eine traurige Berufspflicht, niemals recht ernstlich zu schelten, selbst wenn man im geheimen vor Abspannung, Langeweile, Gereiztheit über solch quälendes Geschwätz weinen möchte.

Frau von Ellissen stand auf und knöpfte sich die Handschuhe zu:

„Dann habe ich Zeit, einige Besuche zu machen … Ich hole dich in einer Stunde ab; nicht wahr, Miß?“

Die Miß machte ein Zeichen des Einverständnisses, ohne das Stella es bemerkte. Das junge Mädchen wandte mit einer drolligen Grimasse seinen blonden Kopf:

„Mich abholen? Stets knapp auf meiner Ferse sein, als wäre ich immer noch fünf Jahre alt? Nein, wirklich, Mama, du glaubst nicht, wie albern das ist. Ein längst überwundener Standpunkt, diese Art, junge Mädchen zu erziehen! Sagen Sie ihr doch, Miß, Sie, die in Amerika erzogen sind, daß wir hier als kleine Gänse aufwachsen, duckmäuserisch, scheu, wie Puppen, ohne jede Selbständigkeit. Wir werden behütet bis ins höchste Alter … Mama, ich bin achtzehn Jahre alt!“

„Ja achtzehn Jahre …“ wiederholte Frau von Ellissen.

„Du meinst also, man müsse behütet werden bis man heiratet. – Ich glaube nicht daran, daß uns Mädchen der Verstand und die Weisheit erst mit der Ehe kommen; wo ich mich heute nicht zu benehmen weiß, werde ich es morgen auch nicht können, wenn ich auch das Recht habe, mich Frau zu nennen. Brr! Da fängt erst dann das leben an. Das Wort Frau verdeckt viel, ja, alle Türen sind dann offen, und man kann fliegen, wohin man nur will, allein. – Ja, das ist eine Logik! – Also du denkst, wenn ich jetzt so, mit meiner ledernen Mappe unter dem Arm, allein, unbehütet nach Hause ginge, ich würde ganz Entsetzliches riskieren? Wenn mir aber dieses Risiko angenehm wäre, was dann, schönes Mamachen?“

„Es handelt sich hier nicht um Risikos,“ sprach die Miß, „sondern um die gute Sitte, liebes Kind. Wir sind hier nicht in London und nicht in New York, wir sind hier in einer Provinzstadt.“

„Ach ja!“

„Eine Stadt aus heutiger Zeit, Die ’nen Schwarm Arbeiter in die Straßen speit. Brave Leute.“

„Möglich. Aber von mangelhafter Bildung und nicht gewohnt, wohlerzogene Mädchen abends allein auf der Straße zu sehen.“

„Sie wurden mich natürlich auffressen?“

„Nein, das wohl nicht, aber sie könnten Flegeleien zu hören bekommen.“

„Sie glauben doch nicht, Miß, daß ich ihnen nicht zu antworten wüßte, welcher Art immer diese Flegeleien auch wären.“

„Stella,“ seufzte Frau von Elissen, „Du machst mir Kummer!“

„Aber süßes, schönes Stiefmütterchen, sprich doch nicht so. Du weißt genau, daß ich nur etwas übermütig bin! Mit solchen Flausen gibt man aber dem Geist der Kinder eine falsche Richtung. Geh’, du wirst dich ändern, und ich werde dich bekehren.“

„Wozu wirst du mich bekehren?“

„Ich werde dich die Grundsätze von der Freiheit des Weibes lehren!“

„Wenn du keine anderen Argumente hast …“

„Oh! ich habe auch noch andere.“

„Stella,“ rief die Miß. „Ihre Aufgaben, arbeiten Sie doch!“

„Auf allerhöchsten Befehl, nicht wahr? So tust du meinem Geschmack, meinen Bestrebungen, Gewalt an. Du unterwirfst mich einer Erziehungsmethode, die meinem innersten Fühlen widerstrebt. Und du meinst, ich soll mich dagegen nicht auflehnen?“

„Wenn Sie mit Ihrer Auflehnung fertig sind, Stella,“ sagte die Miß mit sanfter Stimme aber entschiedenen Tones, „werden Sie einsehen, daß ich meine Zeit verliere. Und diese Zeit ist kostbar, ich lebe von meiner Arbeit. Es ist viel besser, an seine Pflichten gegen andere zu denken, als an die Rechte die man allenfalls für sich selbst geltend machen könnte.“

„Ich bitte um Verzeihung, Miß,“ murmelte Stella ein wenig beschämt. Aber eine strenge Falte, die plötzlich zwischen ihren Brauen erschien, bezeugte ebensowohl die Hartnäckigkeit ihres Gedankens, als die Unzufriedenheit darüber, sich einer Bemerkung unterwerfen zu müssen, gegen die ihr Geist sich auflehnte.

„In einer Stunde,“ sprach Frau von Ellissen, indem sie sich zur Türe wandte. Und sich umkehrend: „Ich werde den Wagen schicken, Euch beide abzuholen. Sie speisen doch heute abend bei uns?“

„Ich bin heute sehr müde und habe noch alle diese Hefte zu korrigieren,“ antwortete die Miß.

„Der Wagen wird Sie zeitig zurückbringen,“ sagte Frau von Ellissen. „Und vergessen Sie nicht, Ihrem Bruder ein Wort zurückzulassen, daß er nachkommen möge.“

„Hm,“ meinte die Miß und warf einen malitiösen Blick auf Stella, die während dieser Einladung ein unfreundliches Schweigen beobachtete, „wenn es meinem Bruder einfiele, seine Zeche mit „musikalischen Phrasen“ zu bezahlen, kenne ich ein kleines Persönchen, das nicht zufrieden wäre.“

„Sie irren sich, Miß,“ warf Stella gereizt ein, „ich werde Herrn Deaken sogar bitten, mich zu entschädigen und mir einige hübsche Sachen von Herrn Seuriet vorzuspielen.“

Die Miß sah sie ohne zu antworten gerührt an, wechselte leicht die Farbe und wandte dann den Blick zu Frau von Ellissen, die ein unbestimmtes Erstaunen auf der Schwelle festhielt. In ihrer himmlischen Güte räusperte sie sich sofort, rückte ihren Sessel, warf einige Bücher hinunter, seufzte, klagte über ihre Ungeschicklichkeit, kurz, bemühte sich durch Geräusch das plötzlich entstandene drückende Schweigen zu brechen. Dann neigte sie sich über Stella’s offenes Buch und fragte zärtlich:

„Wo sind wir, mein Töchterchen?“ darauf wandte sie sich zu Frau von Ellissen. „Also, heute abend, einverstanden!“

„Also heute abend, auf Wiedersehn!“ sagte die junge Frau.

Ihr Wagen erwartete sie im Schatten vor dem Kirchentor, da die Straße, in der Miß Deaken wohnte zu schmal war, um ohne Schwierigkeit wenden zu können. Es war eine elegante kleine Equipage. Zunächst aber trat Frau von Ellissen in die Kirche, neigte sich demütig vor dem Allerheiligsten und warf einen Blick auf die Orgel. Da niemand mehr dort war, verließ sie raschen Schrittes die Kirche, stieg in den Wagen und rief dem Kutscher zu:

„Nach Hause.“

Von der Schwelle ihrer Läden sahen ihr die Kaufleute freundlich nach und riefen einander, wie jedesmal die Worte zu:

„Die schöne Frau von Elissen! …“

„Eine so gute liebenswürdige Dame!“

Der Wagen bog ein und fuhr über die Kais entlang an den großen Fabriken, in welchen Tuche, der berühmte Industrieartikel des Landes, gewebt, gewalkt und gefärbt wurden.

Während der Fahrt mußte Frau von Ellissen oft nach rechts und links grüßen, da sie Arbeitern begegnete, die sie alle kannten. Denn sie hatte den schönsten Teil ihrer Jugend, ihre Mädchenjahre, hier verbracht. Und obgleich die Fabrik nach dem Tode ihres Mannes verkauft worden war, war ihr Interesse für das Schicksal und das Elend der Arbeiter immer noch rege geblieben. Keiner von ihnen hatte den Weg zum Landhause vor den Toren der Stadt vergessen, das sie damals stets durch einige Sommermonate bewohnte, während es jetzt ihr dauernder Witwensitz geworden war. Dorthin kamen sie, nicht nur um materielle Hilfe zu suchen, sondern auch moralischen Halt, der öfter schon Revolten hintangehalten hatte. Denn diese freimütige Frau besaß die Gabe, schon allein durch ihre überquellende Güte zu beruhigen, zu versöhnen, Mißverständnisse zu beseitigen, den rechten Weg zu erkennen und jedem zu zeigen. Sie tat das alles ohne moralisierende Redensarten, ohne schöne Tiraden, ohne frömmelnde Predigten. Sozialistische Schlagworte waren ihr fremd, wie überhaupt ihr philosophisch ungeschultes Denken auch nicht den Schatten einer Theorie aufkommen ließ. Sie war eine ehrliche Natur, mit klarem Sinn für Recht und Unrecht, erfüllt von fast krankhafter Empfindsamkeit sodaß sie oft darunter litt, wenn ihre Seele von den vielen sie umgebenden Leid getroffen ward. Jeder Gedanke, jede Handlung Frau von Ellissen’s hatten Quelle und Triebfeder in ihrem Herzen. Von etwas schwachem Charakter, besaß sie nur Kraft zur Liebe. Diese war, wie sie sagte, die Achse, die treibende Kraft, der Ausgangspunkt ihrer Lebensäußerungen, die allein das Räderwerk ihrer Maschine in Bewegung setzte. Dieses Bildes bediente sie sich, um den Arbeitern den Ideal-Mechanismus darzustellen, auf den sie ihre Tätigkeit zurückzuleiten bemüht war.

„Prägt euch das nur gut ein,“ wiederholte sie ihnen stets, „man muß lieben und zu lieben verstehen. Bringt einander Opfer, ohne Rücksicht auf euch selbst, und ihr werdet ruhig, ihr werdet stark, ihr werdet mächtig sein. Wenn ihr euch aber in euren Egoismus, in eure Persönlichkeit vergrabt, werdet ihr nichts Gutes erreichen, nichts, als daß ihr andern und euch selbst Übles zufügt. Findet ihr nicht, daß es Elend und Schmerz genug gibt auf Erden? Nicht wahr? Liebet also alles, was euch umgibt; alles, von den Tieren, die uns so schmerzvoll geopfert sind bis zu euren Brotherren, die von euch selber das Beispiel des Mitleides und der Güte erhalten müssen. Das überträgt sich, seht ihr, sowie sich die Bewegung eurer Maschinen nach und nach auf alle ihre Teile überträgt, bis sie schließlich den kleinsten Zylinder in Bewegung setzt. Seid der Hebel, der ausrückt und die Masse in seine mächtige Umdrehung mitreißt. Glaubt mir, denn ich liebe euch!“

Und sie küßten ihr die entgegengestreckten Hände und kehrten heim, mitgerissen von ihrer Güte und Liebe.

Als am Ende des Kais Frau von Ellissen’s Wagen über die Brücke fuhr und in die große Allee einbog, die von mächtigen, säulengleichen Ulmen gebildet war, schweiften ihre Augen, bewegt vom Anblick der Fabriksgebäude, die einst ihr Eigentum gewesen und die Erinnerung an eine schon ferne Vergangenheit aufrollten, liebevoll über die grünende Ebene mit ihren Gärten, ihren Häuschen, die sich bis an die, den Horizont abschließenden, nur durch den Einschnitt des Flusses unterbrochenen, von leichtem Nebel bedeckten Anhöhen erstreckten.

Ihre Träumerei pflegte sich ihrer Umgebung anzupassen und je nach der Gegend, durch die sie kam, zu wechseln. In ihrer zarten Empfindsamkeit war sie allen äußeren Eindrücken preisgegeben. Sie behauptete, vom Reflex der Dinge auf beinahe brutale Weise „berührt“ zu werden, so daß sie von plötzlichen Schmerzgefühlen zu unerwarteter Freude übergehen konnte ohne sich dessen erwehren zu können. Und sie versuchte das nicht einmal, als ob sie an einer Erkrankung des Willens litte, die nur dann aufhörte, wenn es galt, einen Kampf zu Gunsten anderer zu führen. Die zarten Blüten zwischen dem jungen Grün, die Freude, die aus den neuverjüngten Wiesen aufstieg und die vom Gezwitscher der Vögel bei ihren Kämpfen um die Nester gepriesen zu werden schien, erfüllte sie mit einem leisen, weichen Sehnen, das ihr Herz in neuer Hoffnung schwellte. Sie schlug ihren Schleier zurück, befreite den Nacken von der gefälteten Krause, die über ihr Gesicht einen, ihrer reifen Schönheit günstigen sammetartigen Schatten warf, und atmete tief, die Lippen halb geöffnet. Dann belebten sich ihre Augen beim Anblick der spitzen Dächer ihres jetzt schon nahen Hauses: ein rosiger Hauch umspielte sie, der ihren Wangen frischen Glanz verlieh.

Der Wagen fuhr durch das Gittertor und blieb vor der Freitreppe stehen. Frau von Ellissen erstieg sie mit geschmeidiger Beweglichkeit, wobei ihre schlanke Taille sich auf den schön geformten Hüften wiegte, deren harmonische Linie ihre dreißig Jahre gekräftigt aber nicht zerstört hatten. Sie fragte das herbeeilende Stubenmädchen:

„Ist niemand gekommen?“

„Doch, gnädige Frau, Baron Seuriet.“

„Ist er wieder fortgegangen?“

„Nein, gnädige Frau, ich sah den Herrn Baron über die Gartentreppe gehen, er dürfte im Park sein.“

Frau von Ellissen lächelte, stieg eilig die Treppe hinauf und verfügte sich in ihr Zimmer. Dort trat sie geradenwegs ans Fenster, das in den Park ging, lehnte sich hinaus und zog sich gleich wieder zurück. Dem Fenster gegenüber wiegte sich ein junger Mann in einem Rocking-chair und sah dem blauen Rauch seiner Zigarette nach. Mit dem Ende seines leichten Spazierstockes, den er in der Mitte gefaßt hielt, schlug er einen unregelmäßigen Takt, den sein Fuß ab und zu verstärkte, als ob er ein unsichtbares Orchester leitete.

Die junge Frau nahm ihren Hut ab und strich mit der Bürste über ihr braunes Haar, das oben auf dem Kopf zu einem lockeren Knoten gewunden war. Sie hatte ihren Mantel abgeworfen: in tadelloser Linie zeichnete sich ihre leicht gewölbte Büste unter einem dünnen schwarzweißen Batistkleid ab. Der weiße Hals leuchtete in seinem kernigen Fleisch. Sie nahm einen Sonnenschirm und ging in den Park hinab.

Bald darauf erschien sie an der Biegung einer Allee. Der junge Mann erblickte sie und sprang mit freudigem Eifer auf. Aber er ließ sie zu sich herankommen ohne sich zu rühren, ein bewunderndes Lächeln auf dem Antlitz.

Als sie ihm ganz nahe war, rief er ihr zu:

„Mira … wie schön Sie sind! Immer schöner! Jedesmal wenn ich Sie sehe, bin ich erfüllt von überirdischen Melodien, und die Rhytmen summen hinter meiner Stirne, wie ein Schwarm von Duft und Sonne berauschter Bienen.“

„Poet!“ sagte sie mit sanftem weichen Lächeln, ihr Blick verriet ruhiges Glück. „Und Ihr Werk? Geht es vorwärts?“

„Nein,“ erwiderte er nach einigen Augenblicken, „es – es gibt etwas – das mich hindert.“

„Was denn?“

„Wenn ich es wüßte! Aber – vielleicht weiß ich es doch. Sie auch, Mira, wissen es, denn Sie kennen mich besser, als ich mich selbst.“

„Sie arbeiten zu wenig, viel zu wenig; ja, ja, seit einigen Monaten läßt Ihre Energie nach; Sie verweichlichen in Träumereien, die Sie sich nicht bemühen, in Wirklichkeit umzusetzen. Arbeiten Sie!“

„Eh – – ich suche. Aber wissen Sie, was ich finde? Den Wunsch glücklich zu sein, vollkommen glücklich. Diese Liebe, Mira, die Sie mir gestatten, erhitzt nicht mehr meinen Geist; meine Gedanken sind ins Leere gerichtet, wenn ich auch Ihre Hände küssen darf und zuweilen Ihr Haar, so kann das meinen Wonnedurst nicht löschen. In mir glühen Unruhe und das ungestillte Verlangen nach vollster Erfüllung göttlich-menschlicher, körperlich-idealer Freuden. Meine Jugend spornt mich, wie ein Bündel Stacheln, und ich konstatiere mit Schrecken, das unser herrliches Verhältnis auf Abwege zu geraten beginnt. Ich gehe auf die Eroberung Ihrer Schönheit aus; durch dieses Blendwerk haben Sie in dem kaum talentvollen Dichter und Musiker, der ich bis dahin war, den vielleicht genialen Künstler geweckt. Er schlummerte in mir, und ich hätte ihn wahrscheinlich in Frieden ruhen lassen, wenn ich nicht gedacht hätte, daß ich um Sie, die Hohe, zu gewinnen, wachsen, meine Stirne über alle andern erheben, der gebietende Meister werden müsse, dessen souveräne Macht keiner Weigerung begegnet. Und ich habe gearbeitet; Sie wissen mit welchem Eifer! In wenigen Jahren vervollkommneten sich meine Kenntnisse, es wuchsen mir Flügel. Ich fühlte die klare, tiefe Quelle der Inspiration in mir rauschen, bereit, jetzt meinem Innern zu entströmen. Schon hatten meine ersten Werke einen unverhofften Widerhall für einen Künstler, der sich in die Provinz vergräbt, gefunden. Man hat mir schon gütigst zugestanden, daß ich nicht nur Hoffnungen errege, sondern die Gewißheit eines großen Talentes hätte, das sich bald offenbaren werde. Da wähnte ich mich dem Ziele nahe und mehr und mehr streckte ich meine Arme nach Ihnen aus. Doch in dem Maße, als ich vorschreite, ziehen Sie sich zurück und weichen meinem täglich heftiger werdenden Verlangen aus.“

„Weil ich alt werde, lieber Freund,“ sagte Frau von Ellissen sanft.

„Der Unterschied der Jahre zwischen uns bleibt immer gleich; er ist heute nicht größer, als vor zwei Jahren.“

»Ich war kaum achtundzwanzig, mein lieber Fred, und Sie zweiundzwanzig. Die Leiden Ihrer Kindheit hatten Ihre Jugend vor der Zeit ernst gemacht, während ich mädchenhaft jung geblieben war in der Sorglosigkeit meines friedlichen Lebens, das unter dem fast väterlichen Schutze meines seither verstorbenen Gatten gleichsam im Schlummer lag. – Aber Sorgen bringen rasch den Ernst: die Tochter meines Mannes war zu erziehen, ihre Interessen zu vertreten. Das Gefühl der Kindlichkeit, das in mir lebte, schwand, die Jahre haben ihr Werk vollbracht – heute bin ich beinahe eine alte Frau! Ich zähle dreißig Jahre! – Und Sie lieben mich nicht mehr, – nicht wahr, Undankbarer!“

„Nein, Mira, ich kenne Ihre Zärtlichkeit, aber es ist nicht mehr Liebe – übrigens, war es je Liebe? Haben Sie mich nicht getäuscht?“

„Vorwürfe, Fred? Verdiene ich sie? Sie waren unglücklich, mein Liebling, und Sie liebten mich. Wenn ich Sie zur Verzweiflung gebracht hätte, was wäre aus Ihnen geworden? Wären Sie der große Künstler, der Sie heute zu werden im Begriffe sind? Ihr Genie ist ein klein wenig auch mein Werk – wenn die Saiten Ihrer Geige unter Ihren Fingern weinen und klagen und gleich wieder scherzen und lachen, darf auch ich stolz sein auf den Anteil, der mir dabei zufällt!“

„Also Ihre Liebe war nur ein Schein, eine Mache, eine Idee?“

„Eine Idee, ja, vielleicht – Sie zu rettet. Aber ich schwöre Ihnen, es war ein aufrichtiges tiefes Gefühl. Wenn ich Sie nicht geliebt hätte, Fred, hätte ich nicht heucheln können – Sie wissen wohl, daß ich Sie liebe!“

„Aber Sie gestehen ein, daß Sie mich nicht mehr lieben, und Sie glauben, ich könnte ohne Ihre Liebe weiterleben?“

„Kind! …“

„Ich bin kein Kind mehr, Mira, ich bin ein Mann, der leidet, der Sie lieben will und muß!“

„Ach Fred, was Sie heute wollen, das ist nicht mehr die ideale Zärtlichkeit, die Ihnen bisher genügte, Sie wollen das Weib! – den brutalen Besitz.“

„Ja, Mira, ich sehne mich nach Ihrer ganzen Hingabe, nach Ihrer Liebe, mehr, viel, viel mehr als früher …“

„Haben Sie überlegt, Fred, daß ich für Sie nicht die Frau sein kann, die zwei Herzen in eines vereint?“

„Bin ich denn Ihrer so unwürdig, Mira? Nun, und wenn ich die höchsten Grenzen erreichte, die menschliche Kraft dem größten Genie steckt, wäre ich auch dann noch nicht Ihrer völligen Hingabe wert?“ Und in plötzlichem Zorn, die Augen voll Tränen, rief Fred: „Ich begehre Sie!“

Mira blieb erbleichend stehen und fragte voll Würde:

„Zur Frau?“

„Gewiß, und trunken voll Glück.“

„Also, wenn ich einwilligte, würden Sie einer Frau Ihren Namen geben, die sechs Jahre älter ist, als Sie? – unterbrechen Sie mich nicht – einer Frau, die Sie bald um einer naturgemäßeren Liebe willen vernachlässigen würden, die darunter leiden würde – was nichts bedeutet – Ihnen aber solch quälende Schmerzen bereiten, die das Gehirn martern und die schöpferischen Kräfte vernichten. Und mein Zweck wäre verfehlt, und Ihr Genie würde unter dem Druck materieller Kämpfe zugrunde gehen. Das Leben, mein Kind, ist den unbesiegbaren Forderungen des Instinkts unterworfen. Um an Geist und Körper gesund zu bleiben, muß man sich einfach und natürlich den unausweichlichen Gesetzen der Gattung unterwerfen und die Irrwege fliehen, welche die Folge anormaler Handlungen sind. Ist man aber frei, dann entfaltet sich der Gedanke mit aller ihm innewohnenden Kraft.“

„Wenn ich aber fühle, ich wiederhole es Ihnen, wie ich zur Verwirklichung idealer Gedanken ganz unfähig werde, weil mir das einzige Glück, das ich begehre, vorenthalten wird – der völlige Besitz des geliebten Weibes! Sie, Mira, Sie!“

„Nicht ich, glauben Sie mir, eine andere.“

„Welche?“

„Weiß ich’s? Diejenige, die Ihr Instinkt fordert und die Ihnen eines Tages begegnen wird – – später.“

„Sie, die versicherten, mich zu lieben, Sie würden ohne Widerwillen zusehen, wie ich mein Herz einer andern schenke? Sehen Sie, meine Worte allein machen Sie erbleichen, und Ihre Hände sind in den meinen kalt geworden. Ziehen Sie sie nicht zurück, Mira! Lassen Sie mir das Glück, Sie zittern und beben zu fühlen – meinetwegen!“

„Nein, Fred, beben ja, warum sollte ich es Ihnen verbergen? Aber nicht überwunden, denn ich darf und will es nicht sein.“

„Stolze!“

„Ein Stolz, der sich so weit beugt, die Todesqualen einer kläglich und schmerzlich leidenden Weiblichkeit sehen zu lassen. Ein Stolz, der Sie vielleicht bitten wird, noch zu warten, mich nicht zu bald einer bezaubernden Zärtlichkeit zu berauben, meines einzigen Glückes hienieden. Ach, wenn wir so weiter leben könnten, lange, immer!“

Sie schwiegen, und jedes verfolgte seine Träume, während sie langsam, geneigten Hauptes Seite an Seite die Allee entlang schritten, deren Ulmen schon das zarte Grün der ersten Blätter entsproß. Der zarte, von Veilchen durchwirkte Rasen umsäumte die Allee, deren frisch gestreuter Glimmersand in der Sonne glitzerte. Ländliche Bänke standen rechts und links in Abständen bis an die Grenzen des Parks, der durch eine Terrasse abgeschlossen war. Bei dieser Terrasse bildete der Fluß eine kleine Bucht, in der stumm und regungslos das Gewässer zu schlafen schien.

Die Stille des von Wiesen umgebenen Parks wurde in dieser nassen stummen Umgebung noch fühlbarer, in der das Geräusch der fernen Stadt und ihrer Kais sich brach und verhallte. Jenseits der Terrasse, der Wiesen, der Gärten, der zerstreuten niederen Häuschen erhob sich die Stadt. Sie erschien hoch, dicht und massiv und ihr eckiger Turm ragte wie der Wachtturm einer finstern Burg in die Lüfte.

An dieser Stelle genoß Mira oft den Reiz der Einsamkeit und ließ ihre Blicke über jede Einzelheit der ihr so lange bekannten Gegend schweifen. Sie konnte lange schauen, ohne daß etwas unerwartetes ihre einsamen Träumereien gestört hätte; selbst nicht der Wechsel der Tinten, die sich mit den Tagesstunden änderten und der, wenn sie sich verspätete, ihrem geübten Auge die vielfachen Abtönungen zeigte, die Manet in seinen Freilichtmalereien durch alle Skalen des Prismas festgehalten hat. Nun empfand sie, ohne es zu bemerken, deren Einfluß. Als die beiden die Terrasse erreichten, war die Sonne im Sinken; sie war hinter der schwarzen Masse der Kirche verschwunden, während um diese her die weißen Fassaden, die roten Dächer noch beleuchtet waren.

Und diese schwere schwarze, wie in Trauer getauchte Masse, die sich gleich einem Lichtschirm vor das Flammenmeer der Sonne stellte, bedrückte Frau von Ellissen und hüllte sie in eine dunkle Melancholie, die das süße Gefühl zum Schwinden brachte, mit dem sie an der Seite des wehmütig verliebten jungen Mannes langsam die helle, veilchendurchduftete Allee herabgeschritten war.

Um davon loszukommen und das ausdrucksvolle Schweigen Freds zu brechen, deutete sie mit der Spitze ihres Schirmes auf die Stadt:

„Wenn ich Sie an der Orgel weiß,“ sagte sie, „dann komme ich hierher und mein Blick durchdringt das dicke Gemäuer und mir ist, als hörte ich Sie. Dann besuche ich auf dieselbe Art einige Freunde. Sehen Sie, das dort ist der Rauchfang des hohen von den Deaken’s bewohnten Hauses. Ich kenne ihre Gewohnheiten. Ich weiß, zu welchen Stunden Fräulein Deaken arbeitet und betet. Denn die Miß hat das Glück, fromm zu sein“.

„Und Sie beneiden sie?“ murmelte Fred mit leichtem Hohn.

„Beinahe. Die Religion hat so viel Gutes – sie tröstet.“

„Für diejenigen, die getröstet sein wollen.“

„Und es wollen sollen. Persönlicher Schmerz ist Egoismus, denn es geht dabei nicht ohne Nachteil für die andern ab.“

„O, ich weiß, daß Sie über Pflicht ganz besondere und – übertriebene Ansichten haben.“

„Was sagen Sie dann zur Miß, die ihre Pflicht mit einer Erhabenheit erfüllt, die schon ans Heilige grenzt?“

„Sie ist zu bewundern, in der Tat,“ erwiderte Fred mit etwas ironischer Miene. „Mit einem solchen Bruder leben, ist wohl kein geringer Verdienst.“

„Herr Deaken ist aber sehr gut zu ihr.“

„Ja, er hatte die Güte, ihr zu erlauben – sich für ihn aufzuopfern.“

„Nicht nur allein für ihn, auch für ihre Eltern. Sie unterstützte sie alle durch ihre Arbeit. Denken Sie nur, Miß war kaum fünfzehn Jahre alt, als ihr Vater infolge seiner Erkrankung ihrer Stütze bedürftig ward. Sie kam von Amerika zurück, wohin sie einer ihrer reichen Verwandten mitgenommen hatte und suchte hier Stunden zu geben. Alles vergaß sie, ihre Schönheit, ihre Jugend, den Verlobten, den sie sich in Amerika erwählt und den sie liebte, und arbeitete freudig, einfach für ihre Angehörigen. Ihr Bruder war nicht im stande sein Brot zu verdienen, sie behielt ihn bei sich und pflegte sein einziges Talent, das Orgelspiel, damit er einmal Organist in der Kathedrale werden könne. Aber als sie sich altern fühlte! – Ich allein kenne die Leere dieser leidenschaftlichen Seele, die so großen Durst nach Liebe hatte. Oh um den glühenden Aufruhr der bezähmten, aber nicht ertöteten Sinne! Die grausam schlaflosen Nächte, die Zuckungen der Natur, die rücksichtslos ihr Ziel erreichen will. Zu spät! – Sie war alt und arm: das Leben hatte ihr nichts mehr zu bieten. In der Religion fand sie Kraft für die Zukunft, die deutlich und klar vor ihr lag. Sie fand Trost, aber um welchen Preis! Ihre Gesundheit ist zerstört, ihr Nervensystem zerrüttet. Heute noch schön, trotz ihrer fünfzig Jahre, schleppt sie ihre alten Füße als hätte sie Blei in den Adern statt Blut, – aber welch glatte Stirn – welcher Glanz ist noch in ihren Augen und welche Herzensgüte in ihrem Lächeln. Die Krise ist vorüber – sie bedauert nichts mehr. Ihre Eltern sind tot, sie wird ihnen folgen. Ihr Bruder hat eine sichere Existenz. Und trotzdem arbeitet sie fort und ruht nicht – es gibt so viele Notleidende, die ihrer bedürfen. Und wenn Sie wüßten, wie vielen sie Hilfe gewährt, wie viele zu ihr Zuflucht nehmen! Es ist kaum glaublich! Hören Sie nur! Eines Tages, als sie krank war, suchte ich in einer ihrer Schubladen nach einem Gegenstand, den sie verlangte. Dabei öffnete ich eine Kassette, der ein kleines Paket entfiel. Es waren alte, halb gefaltete, vergilbte Papiere. Ich gestehe, mir kam der Gedanke: vielleicht Liebesbriefe! Sie war ja so schön, und man hatte von allen Seiten ihrer begehrt. Es wäre ja nichts daran gewesen, wenn sie einige zur Erinnerung aufgehoben hätte. Und wissen Sie, welcher Art diese Briefe waren? – Dankbriefe von Leuten, denen sie Geld gesandt; Bestätigungen über mehrere Tausende. Wissen Sie, wie viel sie verdient? Dreitausend Franken. Davon lebt sie, sehr anständig und unterstützt noch Bedürftige. Niemand weiß es, ihre Barmherzigkeit, ihre Güte übt sie im geheimen, ebenso wie ihre Frömmigkeit. Denn nur selten kann man sie in eine religiöse Diskussion verwickeln. Sie lächelt bloß, läßt die Leute reden, alles reden: ihrem reichen weiten Geist wohnt Verständnis und Duldsamkeit inne. Aber sie bewahrt ihren Glauben, ihren Schatz, ihre Leuchte, ihre Freude. Oh ja! ich beneide sie!“

Fred legte leicht seine Hand auf die der jungen Frau:

„Sie haben doch, was Herzensgüte betrifft, sie um nichts zu beneiden, Mira!“

„O, schweigen Sie, Fred!“ sagte sie leise errötend, „gegen die Miß bin ich nur eine elende Egoistin.“

„Also,“ erwiederte der junge Mann lächelnd und hielt ihre Hand fest, „dann kommen Sie doch auf den Ball der Präfektur?“

„Warum?“ fragte Frau von Ellissen erregt. „Sie wissen doch, Fred, daß ich auf keinen Ball mehr gehe, daß ich in einigen Tagen dreißig Jahre alt werde.“

„Und man spricht schon von der Toilette, die Sie tragen werden. Alles weiß man in diesen kleinen Städten.“

„Das ist falsch!“ erwiderte Frau von Ellissen gereizt.

„Also nein, da Sie es leugnen. Die Kleider vom vorigen Jahr waren nicht mehr herzurichten, der Winter war rauh, Sie haben viel verschenkt, sehr viel, und weil für Fräulein Stella eine neue Toilette notwendig gewesen wäre, so hat Frau von Ellissen auf den Ball verzichtet. Ihr Kleid ist auf Kinderwäsche, Bettdecken und ähnliches aufgegangen.“

„Was ist’s weiter für ein großes Opfer,“ beteuerte die junge Frau, „seinen Abend nicht mit blödem Geschwätz zu verlieren. Seit ich nicht mehr tanze, langweilen mich diese Schaustellungen. Man schwätzt, man klatscht, man lästert und meine Gewohnheit tätig zu sein, läßt mich diese gespreizte Parade im Lehnsessel schwer ertragen.“

„Egoistin,“ murmelte Fred.

Mira warf ihm einen fragenden Blick zu.

„Daran denken Sie nicht,“ fuhr Baron Seuriet fort, „daß Sie mich einer meiner größten Freuden berauben, der Freude, Ihre herrlichen Schultern und Arme entblößt zu sehen, mir vorzustellen, daß Sie meinetwegen so schön geschmückt, meinetwegen anwesend sind, um mir ein wenig von Ihrer Schönheit zu schenken. Die wenigen Male, da ich Sie in dieser offiziellen Entkleidung bewundern durfte, gruben sich mir die geringsten Einzelheiten Ihrer sichtbaren vollkommenen Schönheiten tief ins Gedächtnis. Ich könnte die Fasern, die Schatten, die Formen Ihrer nur flüchtig erblickten Reize nachzeichnen, so sehr hat mein glühender Gedanke den von ihm empfangenen Eindruck festgehalten.“

Frau von Ellissen verbarg in einem spöttischen Achselzucken den Schauer, der sie überlief und versuchte zu lachen, indem sie verwirrt die Augen abwandte.

„Das sind Kindereien, Dummheiten, die einer alten Frau gegenüber schlecht angebracht sind.“

In der vollen Bewunderung ihrer Schönheit rief der junge Mann:

„Mira, sprechen Sie nicht so, Sie kennen Ihre Schönheit nicht; Sie wissen nicht, daß Sie erst jetzt im vollen Glanze des Weibes stehen, daß ich Sie so liebe, wie ich Sie jetzt vor mir sehe – ja, so – und so bleiben Sie für mich!“

„Und – weiter – – –“ fügte sie nervös hinzu.

„Weiter?“ – Er schwieg einige Minuten, dann schmiegte er sich mit kindlich-innigem Blick an sie und sagte:

„Ich werde Ihnen meine Bitte wiederholen, Mira, Sie werden auf den Ball gehen, nicht wahr? Sie werden mir vergönnen, Sie zu sehen. Sagen Sie ja, geliebte Freundin, und schenken Sie Ihrem Fred, der Sie so innig liebt, ein holdes Lächeln. Sagen Sie ja!“

Sie lächelte, aber so schwermütig, und schüttelte verneinend das Haupt:

„Nein, mein Liebling, ich werde nicht gehen, und wenn ich einmal gezwungen sein werde, Stella zu begleiten, werde ich bis zu den Ohren zugeknöpft sein. Voilà!

„Grausame, Grausame,“ rief Fred und drückte einen leidenschaftlichen Kuß auf ihren Arm, ehe sie ihm denselben entziehen konnte.

„Fred! Bitte, lassen Sie mich in Ruhe! Fred, ich werde noch böse werden, Sie sind gewissenlos – – sehen Sie, da kommt jemand.“

„Es ist die Miß,“ sagte er, „ich gehe.“

„Bleiben Sie nicht zum Diner bei uns?“

„Wer sind die „uns“?“

„Die Deaken’s kommen.“

„Der Bruder auch? – Ah! – dann danke ich. Ich habe Franz ganz gerne, aber nicht wenn er bei Ihnen ist. Die Liebenswürdigkeiten und Galanterien dieses alten Hagestolzen enervieren mich. Und dann diese Provinzlermanie, jedem eine Etikette auf den Rücken zu heften. Und Ihnen macht es Spaß, daß Herr Deaken der Liebhaber der Frau von Ellissen genannt wird.“

„Ach, was soll das jetzt noch für Konsequenzen haben!“

„Möglich. Es ist ganz unschuldig. Sogar sehr lächerlich für ihn, daß Sie ihn für so ungefährlich halten und sich sein platonisches Hofmachen so ruhig gefallen lassen. Aber es ärgert mich, daß Sie es sich gefallen lassen und es erfaßt mich eine unbezähmbare Lust, ihn zu ohrfeigen, wenn er so frech ist, sich mit seinem kahlen Schädel bis zu Ihren Knieen zu verneigen.“

„Unartiger Knabe! Wie jung Sie noch sind! Also gut, trollen Sie sich, baby!

„Und wenn ich bleiben wollte?“

„Dann bleiben Sie.“

„Nein, ich gehe, denn ich könnte eine Dummheit machen.“

Sie blickte ihm lächelnd nach, während er rücklings gehend einen Seitenpfad im dichtesten Tannendickicht einschlug, ihr dabei einen Schwarm von Kußhänden zuwerfend. Sobald er ihren Blicken entschwunden war, eilte sie Miß entgegen, die mit kleinen kurzen Schritten, auf ihren Schirm, wie auf einen Stock gestützt, näherkam.

Frau von Ellissen rief ihr von weitem zu:

„Was haben Sie mit Stella gemacht?“

„Das fragen Sie mich?“ antwortete die Miß. „Kaum hier angelangt, lief sie davon, um ihr Dreirad zu holen. Eine tolle Idee von Ihnen, ihr diese Laune zu gestatten.“

Frau von Ellissen lächelte:

„Was hätte ich tun sollen?“

„Ah, erlauben Sie, daß ich mich setze, meine alten Beine wollen nicht mehr!“

Frau von Ellissen schob ihr eine Bank zurecht und fuhr fort:

„Das möchte ich sehen: Stella etwas verweigern, was sie sich in den Kopf gesetzt! Sie ist ganz ihr Vater.“

„Aber … ich weiß, ich weiß,“ entgegnete die Miß. „Übrigens tut es ihr gut, nicht wahr? Sie hat so viel überschüssige Kräfte, diese nervöse Kleine.“

„Ja, der Arzt riet zu dieser Leibesübung, die mich entsetzt.“

„Nun es ist ja keine Gefahr dabei!“

„Weiß man es? Es ist eben Mode. Alles will mit dem Rade herumfliegen. Welche Zeiten, welche Sitten!“

„Wem sagen Sie das? Ich, die sie den ganzen Tag während des Unterrichtes plappern höre, muß mich taub stellen, um nicht die Lektionen in Vorträge über Moral zu verwandeln. Würden Sie glauben, daß Fräulein Alice Henneberg ihr neulich vorschlug, ein Wettrennen über dem Ringe zu veranstalten?“

„Entsetzlich,“ rief Frau von Ellissen. „Dafür stehe ich gut: Stella’s Dreirad wird nicht über die Grenzen des Parks hinauskommen. Ich habe ihr sogar ausdrücklich ein eigenes Kostüm verweigert, damit es ihr nicht eines schönen Morgens einfällt, mir durchzugehen. Und da sie hier niemand sehen kann, schaue ich geduldig zu. … Sehen Sie, da kommt sie eben. Sie sieht doch wie eine Närrin aus – ihre Haare im Nacken zerzaust, ihre Füße ganz frei – ja, ihre Füße!“

Vorgebeugt wie ein Professionswettfahrer, mit geröteten Wangen, kam Stella die Allee herab geradelt, ohne sich um ihr vom Winde bis über die Knie zurückgeschlagenes Kleid zu kümmern. Sie blieb vor einer Bank stehen und sah sich nach allen Seiten um.

„Ihr seid allein?“

„Zum Glück,“ erwiderte Frau von Ellissen. „Sieh doch deine Strümpfe an; schämst du dich nicht?“

Stella richtete sich auf:

„Na, das ist doch nicht so arg. Siehst du, wenn ich eine Hose hätte, würde das nicht geschehen. Aber du bist ja anderer Meinung! Mir ist’s ganz gleichgültig. Ich lach’ darüber!“

„Stella! Stella!“

„Na, was denn? Mein Strumpfband hat sich ausgedehnt. Kann ich etwas dafür? Aber Mama, wenn wir in Houlgate Krebse und Krevetten fangen gehen, habe ich da ein langes Kleid an? Ich glaube kaum. Ich wate mit meinen beiden Beinen, die überdies noch nackt sind und die Augen der Zuschauer auf sich lenken, im Wasser herum. Und was ist weiter dabei? Du, Mama, hast komische Ansichten über das, was sich schickt. Was hier unanständig ist, scheint, euerer Ansicht nach, einige Kilometer weiter ganz passend zu sein. Spitzfindigkeiten. Mir unverständlich. – Alles ein Guß.“

„Aber ein schlechter Guß,“ versuchte Miß zu tadeln.

„Ah bah! er wird schon durchkommen,“ gab Stella mit stolzem Lächeln zurück und schüttelte die offenen Haare, die ihr wie ein rotblonder Schleier über den Rücken fielen. Dann fuhr sie fort: „Marie hat mir gesagt, daß Fred hier sei. Er ist euch also ausgekniffen?“

„Wie Ihre Freundin Alice sich so elegant ausdrückt,“ fügte Miß hinzu.

„Die kennt sich aus, die,“ brummte Stella. „Die ist nicht in einem solchen Provinznest erzogen worden.“

„Aber auch nicht im Sacré-Coeur,“ entgegnete Miß.

„Weil ihr Vater, der Präfekt, ein freidenkender Mann, deswegen. Das hindert sie nicht, viel gelehrter zu sein, als alle hiesigen Gänse und gar nicht zimperlich.“

„O nein!“ warf Miß mit Schärfe dazwischen.

„Und nicht affig. Sie ist aufrichtig, sie paßt mir sehr gut.“

„Man kann aufrichtig sein, ohne frech zu werden,“ betonte Mira.

„Mein Gott! Du armes, liebes Stiefmütterchen, du sprichst von diesen Dingen, wie der Blinde von der Farbe. Alice ist nicht frech, es ist ihr nur die Heuchelei der Provinz-Erziehung fremd. Man hat sie ihrer Zeit gemäß erzogen, modern, wie Ihr hier sagt, wir sagen ohne Ziererei, noch Prüderie, noch Versteckenspiel. Sie wird weder eine lebendige Puppe, noch ein verschrecktes Gänschen werden. Sie wird ein echtes Weib sein, ihres Wertes und ihrer Rechte bewußt. Ihr aber, Ihr versteht ja diese Erziehung nicht. Ihr könnt ja schließlich nichts dafür, man hat euch so gedrechselt!“

„Hören Sie nur diese kleine Impertinente!“ sagte die Miß, indem sie mit dem Schirme drohte.

„O, Sie, Miß, Sie sind noch eine von den Besseren, Sie haben Ihre Jugend im freien Amerika verlebt, Sie wissen schon, wie man dort die jungen Mädchen erzieht.“

„Aber diese jungen Mädchen sind auch aus ganz anderem Stoff, als die hiesigen Fräulein Zierpuppen, ohne Ihnen nahezutreten. Durch ihr tüchtiges Hirn rinnt eine Ader, die in den eurigen noch keinen Platz gefunden hat. Und Ihr Schicksal bestimmt sie zu anderer sozialer Tätigkeit, als euch. Jedes Land hat seine Sitten, seine Kräfte, seine Bedürfnisse, und es ist ein schlechtes und übereiltes Bemühen, eine Kultur, die sich nur unter einem besondern Himmelsstrich entwickeln könnte, in einen fremden Boden zu verpflanzen.“

Verstimmt erwiderte Stella:

„Gedanken sind klimatischen Einflüssen nicht unterworfen; und die Ideen sind es, welche die Sitten bilden.“

„Und sie auch verderben,“ murmelte Frau von Ellissen.

Die Miß schwieg, kniff ihre klugen Augen zusammen und schien jetzt ausschließlich den sprossenden Blättern ihre Aufmerksamkeit zu widmen.

Stella aber, die etwas verächtlich mit den Achseln gezuckt, fuhr nun mit ihrem Rad langsam auf und ab, wobei sie unauffällig alle Seitenwege streifte und sie mit raschem Blick untersuchte. Als sie wieder bei ihrer Mutter vorüber kam, hielt sie an, wie um sich zurechtzusetzen, ihren Rock in Ordnung zu bringen, das Gouvernal gerade zu richten, und während dieser Hantierungen, die sie absichtlich verzögerte, sagte sie:

„Uebrigens, Mama, wirst du gut tun, Marie ordentlich auszuzanken, sie ist eine Lügnerin. Wozu hat sie mir mit ihrer gelassenen Miene einer alten Marquise gesagt: ‚Der Herr Baron Seuriet ist im Park mit der gnädigen Frau‘?“

„So ist es auch, er war da, aber er ist fortgegangen.“

„Ah! ich bin ihm nicht begegnet.“

„Er ist gewiß aus der rückwärtigen Parktüre hinausgegangen.“

„Da schau – was für ein Einfall!“

Frau von Ellissen knöpfte aufmerksam ihren Handschuh zu.

Stella fuhr fort: „Flöße ich ihm dem Angst ein?“

„Ganz gewiß, wahrscheinlich,“ antwortete die Miß lächelnd.

Stella aber beugte sich über ihre Maschine, faßte die Lenkstange fest, stemmte die Füße an und zum Abfahren bereit, rief sie:

„Auf Wiedersehen! Ich will meine zehn Kilometer machen, indem ich rund um den Park fahre, wie ein Eichhörnchen in seinem Käfig, da es mir nicht erlaubt ist, ihn zu verlassen.“

Sie fuhr ab, den Kopf gesenkt und in so schnellem Tempo, daß sie mit ihren auffliegenden weiten Aermeln aussah wie ein Riesenvogel, der einen Bogen über die Erde zieht. Bei der ersten Wendung warf sie einen schnellen Blick zurück, und als sie sicher war, daß sie nicht mehr gesehen werden konnte, bog sie in einen Seitenpfad ein. Dieser war so schmal, daß die beiden Räder des Tricycles in die moosige Böschung einschnitten, über Wurzeln stolperten, Zweiglein abrissen, die unteren Blätter abschnitten, während Stella sich die Ellbogen zerkratzte und sich an den hängenden Ästen die Haare ausriß. Aber sie radelte mit der Wut eines Rennfahrers weiter. Dieser Pfad mündete in einen breiten, der Allee parallel laufenden Weg. Stella folgte ihm einige Augenblicke, durcheilte noch einen rasenbewachsenen umbuschten Pfad und kaum zwei Minuten nach ihrer Abfahrt landete sie im Eichenrondell, im selben Augenblick, da der Baron Seuriet das massive eiserne Tor öffnen wollte. Stella, wie ein Pfeil daherfliegend, rief: „Achtung!“

Fred hatte kaum Zeit, den Riegel vorzuschieben, um nicht das Rad auf die Füße zu bekommen. Aber die gewandte Sportslady lenkte mit einer so verteufelten Geschicklichkeit, war so nahe an ihn herangekommen, daß sie in einem plötzlichen Ruck abbiegen mußte. Und sie wäre gefallen, wenn der junge Mann sie nicht um die Taille gefaßt und mit einer leichten Anstrengung seines geschmeidigen Körpers aufrecht erhalten hätte.

„Danke,“ sagte sie.

Die Röcke herunterschlagend, die sich um sie gewunden hatten, befreite sie schnell ihre schlanken zarten Füße und lehnte sich an die Lenkstange, die sie mit zurückgebogenen Armen festhielt, die Gestalt vorgestreckt, herausfordernd. Dann sagte sie: „Guten Tag! Wie geht’s? Wohin des Wegs?“

„Nach Hause.“

„Durch die Hintertür? Ein Gebieter!“

„Noch nicht.“

„Es wird kommen, es kommt.“

„Glauben Sie?“ entgegnete er lächelnd.

„Wenn Sie wollten, so käme es leicht.“ Stella sprach mit ernster Miene und er antwortete ihr rasch:

„Aber ich verlange es ja gar nicht.“

„Man muß nicht verlangen, man muß nehmen!“ meinte sie spöttisch lächelnd.

„Teufel, wie Sie drauf losgehen!“

„So, wie ich auf jedes Ziel losgehe, das ich mir steckte, alle Hindernisse überwindend. Ah! wenn ich Sie wäre!“

„Was würden Sie tun?“

„Primo: ich würde die Provinz verlassen. Sagen Sie, was hält Sie hier zurück? Was fesselt Sie an dieses elende Nest?“

Fred zögerte, dann sprach er abgerissen:

„Vieles … die Gewohnheit … der Hang zur Einsamkeit, und endlich die materielle Sorge um mein Wohlergehen: ich bin nicht reich.“

„Schöner Grund! Man wird einfach reich.“

„Wenn man kein Brot hat, ißt man Kuchen, nicht wahr?“

„Ich bin kein Schwachkopf. Aber wenn man Talent hat, wie Sie, lebt man vom Ruhm!“

„Ruhm nährt nicht.“

„Ruhm ist eine Mitgift,“ sagte sie, das letzte Wort betonend.

Er gab zurück:

„Eine Mitgift, die die Notare nicht in die Kontrakte aufnehmen wollen.“

„Die Notare, ja; Ihre Klienten aber begnügen sich manchmal damit. Kurz, Sie wollen nicht fortkommen, in keinem Sinne des Worts.“

Er blickte voll Interesse auf sie; dann erheitert:

„Verzeihen Sie, ich wollte gerade fort, als Sie mir in den Rücken fielen.“

„Seien Sie artig und sagen Sie, „in die Arme“.“

„O!“ stieß er hervor.

„Sie protestieren?“

„Nein, kleine Unschuld.“

„Ich kenne die Synonyma, aber der dümmere von uns beiden bin doch vielleicht nicht ich, lieber Meister.“

„Wie denn auch!“ sagte er ironisch und machte eine tiefe Verbeugung.

Stella stieß ihr Dreirad an einen Baum und setzte sich auf den Boden:

„Kleiner Fred, seien Sie lieb und schenken Sie mir eine Zigarette.“

„Fräulein Stella, wo denken Sie hin. – Was würden Frau von Ellissen und die Miß dazu sagen, wenn man Sie sähe?“

„Mama? ist sie denn hier?“

„Nein, aber – –“

„Wie, Sie wollten also geradewegs zu ihr, mich wegen dieser strafbaren Handlung anzuzeigen? Sie sind mir ein ganz scharmanter Jüngling! Danke! Von dieser Seite kannte ich Sie noch nicht. Aber ich glaube es gar nicht. Schnell – eine Zigarette – ich vergehe vor Lust!“

„Es wird Ihnen schlecht bekommen, Fräulein Stella!“

„Brr, – das ist einfach. Ich sage, ich habe Migräne und das erspart mir ein Diner mit François Deaken.“

„Ärgert er Sie?“

„Ich kann sagen, daß er mich rasend macht.“

Fred machte ihr für dieses Bekenntnis eine Verbeugung; – er zog seine Zigarettentasche hervor und reichte sie Stella. Sie aber blickte in die Luft und sagte:

„Sie werden mir’s nicht glauben, aber was mich an diesem galanten Kahlkopf am meisten reizt, sind nicht seine Musikstückchen, sondern seine Manie, als Anbeter meiner Mama zu gelten.“

„O, das!“ brummte Fred, nach seinen Streichhölzern langend, „das macht ihn geradezu grotesk.“

„Nicht wahr? Geben Sie schnell!“

Er willfahrte. Stella streckte ihren Hals, um die Zigarette am Wachskerzchen anzuzünden, daß ihr Fred kniend hinhielt. Während er Sorge trug, ihre blonden, gekrausten Haare nicht anzubrennen, spitzte sie mit ungeschickter komisch saugender Bewegung das rosige Mündchen, um die Zigarette der schon nahe an Freds Fingern flackernden Flamme zu nähern.

„Ich brenne!“ rief er plötzlich.

Sie senkte listig die Lider, rückte von ihm fort und erwiderte:

„Es ist ja nur Feuer.“

Sprachlos blickte er sie an, fast beunruhigt und voller Neugier über den Sinn ihrer Worte. Aber sein Blick umfaßte bald ihre ganze Gestalt voll Erstaunen, da ihm zum ersten Male die vollendete Verwandlung des Backfischleins zum Bewußtsein kam. Er hatte sie als kleines Kind gekannt, achtlos hatte er sie heranwachsen sehen und nun stand sie plötzlich in der anmutigen Schlankheit und doch Fülle ihrer Formen, deren ehemals milchiges Weiß den warmen sammetartigen Ton erhalten hatte, der duftiges Erblühen in der Leidenschaft versprach.

„Bin ich ungeschickt,“ rief sie, ihn durch ein plötzliches Aufblitzen ihrer schelmischen Augen überrumpelnd und dem jungen Mann geradeaus ins Gesicht blickend.

Er erhob sich lebhaft und schaute um sich, als ob er eine Uberraschung fürchtete.

„Gleichviel,“ murmelte er, „wenn jemand Sie bemerkte.“

„Da säßen Sie in der Klemme, was?“

„Das macht Sie lachen – Sie böse Grausame.“

„Ja, jetzt, wo ich habe, was ich will. Aber seien Sie ruhig, niemand wird davon erfahren. Ich bitte Sie sogar, Mama nicht zu sagen, daß ich Sie an dieser Tür getroffen habe. Sie hat mir verboten, mich hier herumzutreiben. Denken Sie nur, wenn man mich sähe! Denn es scheint, daß ich auf dem Dreirad unanständig ausschaue. Finden Sie auch?“

Er stotterte:

„Nein, nein, – ich glaube nicht.“

„Aber sicher sind Sie nicht? Warten Sie.“ Sie sprang auf, eilte auf ihre Maschine zu und bestieg sie, ohne Bedenken ihren Rock zwischen die Beine klemmend. Mit einem Ruck des Kopfes warf sie ihre Haare zurück, stellte sich seitlich von ihm auf, vorgebeugt, die Arme gestreckt:

„Es spießt sich nichts? Was? Also, guten Abend! Ich fahre. Nichts der Mama sagen? Abgemacht?“

Er bejahte mit einem Kopfnicken.

Sie fuhr dahin, anfangs langsam, dann, als sie sich in einiger Entfernung befand, wandte sie sich um, legte, um ihn an sein Versprechen zu erinnern flüchtig die Finger auf die schelmischen Lippen, sodaß es weniger der Bitte um Verschwiegenheit, als einem durch die Luft gesandten Kusse glich. Dann nahm sie einen Anlauf und verschwand wie getragen von ihren weiten Ärmeln: zwei schwarze Flügel, die die blonde Mähne einer durch das Gehölz fliehenden Dämonin umrahmten.


II.

Die Stadt mit ihren modernen Bauten folgte der Linie des Flußes. Ihre engen Querstraßen mündeten auf den Hauptplatz, der das Arbeiterviertel von der alten Stadt trennte, deren weiter auseinanderliegende Häuser meistens von Gärten umgeben waren oder sich um einen mit Linden bepflanzten Rasenplatz gruppierten.

Einige dieser kleinen Squares sahen klösterlich aus mit ihren stillen, fast immer verschlossenen Häuschen. Diese Viertel dienten dem erbgesessenen Bürgertum als Zufluchtsstätte. Durch die Entwicklung der Industriestadt, die Teuerung aller Lebensmittel schon halb ruiniert, wurde sie noch durch die wachsende Entwertung des Geldes ganz zu Grunde gerichtet. Manche Familie, die früher gut leben, ein Haus machen, Pferd und Wagen halten konnte, war nun in die bescheidene Existenz einer kleinen Beamtenfamilie eingeengt. Die Töchter mit aufgeschürzten Röcken, die Hände in alten Handschuhen, kochten selbst, bürsteten bei geschlossenen Türen den Boden, wischten den Staub von den Möbeln und modernisierten ihre abgetragenen Kleider. In seinem Bettelstolze rächte sich dieses Bürgertum an der neuen offiziellen und industriellen Welt, von der es in den Schatten gestellt wurde, durch herausforderndes Benehmen. Schon an der Kopfhaltung konnte man dies leicht erkennen, wenn diese Familien Sonntags nach der Kirche ihre Töchter der alten Sitte gemäß auf dem Ringe spazieren führten, nicht weniger auch an dem Reden, an ihren anmaßenden verächtlichen Blicken, die sich schnell wie empört abwendeten, wenn sie auf Leute fielen, die nicht aus ihrer Kaste waren, die nicht, wie sie, dem alten Bürgertum entstammten, das nur von seinen Renten lebte und noch lebt. Das hinderte sie aber nicht, eifrig nach vorteilhaften Heiratsverbindungen mit dieser anderen Welt zu streben und zur Erreichung dieses Zieles alle Hebel in Bewegung zu setzen.

Diese Familien fanden ihre natürlichen Verbündeten im niederen Adel, der gleichfalls von der Verarmung betroffen, sich in seine alten Herrensitze und Schlößchen zurückzog. Letzterer sandte seine Söhne zur Armee, seine Töchter ins Kloster und verkehrte selten in den offiziellen Kreisen, gerade nur so viel als nötig, um hie und da eine Begünstigung beim Avancement der Söhne zu ergattern. Wenn man die Stadt verließ erblickte man am Hang eines Hügels oder in einer Talniederung Häuser mit verfallenen oder roh beworfenen Giebeln, inmitten von altem Hochwald, Wiesen oder üppigen Feldern, welche diese Landedelleute sorgfältig in stand hielten, da sie ihre Einnahmequelle ausmachten. Die dazu gehörigen Meierhöfe bildeten da und dort rund um die Stadt her kleine Dörfer, auf welche das alte Schloß mit gleichsam oberherrlicher Protektion herabsah.

Den Fabriksbesitzern und Arbeitern machte es immer einen Hauptspaß, Sonntags mit der neuen Pferdebahn in die Umgebung dieser alten, von Efeu malerisch überzogenen Mauern zu fahren: der langsame Ansturm der arbeitenden Klasse auf die letzten Spuren eines nach und nach besiegten, aus seinem Besitze vertriebenen und bald aus seiner letzten Zufluchtsstätte verjagten Adels; Teil um Teil wurden die erobernden Arbeiter Erwerber des zerstückelten Grundbesitzes.

So kam es, daß zur alten Abtei, dem Schlosse des Baron Seuriet, nur noch eine moosige Wiese, einige Gärten und eine mit Taxus bepflanzte Terrasse gehörte, in deren Schatten die letzten Rundbogen des einstigen Benediktinerklosters vermorschten, Denkmäler einer Baukunst, die im Verschwinden begriffen war. Alles, was früher zur Abtei gehört hatte, Wiesen, Weinberge, Felder, war gegen eine geringe Rente abgetreten worden, von welcher der einzige Sprosse der unter dem ersten Kaiserreich baronisierten Militärfamilie Seuriet kümmerlich lebte.

Der Vater Friedrich Seuriet’s hatte, noch jung an Jahren, infolge einer erhaltenen Wunde seinen Abschied genommen und mit der Zerstückelung der Herrschaft begonnen, auf welcher seine Vorfahren länger als ein Jahrhundert gelebt. Witwer geworden, gab er seinem Söhnchen ein in irgend einer Garnisonsstadt aufgelesenes Mädchen zur Erzieherin, eine verschwenderische schlechte Person, die Freds Jugend zu einem langen Martyrium gestaltete. Um ihrer Launen willen wurde Stück für Stück, beinahe die ganze Herrschaft, verkauft. Und als der Major Baron Seuriet endlich starb, war sein Sohn nahezu ruiniert und ohne jede Möglichkeit, sich sein Brot zu verdienen, denn seine ganz oberflächliche Bildung machte ihm sogar unmöglich, gleich seinen Vorfahren, die militärische Laufbahn zu ergreifen. Im Alter von fünfzehn Jahren wäre er beinahe in bitterer Verzweiflung untergegangen, hätte ihn nicht Herr von Ellissen in sein Haus genommen. Stella war damals im Sacré-Coeur.

Als Frau von Ellissen Witwe wurde, bemühte sie sich um die Rettung des schwermütigen jungen Mannes, dessen Unglück sie schmerzlich berührte. Mit Hilfe ihres Rechtsfreundes brachte sie Ordnung in seine Vermögensverhältnisse, verkaufte die letzten zur Abtei gehörigen Grundstücke gegen eine Leibrente und verschaffte auf diese Weise Fred ein Einkommen, welches ihm gestattete, zwar nur bescheiden, aber ohne Sorge für den anderen Tag zu leben. Dann zog sie ihn in ihre Nähe, nicht nur um ihn zu trösten, sondern zu sehen, nach welcher Richtung hin seine ungeschulten Fähigkeiten zu verwenden wären. Es zeigte sich, daß er nicht die geringsten Anlagen für Handel oder Industrie hatte, was Frau von Ellissen auch sehr Recht war. Aber fast war es ein Schreck für sie, die künstlerischen Neigungen des jungen Mannes, seine Leidenschaft für Musik und die Geige, zu entdecken.

Sobald sie allein waren, setzte sich Fred ans Klavier oder griff zur Geige, die zu spielen ihn niemand gelehrt und entlockte ihnen stundenlang mit intuitiver höchst persönlicher Kunst die seltsamsten Melodien. Er wäre unfähig gewesen, seine Musik niederzuschreiben, denn er kannte die Notenschrift nicht, selbst nicht den Namen der Töne, die er anschlug. Aber seine Hände eilten mit unerklärlicher Sicherheit über die Tasten, die Akkorde unter seinen Fingern, die Rhythmen, die ihnen entströmten schienen der Ausdruck höchster Kunst.

Frau von Ellissen gab schließlich der hinreißenden Gewalt dieser Entdeckung nach und logischerweise faßte sie den Entschluß, Fred mit aller Macht zum Studium der Musik anzueifern. Dies wurde ihr umso leichter, als Fred schon nur noch durch sie und an sie dachte: seine solange zurückgedrängte kindliche Liebe war mit der wilden Leidenschaft seines vierundzwanzigjährigen Herzens übergeströmt. Alles, was sie wollte, wollte auch er, und welche Mühe es ihm auch kostete, in seinem Alter noch mit dem ABC der Musik zu beginnen, fügte er sich dennoch, voller Freude ihr zu gefallen und in der Hoffnung, sich damit einst zur Erfüllung seiner geheimen verliebten Wünsche zu erheben.

François Deaken förderte mit wahrer Aufopferung Freds musikalische Ausbildung. Ohne Zweifel gehorchte auch er dem unwiderstehlichen Wunsche Mira’s. Aber vor allem selbst Künstler, war er voll aufrichtiger Bewunderung für das ursprüngliche Genie seines Schülers und half ihm nach besten Kräften eine höhere Stufe zu erklimmen, als ihm selbst je gelungen war. Er fühlte sich für seine Mühe durch das stolze Bewußtsein belohnt, an der Ausbildung eines zu großem Ruhme berufenen Genies mitzuwirken und sich an dem herzlichen Triumpfe Frau von Ellissen’s erfreuen zu können. Es war ihr Werk; gemeinsam hatten sie es vollbracht. Und dieses sie einende ideale Band, das Frau von Ellissen zur Nachsicht mit seiner verliebten, wenn auch immer ehrerbietigen Manie stimmte, tröstete ihn auch, wenn er mitunter des Trostes bedurfte, ob der zwar uneingestandenen, dennoch ihm aber nur zu wohl bewußten Minderwertigkeit seines eigenen Talentes im Vergleich mit der künstlerischen Macht und Höhe dessen, dem er die Anfangsgründe seiner Kunst beigebracht hatte.

In der Abtei lag neben einem Saale, genannt das „Abteizimmer“, eine Art von runder Kapelle. Halbsäulen hoben sich im Relief von der Stuckmauer ab, mit seinen Kannelierungen, zierlichen Kapitälen in zartem, etwas theatralischen Stile gehalten, und das Ganze erinnerte an die Muttergotteskapelle, die wie ein Juwel hinter dem Chor einer Kirche in Calais versteckt ist. Der Altar war verschwunden und durch eine Orgel ersetzt; einige Lehnsessel, Stil Ludwig XVI., in fahlem Atlasüberzug, mit eingewirkten ländlichen Szenen, standen in der Runde. Die lichten Scheiben hoher schmaler Fenster reflektierten das wechselnde Farbenspiel des Himmels.

Dies war Freds Arbeitszimmer, sein Lieblingsaufenthalt zum Träumen und Arbeiten.

Als Stella mit ihren flatternden schwarzen Flügeln und fliegendem zerzausten Haar im Parke verschwunden war, hatte er sich eilig nach Hause begeben, im Bedürfnis allein zu sein, in seinem Heim sich vor irgend einer Unannehmlichkeit zu retten, dessen Vorgefühl ihn plötzlich und unerwartet überfallen hatte. Sein sensitives Zartgefühl, seine große Empfindsamkeit zwangen ihn oft, im Alleinsein, wie hinter einem Schilde, Schutz zu suchen. Da erst gab er sich dem bis dahin bezwungenen Eindruck hin, den seine Nerven von irgend einer Erregung empfangen hatten.

Bei geschlossenen Türen ließ er seine Seele alles wieder aufs neue erleben, leiden oder genießen, da horchte er, wie sich der Reflex seiner Erregung in einen Schwarm von Tönen verwandelte. Denn alle Erschütterungen seines Wesens endeten in einem Widerhall von Schallwellen, die seinem Herzen oder seinem Gehirn entsprangen und den tönenden Wandungen seiner Künstlerseele zustrebten. Sobald sie diese erreicht hatten, kehrten sie durch den Rückprall zum ausführenden Mechanismus zurück. Dann legte er träumerisch die Hände auf die Tasten oder griff zur Geige und ließ seine Gefühle in verwandten, grandiosen, übermenschlichen Klängen sich ergießen.

Diese Art diente ihm auch zumeist, wenn er sich über seine Wünsche Klarheit schaffen wollte. Oft erhielt er erst durch das Thema, das ihm sein Genius zuflüsterte, genaue Aufklärung über sein Wollen und Streben.

Sobald er die Abtei erreicht hatte, schloß er sich in die Kapelle ein und eilte zur Orgel. Mit kindischem Herzklopfen dachte er:

„Was werde ich hören?“

Aber nach den ersten Arpeggien, die unter seinen Fingern perlten wie ein Regen von Küssen und Tränen, stürzte Fred mit ausgebreiteten Armen auf sein Instrument nieder, schlug mit der Stirne auf das Elfenbein der Register und schluchzte:

„Was mir fehlt … was mir fehlt?! … Ich sterbe vor Liebe!“

Ein wahnsinniger Schmerz schüttelte ihn. Seit langem schon hatte er das unausweichliche Unheil, die entsetzliche Gewißheit nahen sehen, daß Frau von Ellissen nie die Seine würde. Solange aber Mira sich nicht ausgesprochen, hatte er nicht verstehen wollen. Er war mit seinen Schmerzen vorwärts geschritten, immer weiter, wie ein Mondsüchtiger dem Ziele zu, das er seit vielen Jahren, seit jeher, wie es ihm schien, verfolgte. Er hatte sie so geliebt, daß er sich einbildete und vielleicht war dem auch so, daß er sie noch immer so begehrte wie in den ersten Tagen der Leidenschaft, in denen seine erwachenden Sinne sich ihr zugewandt. Er sah nicht ihre dreißig Jahre herankommen, in seinen Liebesträumen erschien sie ihm schöner als je, frisch, schlank, mit ihren großen Kinderaugen und ihrem naiven Mund. Und immer wieder kehrte er zu ihrer Schönheit zurück, als der Quelle seines ersten Sehnens, ohne zu bedenken, daß diese Quelle nun in voller Reife, in sommerlicher Fülle prangte, aber nicht mehr in der ersten Blüte des Lenzes.

Hätte sie sich ihm zu dieser Stunde hingegeben, so hätte er gewiß die unaussprechlichen Wonnen des Besitzes im Triumpf genossen. Aber Mira hatte ihn abgewiesen, und er wußte wohl, daß es jetzt zu Ende sei. Es schien ihm wie beim Zusammenbruche jeder Leidenschaft, als sei sein Herz nunmehr abgestorben, als habe er sein ganzes Leben auf diese Liebe aufgebaut, wie ein Spieler sein ganzes Vermögen auf eine Karte setzt. Versagte sie, so war er verloren. Verloren, denn sein Durst nach Liebe blieb ungestillt; und wenn er auch mit aller Macht seiner Seele lieben wollte, – er würde nicht mehr lieben können.

In seiner Verzweiflung schrie er wild auf, aus Schmerz und aus Zorn gegen Mira, aus unterdrückter Leidenschaft, aus verletztem Instinkt, als wäre er körperlich verwundet worden.

Er verließ das Instrument, das stumm und ohne Atem, wie mit entflohener Seele, gefühllos gegen seine kindischen Schläge dastand und schleppte sich auf die lange Terrasse, die das Dach des Kreuzgangs bildete. Von ihr aus überblickte man die von Moos und Unkraut überwucherte Wiese, auf der sich ein bunter Teppich von Krokus, zarten Gänse- und stolzen Butterblumen bis zum beschatteten Bächlein hinzog, das den Garten der Abtei teilweise begrenzte. Jenseits der schlanken Pappeln, auf denen das erste Frühlingsgrün zitterte, erstreckte sich welliger Boden bis zu den Abhängen der mit schwarzen Fichten gekrönten Hügel. In hellen, regelmäßigen Flecken breiteten sich die Wiesen zwischen den glänzenden Feldern und dem bläulichen Schimmer des sproßenden Getreides aus. Abendlicher Friede senkte sich nach und nach herab, von den verlassenen Feldern flohen die letzten Geräusche, durchbrausten noch einmal das Laub der Bäume und erstarben.

Schweigen – und Nacht.

Fred badete sein Gesicht, seine fieberheißen Hände im frischen Abendwinde, atmete tief die reinen Düfte ein und unterdrückte seine Seufzer, als ob er den erhabenen Schlummer der nach ihrem Tagewerk ermattet ruhenden Erde nicht hätte stören wollen.

Oft, wenn er sich so seinen Träumen hingab, die in der Nacht vorüberschwebten wie ein unsichtbarer Schwarm von Nachtvögeln und die Stirne streiften, die sich dem Grenzenlosen zuwendet, in dem die Welten kreisen, kam ihm vor, als ob er in einer Reihe von Trugbildern seine geheimsten Wünsche an sich vorüberziehen sähe. Es waren Wunder an plötzlich erfüllten Freuden; die Hindernisse schwanden, in kleinen zerflatterten Wölkchen trieb sie der Wind hinweg; und er blieb allein mit seinem vollendeten, entschleierten Traum, der wie das Gestirn leuchtete, das ihn mit seinem bleichen Strahle umhüllte. Dann verdichtete sich das Bild und verkörperte sich zu der so heiß ersehnten Menschengestalt; und die angebetete Mira schien plötzlich vor ihm zu erstehen, endlich besiegt, endlich seinem leidenschaftlichen Rufe folgend. Und ihm unter den wallenden Schleiern die Arme entgegenstreckend, wie eine Mutter Gottes über den großen Chören, sprach sie:

„Da bin ich, ich will deiner Liebe dienen, dein Wille geschehe!“

Da wandte er sich um und eilte nach seinem Zimmer und suchte und wollte sie dort finden, wollte, daß seine Vision kein eitler Traum sei.

Und wieder, als er diesmal, vor Kälte zitternd, nach langen auf reifbedeckten Feldern verbrachten Stunden des Vergessens, sein Heim aufzusuchen sich entschloß, überraschte ihn an der Schwelle seines Zimmers der gewohnte Traum und erfüllte ihn mit Wahnsinn einer plötzlich neu geweckten Hoffnung.

Wie wenn auch sie unter ihrer grausamen Weigerung gelitten hätte? Wenn sie ihn hätte trösten wollen? Wenn sie, da alles in tiefem Schlummer lag, sich mutig auf den Weg gemacht, um als Engel der Barmherzigkeit ihm den Hunger seines Herzens, den Durst seiner Lippen zu stillen!

Was frommte ihre Güte, wenn sie sie nicht gegen einen Unglücklichen, wie ihn, übte? War sie es sich nicht selbst schuldig, zu geben und wieder zu geben, alles und mehr als alles: sich selbst!

Gewiß, sie würde nachgeben, ihre Großmut würde sich nicht auf materielle, gewöhnliche Gaben beschränken. Wäre es nicht krasser Egoismus, wenn sie ihm das einzige Almosen, das er von ihr begehrte, verweigerte? O, wenn sie erriet, wie ihn nach ihrer Schönheit dürstete, so daß er an entnervender Schwäche zu sterben fürchtete!

Und vielleicht war sie da! Wußte sie denn nicht, daß er bei offenen Türen wohnte, um sie zu erwarten?

Zitternden Schrittes schlich er in sein Zimmer und rief ganz leise:

„Mira! Mira!“

Im Dunkel streckte er die verlangenden Hände vor, wie in der Erwartung einer Berührung. Das Schweigen in der Finsternis reizte seine aufgeregten Nerven. Eilig machte er Licht. Und als er sich überzeugt, daß der Raum leer war, sank er gebrochen in einen Sessel.

„Allein! Immer allein!“ murmelte er. „Ewig allein!“

Nach einer Weile schrie er auf:

„Ich kann nicht mehr, es übersteigt meine Kräfte. Mein verzweifeltes Verlangen ist schon zum Alp geworden. Das Bedürfnis nach Liebe packt mich, wie wütender Hunger. Alles gestaltet sich mir zu Bildern und Berührungen der Lust. Lange glaubte ich, mich mit diesem anormalen Leben eines ideal verliebten Klostermönchs begnügen zu können, der sich mit der Erleichterung des Gebets, mit der Extase, der ewig überirdischen Anbetung bescheidet. Ich habe die Extravaganz bis zum Wahnsinn getrieben. Aber jetzt versagt mein Wille, etwas, das stärker ist als ich, drängt mich zum unmittelbaren Genuß sinnlicher Freuden. O, Mira, ich wollte dir mein Ich schenken, mein ganzes Ich! Und nun wird das von mir, was du verschmähst, zu entehrenden, weil liebelosen Genüssen herabsinken. Wenn ich glücklich gewesen wäre, glücklich, wie der Erstbeste, hätte ich ein geliebtes Weib an der Seite, dann würde ich die Sehnsucht meines Herzens in Umarmungen sättigen, die erschöpfen, aber neu beleben. Meinen Durst würde ich an Lippen stillen, mir dargeboten wie ein geheimnisvoller Kelch, und vergehen würde ich in der göttlichen Extase zeugenden Besitzes. Ich würde befruchten, wie die Erde befruchtet in dieser Frühlingsnacht – – – Und morgen – – da würde ich freien Geistes, stark in dem Bewußtsein betätigter männlicher Kraft, an meine künstlerische Arbeit eilen. Jetzt kann ich nichts, ich bin tot, ich bin wahnsinnig. Sobald ich meinen vergebens angeregten Nerven freien Flug lasse, zerstören abgerissene Akkorde den kaum erfaßten Rhytmus und jagen einander, wie dämonische Reiter aus irgend einer schändlichen Walpurgisnacht. Verloren!! – Verloren!! – Oder wie? Mira nicht mehr lieben? Aber ihre Schönheit allein erschüttert mich. Sie wagt es, sich alt zu nennen! Und sie ist doch so schön, so anbetungswürdig schön. Ihr Blick – ihr Lächeln! – Sähe ich nicht immer die Erhabenheit ihres Herzens hinter dem Welken ihres Körpers? Sie vermag zu lieben, sie allein, so wie ich die Liebe träume. Und ich habe immer nur sie allein geliebt; erst jetzt kenne ich die gewaltige Macht des Wortes „Liebe!“ – Wenn ich sie verlöre, dann, glaube ich, könnte ich nicht mehr leben. Ja, ich weiß, die andern Männer würden mich verspotten. Sie leben anders. Mira hat recht, ich bin nur ein Kind.“

Und gerührt über sich selbst, begann er in seiner Schwäche zu weinen. Das rein sentimentale Bedürfnis war wieder in ihm erwacht, sich zu Füßen der Geliebten niederzulassen, die Stirne unter ihre mütterlichen Hände zu legen, die er andächtig küssen würde.

Nun sehnte er den Morgen herbei, um zu ihr eilen zu können. Und eine unklare Freude durchdrang ihn, als ob er sie fast verloren und ebenso zärtlich, ebenso ideal die Seine, wiedergefunden hätte.


III.

Stella wurde zum Ball in der Präfektur angezogen, dem großen, jährlich stattfindenden Feste, zu welchem alle Familien der Stadt, die zur Gesellschaft gehörten, eingeladen waren. Der Adel war durch diejenigen seiner Mitglieder vertreten, die das meiste Interesse hatten, mit der offiziellen Welt auf gutem Fuß zu stehen. Der ärmere Bürgerstand drängte sich herzu, um auf diesem günstigen Boden seine Heiratsjagd nach einem der großen Industriellen fortzusetzen, die ihrerseits eine Ehre dareinsetzten, in der müßigen Gesellschaft zu verkehren und sie zu blenden. Lange vorher schon wurden die Toiletten zusammengestellt. In den alten schweigsamen Häusern bemühten sich Hausschneiderinnen heimlich, die abgetragenen Sachen nach Bildern der Modeblätter wieder aufzufrischen. Das Ergebnis war nicht immer glücklich, und viele reizende junge Mädchen verloren ihre Anmut in einem stil- und geschmacklosen Aufzug. Aber erst unter dem Glanze der Luster gewahrten sie ihre Niederlage neben den aus Paris bezogenen Toiletten. Dadurch gekränkt, verscheuchten sie mit ihren unzufriedenen Gesichtern die Tänzer. Neid und Haß entbrannten bei solcher Enttäuschung; Bitterkeit stieg auf die Lippen der Mütter; das Geplauder wurde zum Klatsch, und der Abend zeitigte Nachträgereien, die die ganze Stadt auf ein Jahr mit Streit versorgten. Auch bereitete man von langer Hand her die Revanche vor.

„Welche Farbe werden Sie tragen, meine Liebe?“ fragte man mit honigsüßer Stimme.

Und je nach der Antwort, ob blau, ob rosa, oder weiß, richtete man sich ein, anders und besser gekleidet zu erscheinen.

Stella kannte diese Art von Sorge nicht. Ihre Kleider kamen aus Paris, und obgleich sehr einfach, hoben sie ihre angeborene Grazie durch unbestreitbare Eleganz. Übrigens stand sie noch ganz im Anfang ihrer gesellschaftlichen Laufbahn. Erst seit ihrem siebzehnten Jahre war sie nicht mehr auf „Lämmerhüpfen“ und „weiße Bälle“ beschränkt; das heißt: an diesem Abend kleidete man sie zu ihrem zweiten großen offiziellen Feste. Das erste Mal hatte sie nach Provinz-Sitte in schneeweißen Gazewolken erscheinen müssen; für diesmal wählte sie eine reizende Zusammenstellung aus hellgrünem Surah mit silbergetupftem Tüll. In ihren Haaren trug sie nur einen Tuff Flughafer, aus dem sich, schlank und zart wie Flaum, ein Zweig wilder Clematis hervorhob.

Nachdem sie aus den Händen der für etwaige Änderungen so notwendigen ersten Schneiderin entlassen war, hatte sie sich den geschickten Fingern der Friseurin überliefert; der Friseurin, die die Bräute frisiert und mit dem Ernste eines Folterknechts die verschiedengestaltigen Brenneisen handhabt.

Vergebens, daß Stella rief: „Au! Sie brennen mich! Reißen Sie doch nicht so stark!“

Die Künstlerin hatte kaum ihr Werk vollendet, als Stella, empört, die Frisur mit einem Stoß zerstörte, um sich nach eigenem Geschmack, auf weniger banale Art, das Haar zu richten.

Nun überzeugt, nicht allen andern zu gleichen, lachte sie laut auf, berauscht von der jugendlichen Freude sich so reizend zu sehen. Mit dem Fächer in der Hand lief sie unter dem Rauschen des Flitters, der wie Regentropfen ihr grünes Kleid bedeckte, aus ihrem Ankleidezimmer, wie eine Najade aus dem Bade, und stürzte in den Salon ihrer Stiefmutter.

Frau von Ellissen hatte sich darauf eingerichtet, in der Erwartung von Stellas Rückkehr einen langen Abend an ihrem Kamin lesend zu verbringen. Sie hatte sich’s bequem gemacht und ein hellblaues Morgenkleid angelegt, das ihre herrlichen Formen zur Geltung brachte und sich der zarten Blässe ihres Gesichts prächtig anpaßte.

Frohe Heiterkeit flog über ihre Züge als sie Stella erblickte, die ihr beim Eintreten zurief:

„Bin ich schön, was!“

„Blendend,“ erwiderte sie und bedeckte zum Scherz die Augen mit den Händen.

Stella aber, plötzlich verstimmt:

„Du bist allein?“

Die junge Frau schmiegte sich tief in ihren Sessel und sagte:

„Köstlich allein.“

„Nun gut! Ich bin schön!“ Mit einem Ruck ihrer Büste streckte sie den langen Hals, der mit kühn emporstrebendem Kinn eine feine schlanke Linie bildete. Die Züge ihres zarten Gesichtes waren fein aber unregelmäßig, der Mund schmal, die Augen nach den Schläfen hin gehoben, die Nase gerade und beweglich: es war ein wahrhaft anziehendes, erregendes, wenn auch nicht regelmäßig schönes Gesicht. So geschmückt, besaß sie den Reiz eines Kunstwerkes, das seltsam und fein, ja sogar interessant erschien durch die Originalität seines unbestimmbaren Stiles.

„Bald wird dich eine Schar von Bewunderern umringen,“ sagte Frau von Ellissen ein wenig ernsthafter.

„Darum ist mir nicht bange,“ antwortet sie trocken.

Eine Sorge flog über Frau von Ellissen’s Stirne und die sagte leise:

„Immer frivol, kleine Maus!“

Das junge Mädchen erwiderte:

„Möchtest du mich vielleicht ernst und sentenziös wie du selbst?“

„Ich glaube, ich ermüde dich nicht allzusehr mit meinen Sentenzen. Weniger aus Vergnügen, als aus Pflichtgefühl predige ich dir manchmal.“

„Als wenn ich das nötig hätte!“ versetzte Stella.

„Wir haben das alle nötig, liebes Kind, besonders die Jugend, die das Leben und seine Verpflichtungen noch nicht kennt.“

„Diese Wissenschaft lernt sich von selbst, durch die Gewohnheit. Was die Verpflichtungen betrifft, so erduldet man nur jene, die man sich selbst schafft.“

„Du irrst dich gründlich: der Instinkt ist egoistisch, und die Moral lehnt sich gegen den Instinkt auf.“

„Ich sehe den Nutzen nicht ein.“

„Deshalb eben bemühe ich mich, dich verstehen zu lehren, – vor allem die Pflichten gegen andere.“

„O, Mama, ich bitte dich, keine Predigt heute abend! Dazu ist jetzt nicht die Zeit. Und dann bin ich etwas nervös.“

„Bist du nicht wohl?“ rief Frau von Ellissen schon beunruhigt.

„Aber nein, rege dich doch nicht so auf, um nichts! Ich bin nervös, weil … du bist schön, Mama, noch nie habe ich dich so schön gesehen, wie heute abend. Gut, daß du nicht mit mir gehst, niemand würde mich beachten … ich bin nervös, weil …“

„Nun, weil?“

„Ich langweile mich, wenn du es durchaus wissen willst.“

„Du solltest dich langweilen?“

Frau von Ellissen riß ihre zarten Augen vor Entsetzen weit auf und rief:

„Großer Gott! was könnte dir denn fehlen, um glücklich zu sein!“

»Du willst es wissen? So höre. Es fehlt mir an Freiheit der Bewegung, an Freiheit, nach meinem Geschmack zu handeln, zu arbeiten wann es mir gefällt, mich zu unterhalten wie es mir paßt. Du, aber, durchkreuzest alle meine Ideen. Sieh mich doch nicht so an, als ob ich da etwas Ungeheuerliches sagte! Und doch, schau, ich bin ja ganz vernünftig. Was verlange ich denn? Ein etwas weniger blödes Leben, als man es uns hier zu führen gestattet, worin man uns bis zur Ehe leitet, wie eine Herde blöckender sorgfältig gepferchter, gehüteter Lämmer ohne unserer Initiative der freien Entwickelung unserer Persönlichkeit den geringsten Spielraum zu lassen. – Nun weiß ich aber, daß die amerikanische Erziehungsmethode, das gerade Gegenteil der unserigen, sich auch hier, wenigstens bei uns, nach und nach Bahn bricht. Die jungen Mädchen werden nicht mehr den Blicken verhüllt wie Odalisken. Sie besuchen sich ohne Zwang, schreiben sich, empfangen einander, ohne daß sich eine aufreizende Aufsicht zwischen sie schöbe, mit der Anmaßung, ihr Urteil umzustimmen, ihre Neigung zu lenken. Glaube mir, wenn man mich noch so gut bewachte, so könnte ich, ich bin gewiß, meine Wächterin täuschen, wenn ich wollte! Die jungen Frauen sind ihre mächtigen Helferinnen bei dieser Emanzipation, die Gott sei Dank, immer mehr an Boden gewinnt. Man fängt an, sie anders zu betrachten als ein Spielzeug, als Gänschen, die von der Wiege bis zum Grabe im Käfig gehalten werden müssen. Und sie gewinnen dem Leben einen neuen, individuellen Reiz ab, der ihren Geist erweitert.“

„Und sie verderbt macht!“ rief Frau von Ellissen entsetzt aus. „Stella, wenn dich dein Vater hörte!“

„Verderbt macht!“ erwiderte Stella verächtlich. „Was ist denn verderbt? Was ist es nicht? Du wärst wohl in Verlegenheit, mir das zu sagen. Es ist ein konventionelles Wort, das Ihr alle, hier, mit entsetzter Miene immer anwendet, sobald die neue Zeit an den althergebrachten Sitten das geringste zu ändern versucht. Alles was nicht in die Überlieferung eurer engherzigen Moral paßt, ist verderbt, und damit ist die Sache begraben: „Nur nicht dran rühren!“ Das ist viel leichter, als die Frage selbst zu untersuchen und die nötigen Folgerungen daraus zu ziehen.“

„Verzeih’, Stella, wir Frauen würdigen schon die Fragen, auf die du anspielst – wenn auch nicht alle Frauen auf die gleiche Weise – ich gebe die Beschränktheit der Provinzlerinnen zu. Viele sind wohl ehrlich und klug genug, zu unterscheiden, was gut und was schlecht ist für unser Ziel – das heißt, für unser Glück – und für das der andern. Ich denke, das ist ein Prüfstein, den die gesunde Vernunft anerkennen muß.“

„Es wäre vielleicht einer, wenn ihr über das, was ihr Glück nennt, eine Ansicht hättet, über welche wir uns verständigen könnten. Aber willst du mir erklären, welche Art von Glück du hienieden angestrebt hast? Du bist ungefähr wie ich erzogen worden, weniger liebevoll, ich weiß es, aber nach derselben Methode. Du hast dich mit meinem Vater verheiratet, der schon nicht mehr jung war und ein Kind auf dem Halse hatte. Er war ein guter Mann, ich muß es zugeben, aber ziemlich brummig, herrschsüchtig, der mit dir, wie ich mich wohl erinnere, immer schonungslos umgesprungen ist. Er gestattete dir gar nichts ohne seine ausdrückliche Erlaubnis, und du weintest vom Morgen bis zum Abend über seine Zurechtweisungen, ohne die Kraft zu finden, dich aufzulehnen, ihm deinen Willen des gleichberechtigten freien Wesens entgegenzustellen. Du hättest dich wohl gehütet!“

„Gewiß,“ murmelte die junge Frau, die ein schmerzlicher Schauer überfuhr.

„Und warum das?“

„Ich verdankte deinem Vater alles, was ich besaß, ich war allein, Stella, ganz allein! – Und um Frieden zu finden …“

„Das ist’s wohl: du hast aus Feigheit nachgegeben, um dir die Anstrengung des Kampfes zu sparen und auch weil du aufrichtig und naiv glaubtest, deine Pflicht zu erfüllen.“

„Ja.“

„Und dein Glück, bitte? Dieses unser Ziel, von dem du vorhin sprachst, wo hast du es gefunden?“

„Ich denke nicht mehr an Glück! Ich war zufrieden mit dem Guten, das ich tun durfte, mit meiner Schreiberei, meinen Büchern – –“

„Und das hat dir genügt?“

„Es scheint so,“ sagte Frau von Ellissen leicht verwirrt.

„Das ist eben das Unglück, daß eine solche Milchsuppe von Glück meinen Appetit gar nicht stillen würde. Ich brauche kräftigere Kost.“

„Es ist aber doch ein großes Glück, liebes Kind, sich selbst für das Wohl seiner Nebenmenschen aufzuopfern.“

„Nach deiner Meinung sollte also das ganze Leben nur dazu verwendet werden, sich mit den andern und nicht mit sich selbst zu beschäftigen?“

„Gewiß!“

„Nun, diese Philosophie liegt meinem Verständnisse gänzlich fern. Wenn ich nur leben sollte, um mich für das Wohl anderer zu begeistern, dann wollte ich, ich wäre nie geboren.“

„Ach, Stella, ich hoffe, daß das Leben deine Ansichten ändern wird.“

„Ich denke nicht.“

„Und das du den himmlischen Trost des Selbstvergessens kennen lernen wirst.“

„Damit einen die andern auch vergessen, nicht wahr? Selbstbetrug. Immer nur geben, nie empfangen. Opfer ohne Ende. Schönes Schicksal Das wähl’ ich mir nicht. Und darum will ich frei sein, zunächst, um mich zu orientieren und mich dann der besten Seite des Lebens zuzuwenden.“

„Und die wäre?“

„Tun können, was mir gefällt, wie …“

„Vollende!“ „ “Wie die Männer, siehst du!

„Ah, das ist dein Traum?“

„Nichts anderes.“

„Warte doch, bis du weißt, was sie tun, ehe du sie beneidest.“

„Ich weiß genug von ihnen, um zu merken, daß wenn sie sich das uneingeschränkte Recht angemaßt haben, die Herren ihrer selbst und obendrein auch noch die unseren zu sein, dies das beste Mittel zur Sicherung ihrer vollständigen Glückseligkeit war. Also …“

„Also erklärst du dich für frei und emanzipierst dich?“

„Ich erkläre gar nichts, ich bin kein Dummkopf. Aber so bald als möglich, werde ich mich emanzipieren.“

„Wirklich? Und wieso?“

„Ach, du hast mich ganz gut verstanden!“

Frau von Ellissen blickte Stella an, dann sagte sie plötzlich bewegt:

„Wie? Du denkst schon daran, dich zu verheiraten?“

„Ich bin neunzehn Jahre alt! Nicht?“

Frau von Ellissen sagte traurig:

„Du willst mich verlassen, Stella?“

„Ach, wenn du sentimental wirst, dann werden wir uns nie verständigen.“

„Ja, ja, ich weiß, du bist nicht empfindsam. Aber du bist dir schon selbst bewußt, daß es eines Tages dahin kommen muß.“

„Und du möchtest mich zurückhalten, während es mich drängt, fortzufliegen. Ich sträube mich!“ und mit einer reizenden Bewegung ließ sie alle Flitter ihres Kleides in die Luft fliegen.

Frau von Ellissen sah sie an:

„Also gut, ich werde daran denken.“

„Woran, bitte?“

„Dir den weißen Raben auszuhecken, der dir natürlich im Kopf steckt.“

„Ich! Ach Gott nein! Es gibt keine weiße Raben. Oder vielmehr, der wird der weiße Rabe sein, der mir gefällt.“

„Wenn du vielleicht sagtest: der unsgefällt.“

„Wirklich? Er soll auch dir gefallen? Alte Mode, liebe Mama. Aber sei getrost, derjenige, den ich dir vorstellen werde, wird dich nachsichtig finden.“

„Den du mir vorstellen wirst? Bist du verrückt, Stella?“

„Deshalb, weil ich, ich für mich, denjenigen aussuchen will, mit dem ich die Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit haben werde, vielleicht für mein ganzes Leben zusammen zu hausen? Ich wäre in der Tat verrückt, wenn ich anders dächte!“

„Weißt du, daß sich mir der Kopf dreht, wenn ich dir so ruhig zuhöre!“

„Das glaub ich gerne. Du siehst mich an, als hättest du mich noch nie gesehen. Beruhige dich, ich bitte dich. Ich bin ein ganz vernünftig denkendes Mädchen.“

„Stella! – Stella!“

„Ich würde nie etwas Anstößiges tun.“

„Nur das fehlte noch!“

„Aber …“

„Aber?“

„Aber würde von meinem Rechte Gebrauch machen, wie es mein Verstand und mein Instinkt diktieren. Du kennst jetzt meine Anschauungen über das Leben.“

„Sag, wo hast du nur all das Zeug her?“

„Aus der Luft, meine Liebe; man fängt seine Lebensanschauungen wie die Schmetterlinge in der Luft. – Hopp! – und ich hab's!“

„Ja, du machst dich noch lustig über mich, über Menschen, die anders denken, über Frauen, die ihre Pflicht kennen!“

„Nein, mein liebes Stiefmütterchen, ich mach’ mich nicht lustig – ganz besonders nicht über dich – ich bedaure dich! Ich schäme mich beinahe, vom Leben schon so viel zu wissen, was du als Frau, im Glanze deiner Frauenschönheit und -würde, bei Seite lässest, was du nicht kennst. Es ist nur das, daß ich mir weder die Augen verbinde noch die Ohren verstopfe, wie man es mir eigentlich zu tun befiehlt, wie du es auch getan, als du Mädchen warst und auch jetzt noch tust. Nicht wahr, ich wette, du würdest mir nicht erlauben, Romane zu lesen, die auf dem Index stehen?“

„Stella! – du darfst und sollst doch nicht von solchen Dingen sprechen. Ich habe die Pflicht, als Gattin deines verstorbenen Vaters, dich daran zu hindern und dich aufmerksam zu machen!“

„Siehst du, ich war dessen gewiß! Also warum läßt du in deinem Arbeitszimmer Zeitungen, Romane Schriften aller Art herumliegen? Ich verschlinge sie, die Kritiken darüber. Ah! Die modernen Romane und Zeitschriften! Das sind unsere wahren Erzieher. Ihr spielt uns Revüen für junge Mädchen in die Hände und bildet euch ein, daß uns die interessieren. Welcher Schwindel! und wie pfiffig, ihnen einen Titel zu geben, der schon an sich eine Warnung für uns ist, ja keinen Blick hinein zu werfen: wir würden nichts daraus lernen. Aber es ist so leicht, eine Zeitung mitgehen zu lassen: man zerknüllt sie, wickelt sie um ein kleines Paket und trägt es ruhig unter dem Arm fort. Und dadrinnen, siehst du, findet man alles: von der romantischen Novelle, der leidenschaftlichen Erzählung, der Studie über das Weib, den Enthüllungen über die Kämpfe des Herzens, über Familien-Tragödien, bis zum Ehebruchsprozeß, den lehrreichen Lokalnachrichten, den kleinsten Einzelheiten aus dem bunten Leben gewisser Damen… Geh! Man müßte schon sehr vernagelt sein, um nicht einen deutlichen Begriff des Lebens zu erhalten, wenn man in diesem täglichen Erzieher geblättert hat.“

„Barmherziger Himmel! Wenn ich das je geahnt hätte …“

„Natürlich, liebe Mama, du konntest das nicht ahnen… Ich hab’s ja ganz, ganz heimlich getan. O wie gerne möchte ich dir alles sagen können, was ich denke – alles, alles, – so wie ich zu einer guten Freundin sprechen würde. Du bist zu jung, um nicht zu verstehen, du bist so schön, so entzückend in deinen Reizen! O erlaube, daß deine Tochter dich nie mehr Mama nennt – sei mir eine liebende Schwester, eine treue, aufrichtige Freundin! Willst du?“

„Ja, Stella, nenne mich Mira!“

„Nie mehr, niemals mehr Mama? O ich habe in dir, nicht wahr, eine vergötterte Freundin? Siehst du, du darfst dir nicht vorstellen, daß die Engel in Strömen vom Himmel fallen. Nein, sie kommen tropfenweise auf die Erde, da einer und dort einer, und sie bilden nicht die Mehrzahl! Die Mehrzahl machen wir aus, die neugierigen, frühgeweckten, kleinen Mädchen. Wir sind schlau, weil man uns dazu zwingt, und wir behüten unsere Stück für Stück erworbene Erkenntnis mit frommen Mienen und gesenkten Blickes, bis zu dem Tage, an dem wir die hinter unseren weißen Vorhängen aufgespeicherten Theorien in die Praxis übertragen können.“

Das dumpfe Rollen eines Wagens wurde hörbar, und die Glocke ertönte. Und Stella, glücklich über diese Ablenkung, rief:

„Da ist die Miß … Wenn ich nur auf meine Art glücklich werde – sind damit nicht alle deine Wünsche erfüllt?“

„Gewiß, Stella – aber du wirst das Glück finden, wenn du deine eigenen Wege gehst? Ich wäre trostlos, dich eines Tages unglücklich zu sehen, zu wissen, daß du leidest, Stella!“

„Aber nein, Mira, du wirst sehen. Hab’ nur ein wenig Vertrauen zu mir. Ich bin nicht schlecht und liebe dich von Herzen.“

Die Zofe trat ein:

„Fräulein Deaken läßt um Entschuldigung bitten, aber sie wird wegen ihrer kranken Füße nicht heraufkommen, das gnädige Fräulein abzuholen. Wenn das gnädige Fräulein sich allein hinunter begeben möchte?“

„Arme Miß. Sie hat die Überwindung, sich dorthin zu schleppen, um uns gefällig zu sein.“

„Warum kommst du nicht mit, warum lässest du mich allein, ohne dich, hingehen? Schau, sei lieb, zieh’ dich an!“

„Nein, mein Herzchen, ich halte meinen Schwur. In ein paar Tagen bin ich dreißig Jahre alt. An dir ist es jetzt, zu tanzen. Ich bleibe zu Hause, und glaube mir, ich habe das Bedürfnis, allein zu sein. Indes komm’ nicht zu spät nach Hause. Grüße Fred recht herzlich. Also, vor dem Kotillion …“

„Ja, Mira, abgemacht. Du wolltest mich erwarten?“

„Gewiß. Ich fühle mich heute so frisch, daß ich viel schreiben werde. Und dann wirst du von deinen Triumphen berichten. Ich bin schon so neugierig! Unterhalte dich gut! Geh, lasse Miß nicht warten. Auf Wiedersehn!“

Mit hochgehobener Lampe reckten die Dienstboten die Hälse und sahen dem Wagen nach. Frau von Ellissen kehrte zurück, zog die Vorhänge vor und setzte sich wieder an den Kamin. Aber sie lehnte sich nicht mehr so ruhig zurück, wie zu Beginn des Abends. Vorgebeugt, den Ellbogen auf’s Knie, das Kinn in die Hand gestützt, saß sie da, überwältigt von besorgten Gedanken. Lange starrte sie vor sich hin, regunglos, geisterhaft; die zurückgefallenen Spitzen ließen den blendend weißen Arm sehen, ihr Auge glänzte, und hie und da rollte eine Träne über ihre Wangen. Ein harter bitterer Kampf vollzog sich in dieser starken, edlen Frauenseele. Sie schien wie erlahmt. Müde legte sie ihr Haupt auf die Lehne des Sessels und schloß die Augen. Sie dachte an Fred, wie froh und heiter er wohl heute sein mochte. Doch sie – sie wird jede Gelegenheit meiden, ihn zu sehen, sich ihm zu zeigen. Ob er wohl ein einziges Mal an sie denkt? Er sagte ihr, daß er sie liebe, weiß denn ein Mann in seinen Jahren, was Liebe, wahre innige Liebe ist? Und wenn er später diese Liebe bereuen sollte, falls sie an seiner Seite bliebe: er jünger als sie; er in seiner besten Manneskraft, sie mit weißen Haaren an den Schläfen – was dann? „Nein, niemals, Fred,“ rief sie leidenschaftlich erstickter Stimme, „lieber sterben im Vollgefühl der Vorstellung: wie schön es hätte sein können, wäre er früher geboren!“

Frau von Ellissen erhob sich und streckte stehend die Hände nach seinem Bilde dort auf ihrem Schreibtisch. Da stand er vor ihr, so wie er ahnungslos in das Haus ihres Mannes gekommen war. Sie wollte das Bild umarmen, es küssen, sie preßte es an ihr Herz, das so weh tat, so weh! „Fred, Fred,“ rief sie mit einem Blick auf das Bild, „siehst du nicht, welch bitterer Schmerz in meiner Brust wühlt? Wie elend krank mein Herz ist? Ja, Fred, ich liebe dich – ich liebe dich! Aber nie, nie wirst du von mir hören, daß ich dich liebe, ja, liebe, mehr wie alles auf der Welt! Ich wurde nicht zum Glücke geboren. Dein Weib sein zu können, dich die wahre einzige Liebe lehren zu dürfen, ich darf es nicht, nein – nie! nie! Und du, im Glanze deiner Jugend, darfst dich nicht an ein Weib binden, das dir im Alter vorangeht – nein, du sollst wählen, – eine, die jünger, die schöner ist, als ich alte Frau! Siehst du es nicht? Oder willst du es nicht sehen? Höre hier den heiligen Schwur, den ich mir vor deinem Bilde auferlege: Nie, nie werd’ ich die deine! Nie sollst du von mir hören: Ich liebe dich! Das ist das heilige Gelübde meiner dreißig Jahre!“

Plötzlich griff sie an ihr Herz. Seit Monaten litt Frau von Ellissen daran. Nicht genug, daß es sie moralisch mit all den erschütterten Eindrücken gefoltert hatte, schlug es jetzt dumpf in ihrer Brust, raubte ihr den Atem und brachte ihr Erstickungsanfälle. Da sie Aether beruhigte, sagte man ihr, es sei „nervös“, es „bedeute nichts“, und nichts war ihr lieber, als dem zuzustimmen.

Um sich zu zerstreuen, schraubte sie die Lampe höher, schlug zum Schutze ihrer so übermäßig empfindlich gewordenen Augen den Schirm nieder und nahm ein Buch zur Hand. Aber sie fuhr zusammen und warf es ins Feuer.

Welche Manie – dachte sie – haben denn alle diese Frauen, immer das ewige Lied von glücklicher oder unglücklicher Liebe zu wiederholen! Wie kann man sich so sehr für zumeist ehebrecherische Liebe begeistern! Dem Kommen und Gehen eines Pärchens nachzuspüren, das sich verfolgt, sich flieht, oder sich trifft, oder, wie hinter einem Vorhang versteckt, seine Gespräche, seine Küsse, belauschen? Wie schmutzig das alles doch eigentlich ist!

Manchmal, ja, da trifft man einen Autor, der, scheint’s, nur eine Leidenschaft in sein Buch eingeschmuggelt hat, um als Bindeglied oder Lockspeise für den Leser zu dienen, damit er ihm in seiner ernsten Charakter- oder Sittenstudie folge. Da begegnet man Gedanken, bei denen man stehen bleibt, Auseinandersetzungen, die klarere, bestimmtere, neuere Ansichten über die entrollten Bilder erwecken. Das gibt ihm eine freudige Erleuchtung, mit deren Hilfe ihm neue, ohne sie unbekannt gebliebene Wahrheiten aufsprießen. Man vergißt leicht das Gerüst des Romans, um an der Entwicklung einer allgemeinen, dem Verfasser eigentümlichen Idee Gefallen zu finden, die sich nach und nach aus den Tatsachen auslößt. Wenn man solch ein Buch aus der Hand legt hat man etwas zu denken.

Aber wie selten sind sie, solche Autoren! Und gerade von diesen spricht niemand, sie werden weder gerühmt noch empfohlen. Die Buchhändler sagen: „Dieser Roman geht nicht“, und in der Gesellschaft wird er nicht gelesen. Den anderen aber bereitet man einen Erfolg, solchen, die dem dummen Klatsch, dem boshaften Geschwätz gleichen, an alle diese blöden Geschichten, die sich die Frauen gegenseitig in die Ohren tuscheln und die geschrieben sind, als hätte man ihnen dabei zugehört. Mein Gott! Vielleicht werfen sie sich deshalb so gierig auf dieses Futter!

Die Zeit verging; kurz nach Mitternacht erwachte Frau von Ellissen aus ihren Träumereien. Beim Rollen eines Wagens, der vor ihrem Hause stehen blieb, war sie plötzlich aufgefahren.

„Schon?“ sagte sie mit einem Blick auf die Uhr. „Arme Stella! sie wollte ihren guten Willen zeigen mit der frühen Heimkehr.“

Sie erhob sich und eilte zur Türe, welche sie weit öffnete. Sie hörte die Stimme eines Mannes auf der Schwelle und trat näher.

„Ah, Sie sind’s, Herr Deaken?“ rief Frau von Ellissen verwundert.

„Ja,“ antwortete dieser, „gestatten Sie mir, ein Wort mit Ihnen zu sprechen?“

„Ja, ja, kommen Sie mit Stella.“

Aber Herr Deaken kam allein; sein offener Überzieher ließ den Frack und im Knopfloch die weiße Blume sehen. Um seine riesige Glatze von vorne zu verbergen, pflegte er den Kopf hoch zu tragen und seinen noch blonden, langen spitzen Bart vorzustrecken. Selbst beim Grüßen bog er den Hals und hielt die Stirne hoch.

„Stella? Aber wo ist Stella?“ fragte die junge Frau.

„Ich komme gerade, um Sie zu beruhigen und bin glücklich, gnädige Frau, aus diesem Anlaß bei Ihnen vorsprechen zu dürfen, das heißt …“

„Gut, gut, aber wo ist Stella?“

„Sie sandte mich her, um Ihre Erlaubnis einzuholen, daß sie noch über den Kotillion bleiben darf …“

„O!“ sagte Frau von Ellissen, „sie sprach doch davon, vor dem Kotillion fortgehen zu wollen…“

„Sie wollte auch, doch mußte sie den Bitten der Frau Werner nachgeben.“

„Ein schöner Grund! Sie können es ihr von mir ausrichten: Was man versprochen hat, das hält man!“

„Ich glaube, daß Fräulein Stella in der Tat nicht anders konnte. Es ist eine ganze Geschichte.“

„Wie? Was gibt’s? Nehmen Sie doch Platz.“

„Ein herrlicher Ball,“ fing Herr Deaken an, „die ganze Stadt ist dort, ein wahnsinniges Gedränge. Der Adel hat sich zahlreich eingefunden. Und das muß man ihm lassen, er versteht’s, sich anzuziehen, sollte ich sagen.“ Und er lachte, entzückt von seinem feinen Witz.

Aber das rote Pantöffelchen, das Frau von Ellissen trug, trommelte auf dem Teppich. Jeder weiß, was das bedeutet, und deshalb beeilte sich Herr Deaken fortzufahren:

„Sie wissen, daß der junge von Eulenburg…“

„Wer ist das?“ fragte Frau von Ellissen.

„Der seit kurzem neuernannte Generalsekretär der Präfektur.“

„So. Und?“

„Den man den schönen Fernand nennt.“ Hier seufzte Herr Deaken, der ehemals in der ganzen Stadt der „schöne Franz“ hieß – jetzt nur mehr Herr Deaken. Da ihm aber seine Kleidung und das gedämpfte Licht gut standen, richtete er den Oberleib auf, lächelte fein und wiederholte mit einiger Ironie:

„Dieser Mann, den man, ich weiß nicht recht warum, den schönen Fernand nennt, wird als Freier des Fräuleins von Werner bezeichnet.“

„Dieser Fratz!“ rief die junge Frau.

„Eigentlich ja. Aber das Alter sagt anders, sie zählt zwanzig Jahre.“

„Es ist wahr,“ entgegnete sie, indem sie an Stella dachte. „Wie schnell die Zeit vergeht!“

„Wem sagen Sie das, schöne Frau!“ Herr Deaken seufzte abermals. Indessen vermochte er nicht das banale Kompliment zu unterdrücken: „Ich begreife, daß Sie es nicht merken, denn niemand, der Sie sieht, glaubt an Ihre dreißig.“ Und er sang den Vers aus Lamartine’s Gedicht „Le lac“ vor sich hin:

„Ihr, die die Zeit verschont, ja selbst verjüngt…“

„Nein, nein,“ widersprach die junge Frau, „manchmal sehne ich das Ende herbei.“

Dieser Ausspruch tönte wie eine Mahnung an Herrn Deaken’s Ohr. Er ließ seinen Claque vom rechten Knie auf’s linke gleiten, zog die Manschette hervor und fuhr fort:

„Kurz heute abend ging man so weit, von Fräulein Alicens Verlobung zu sprechen. Die jungen Leute walzten zusammen, plauderten zusammen. Auch sollten sie den Kotillion vortanzen.“

„Nun, und …?“

„Nun, und plötzlich verschwindet Fräulein von Werner, und es geht das Gerücht, daß sie unwohl geworden sei und sich in ihr Zimmer zurückziehen mußte.“

„War es auch so?“

„Ah, das ist’s eben. Die Damen tuschelten einander hinter den Fächern zu, daß Fräulein Alice einen kleinen Streit mit dem schönen Fernand hatte, infolge – aber, es ist zu dumm, wissen Sie!“

„Was denn, so sprechen Sie doch!“

„Na – Herr von Eulenburg, der schöne Fernand, hätte mit Fräulein Stella geflirtet.“

„Stella!“ rief Frau von Ellissen. „Waren Sie dabei? Antworten Sie schnell, was hat Stella …?“

„Nichts ernstliches. Es ist wahr, Fräulein Stella sah heute ganz entzückend aus, sie war sehr umringt, tanzte fortwährend, aber beinahe immer mit dem schönen Fernand, obgleich die andern Tänzer auf sie warteten.“

„Es ist entsetzlich; und konnte Ihre Schwester das nicht verhindern?“

„Ja, wissen Sie, das geht schwer. Fräulein Stella tut ja doch nur, was ihr gefällt.“

„Sie haben recht. Aber gerade da hätte man sie nach Hause bringen sollen.“

„Meine Schwester war auch empört über das verstohlene Lachen der Damen, in diesen kleinen Städten ist man ja so bissig – es ist aber nur der Neid.“

„Darum soll man sich vor diesen Menschen hüten, sich ihrem Spott so wenig als möglich preisgeben.“

„Er aber schien sich darüber nicht zu kränken. Fräulein Stella tanzt gerne Walzer, er ist bekanntlich der beste Tänzer, und so gaben sich beide dem Vergnügen hin und – – auch um die beste Freundin zu kränken. Und Frau Werner ignorirte alles und bat sogar Fräulein Stella, ihre Tochter zu vertreten und den Kotillion vorzutanzen.“

„Mit dem Verlobten ihrer Tochter!“

„Nein der schöne Fernand hatte sich ins Spielzimmer zurückgezogen.“

„Und?“

„Und – raten Sie! Fräulein Stella antwortete, sie sei einverstanden, den Kotillion vorzutanzen, aber unter der Bedingung, daß der Baron Seuriet ihr Tänzer sei.“

„Fred?“ sagte die junge Frau mit kaum merklichem Beben der Stimme, „Fred? Stella weiß doch, daß Fred nicht tanzt, wenigstens nicht gerne tanzt.“

„Vielleicht bis jetzt nicht. Aber heute hat er sich wie ein Rasender dem Tanze hingegeben.“

„Er!“ wiederholte Frau von Ellissen. Ihr starrer Blick schien die Vision dieses unerhörten Ereignisses zu verfolgen: Fred tanzend. Sie suchte sich ihn vorzustellen, wie er sich einladend verbeugte, wie er den Claquehut auf den leeren Sessel seiner Tänzerin legte, wie er den Arm um eine zarte Gestalt schlang und sich in das Gewühl jener Walzer stürzte, deren Rhythmen er so haßte. Es gelang ihr jedoch nicht, sich Fred vorzustellen und sie schüttelte traurig das Haupt:

„Nicht möglich!“ sprach sie wiederholt leise vor sich hin.

Herr Deaken versicherte ihr nochmals, daß es wahr sei.

Die junge Frau fuhr fort:

„Und wenn auch – wie kann er den Kotillion vortanzen? Das ist ja eine Art Wissenschaft, die er nicht kennt.“

„Das war auch seine erste Antwort, als Frau von Werner ihn zu Fräulein Stella führte. Aber sie, seinen Arm nehmend, erklärte kategorisch: Das ist meine Sache. Und sie eilten fort, das Nötige zu holen.“

Nun wirbelten die verschiedensten Gedanken durch den Kopf der jungen Frau; sie konnte das Gehörte kaum glauben. Wie hatte er sich so schnell ändern können! Seine Ansichten über das Tanzen hatte sie ja noch gestern vernommen! Und heute – er selbst ein rasender Tänzer! Ein schmerzlicher Zug legte sich über das Gesicht der jungen Frau und sie seufzte laut auf.

„Ich versichere Sie,“ erzählte Herr Deaken weiter, „es steht ihm ganz famos. Während Fraulein Stella mir einen blauen Schmetterling mitten auf das Herz steckte, sagte sie: ‚Ach, Herr Deaken, eilen Sie doch zu Mama, nein, zu Mira, – wissen Sie, sie ist doch zu jung für die Anrede Mama – eilen Sie also zu ihr und teilen Sie ihr mit, welche Suppe mir da eingebrockt worden ist, und bitten Sie sie, nicht auf mich zu warten. Sie war so bleich, ich glaube sie ist leidend, die Arme. Sagen Sie ihr, daß ich ihr befehle zu Bett zu gehen, sagen Sie ihr, daß ich mit Fred tanze‘?!“

„Da wird sie wohl spät nach Hause kommen?“ fragte Frau von Ellissen.

„Sicher nicht vor fünf Uhr.“

Frau von Ellissen neigte traurig das Haupt mit dem Ausdruck solcher Müdigkeit, daß Herr Deaken, der seiner nachsichtigen Freundin herzlich zugetan war aufstand und ihr empfahl, ein wenig zu ruhen.

„Ich werde schlafen gehen,“ erwiderte die junge Frau, und wie gewöhnlich reichte sie zum Abschied Herrn Deaken die Hand, der sie ehrfurchtsvoll an seine Lippen führte.

Frau von Ellissen läutete. Vom Diener gefolgt, zog sich Herr Deaken zurück.

In die Knie gesunken, lag das junge Weib vor ihrem Bett. Sie weinte.

IV.

Andern Tages gegen Mittag schlief Stella noch und alles ging auf den Fußspitzen, ihren Schlaf nicht zu stören.

Frau von Ellissen öffnete leise die Türe ihres Zimmers und trat ein. Das Kleid zusammenfassend, schlich sie hinein, schob einen Sessel zurecht, setzte sich an Stellas Bett und schaute das junge Mädchen lange an, das mit losen zerwühlten Haaren, in ein leichtes weißes Batisthemd gehüllt, in tiefem Schlafe lag. In diesem einfachen, mit Kreton überzogenem Bette träumte Stella, das Gesicht rosig, der Mund leise lächelnd. Ihr regelmäßiger Atem entströmte den halbgeöffneten Lippen, die noch Spuren aufgelegten Karmins zeigten, wie auch die Augenwinkel eine feine schwarze Linie, ein von Frau von Ellissen streng untersagtes Herausputzen, das Stella dennoch in Alice Werners Toilettezimmer vorgenommen. Unzufrieden schüttelte die junge Frau das Haupt und nahm sich vor, Stella eine ernste Rüge zu erteilen. Verstimmt ließ sie die Blicke im Zimmer umherschweifen, wo auf einem Stuhl das Schmetterlingskleid zerknittert lag, der Rocksaum voller Staub, der Blumenschmuck heruntergerissen, die Spitzen und Rüschen abgetreten, die Taille mit Kotillionssträußen geschmückt.

„Wie schön doch dies Kleid war! Wie schnell hat es Schönheit und Frische eingebüßt! Ein Bild des Lebens!“

Da schlug Stella die Augen auf.

„Ah, du bist hier? Guten Morgen, wie geht’s? O, weißt du, ich bin hin, zerschlagen!“

„Ich kann mir’s denken,“ antwortete Mira, beugte sich zum jungen Mädchen hin und strich ihr die Haare aus der Stirne. „Hast du dich wenigstens gut unterhalten?“

„Es geht an,“ antwortete Stella, während der Triumph ihr aus den Augen leuchtete.

„So spät kamst du zurück.“

„Ich finde nicht. Die Zeit ist immer zu kurz, wenn man sich unterhält; nur das Unangenehme hält gewöhnlich länger.“

„Du sagst dies wegen deiner Freundin Alice?“

Stella stieß ein helles höhnisches Lachen aus. „Ach, hat dir Vater Deaken die Geschichte erzählt? Ich dachte mir Alice nicht als eine so alberne Gans. Arme Alice! Ich hielt sie für vernünftiger, mehr ins Leben eingeweiht.“

„Aber Stella, du hättest doch gewiß auch selbst so gehandelt und wärst nicht entzückt gewesen, wenn –“

„Ich? Ich hätte mich einfach gerächt, das wäre alles gewesen. Es hätte ihr nicht an Bewerbern gefehlt.“

„Das wäre das häßliche Spiel einer Kokette, Stella. – Sie ist ja verlobt mit dem jungen Manne.“

„Na, und? Sie wird sich doch nicht einbilden, daß sie die einzige sein und bleiben wird! Ha! Ich hoffe, sie denkt nicht so, denn wenn sie so dächte, wäre es besser, sie heiratete Fernand nicht, Übrigens ist es ganz gleich, Fernand oder ein anderer, alle sind sie eines Schlags. Geh, ich geb’ auf Männertreue doch nichts – aber ich, ich werde auch keine Treue halten.“

„Du bist aber für dein Alter sehr gut unterrichtet, Stella, deine Ansichten stimmen mich nachdenklich. Ich kann es doch nicht glauben, daß du bei solcher Gesinnung dich zu verheiraten gedenkst.“

Stella erwiderte lebhaft:

„Ach, es ist ja wahr, ich hab’ mit dir zu sprechen, liebstes, teuerstes, reizendes Stiefmütterchen.“ Sie erhob sich, sprang aus dem Bett und setzte sich mit den Füßen baumelnd auf dessen Rand. Ihr langes, am Halse rund ausgeschnittenes Nachthemd bedeckte sie bis über die Füße, und wäre nicht der beunruhigende Ausdruck ihres unregelmäßigen Gesichts gewesen, mit seinen nach den Schläfen gezogenen Spitzbubenaugen, so hätte sie in ihrer keuschen Verhüllung und dem blonden Heiligenschein ihres gekrausten Haares einem der naiven Engelchen geglichen, denen Fra Angelico hinter den Armen Flügel ansetzte.

„Erzähle mir doch, was du heute nacht erlebt hast? Ist deine Toilette bewundert worden? Waren viele schöner als du?“

Stella lächelte und zuckte leise mit den Achseln:

„Ach, es waren so viele Menschen! Du weißt, ich kümmere mich nicht um andere, ich sehe nur was mich interessiert. Die Patronesse war sehr zuvorkommend, nur zu viel mit Diamanten beladen. Sie meint aber, die Leute sollen nur wissen, wie reich man ist. Alice war sehr hübsch, aber zu tief dekolletiert.“

„Ah –“

„Ja: es erregte im Clan der Mütter unliebsames Aufsehen, besonders bei jenen, die gezwungen sind, das fleischlose Gerippe ihrer antiquierten Sprossen schamhaft zu verhüllen.

Die wohlgeborenen Töchter waren im allgemeinen gut herausgeputzt mit etwas gewollter Einfachheit, als wenn es sich um eine bedeutungslose Gesellschaft bei Personen handelte, die man nicht beleidigen will. Trotzdem mit Cachè. Diese Leute haben Geschmack. Die Rüdens zum Beispiel, mit ihrer Bonbonfabrik, machten ihrem Hause Ehre. Die Mutter spazierte herum, – viel zu viel, nebenbei gesagt – mit einer riesiglangen Schleppe, einer Schleppe wie ein Mantel, sehr fein mit Gold gestickt.“

„Und die Mädchen?“

„Die Zwillinge? Die waren sehr schick, trotz ihrer runden Schultern und schiefen Nasen. Freilich nicht ihre Schuld, die Armen! Sie werden ohne jeden Sport erzogen. Frau Rüden sagt nur immer: ‚Die Erziehung, die ich meinen Töchtern gebe, ist die wahre, die einen Mann fesselt und glücklich macht‘. Zum Glück kann sie ihnen auch eine hübsche Mitgift geben, es wird sich immer jemand finden, der das Geld mit den Mädchen nimmt,“ meinte Stella spöttisch, „wie? Ach ja, zur Sache, ich – ich –“

„Haben die jungen Rüdens viel getanzt?“ fragte Frau von Ellissen, Stella’s letzten Worten keine Achtung schenkend.

„O ja. Warum auch nicht? Mich ließen die Mitgiftjäger in Ruhe.“

„Ja, aber die andern,“ sagte lächelnd die junge Frau.

Diesmal gab Stella keine Antwort.

„Sag, mein Liebstes, meine herzige Mira,“ sprach Stella zärtlich, „wäre es sehr neugierig, wenn ich dich nach der Höhe meiner Mitgift fragte?“

„Ich … ich weiß es nicht,“ sagte Frau von Ellissen nachlässig, „wieviel dir dein Vater zugedacht hat. Wir werden sehen – Herr Palm wird es schon ausrechnen, wenn es Zeit sein wird.“

„Wenn es Zeit sein wird? Ich glaube, es wäre Zeit, daß du es wissen solltest. Papa ließ doch dir das Recht, sie zu bestimmen, und wenn du dich dafür interessiertest…“

„Ich werde deine ernsten Bewerber zu Herrn Palm senden,“ antwortete etwas ärgerlich die junge Frau.

„Und ich, muß ich auch zu Herrn Palm gehen, um es zu erfahren?“

„Wozu brauchst du es zu erfahren?“

„Um meine Ansprüche feststellen zu können, ganz einfach aus diesem Grund; daß ich meine Wahl nicht auf einen zu reichen oder zu armen jungen Mann lenke, darum muß ich es wissen, daß ich dir keinen Unrechten vorstelle, sondern einen der dir paßt.“

„Ich habe dir schon gesagt, Stella, ich wünsche nicht, daß du dich auf solche Weise verheiratest.“

„Ach, weißt du, Mira, das überlasse mir; ich habe meine Angel ausgeworfen, es kommt nur noch auf den richtigen „Biß“ an.“

„Aber Stella, lerne doch zuerst deine Gefühle kennen. Ich will dir gewiß dein Glück gönnen, worauf du volles Anrecht hast. Aber gerade darum muß ich dir die Pflicht auferlegen, an den Ernst eines solchen Schrittes zu denken…“

„Du willst mich auf deine Weise glücklich sehen, es ist dies aber ganz und gar nicht mein Wunsch. Wir sind von völlig anderer Denkungsart.“

„Darum fürchte ich, Stella, daß du voreilig handelst. Deines Vaters letzte Worte an mich waren: Ich weiß Stella’s Leben, Stella’s Glück in deiner Hand geborgen!“

“Danke, Mira, ich kenne dich; aber es läßt sich doch nicht dagegen ankämpfen, ich werde auf der Hut sein. Ich sehe nur, daß die Heiratsfrage dir unheimlich ist, was ich nicht verstehe. Du selbst solltest doch dein Leben nicht ohne einen Mann verbringen. Siehst du denn nicht, wie schön, wie begehrenswert du bist?“

„O, Stella, laß das, sprich nicht von mir, ich bin ja dreißig Jahre alt und habe eine so große Tochter, wie dich!“

„Ja, die man dir auf den Hals geladen hat; danke für solche Mutterpflichten, und alles, was drum und dran hängt.“

„Du denkst nicht so, wie du sollst, Stella.“

„Das heißt, du fürchtest, daß ich eine schlechte Wahl treffen werde?“

„Die du bald bereuen könntest,“ erwiderte Mira.

„Und wozu gibt’s die Scheidung?“

„Siehst du? Wie soll mir da nicht bange werden? Es ist nicht nur meine Pflicht, als Frau deines Vaters, dich so viel als möglich vor einem solchen Leben zu bewahren, ich bin auch zugleich deine beste Freundin, Stella, ich kann dich nicht ruhig anhören. Ich befehle dir, dich darüber zu beruhigen und nicht weiter nachzudenken.“

„Aber du bist doch auch der Meinung, daß ich einmal heirate und zwar bald – einen mit blondem oder braunem Schnurbart – geh, laß nur, ich hab’ schon einen!“

„Wen hast du?“ fragte Frau von Ellissen beinahe neugierig.

„Meinen Auserwählten, meinen Erkorenen! Lassen wir’s – denn du erbarmst mir, wenn ich dich so zitternd, so erregt sehe über das, was du von mir hören wirst. Schau mich doch nicht mit so verstörten Augen an, Mira, Mütterchen. Was würdest du sagen, wenn ich dir jemand vorstellte, der dir der idealste Schwiegersohn wäre, den du dir nur träumen könntest, ein ganz unfehlbares Wesen, das völlig meinen Ideen entspricht und alle Eigenschaft besitzt, die ein Ehemann haben soll, der mir paßt; einen Mann von Namen, von Zukunft und noch andern Eigenschaften, die ich dir erst später enthüllen werde. Würdest du mich für verrückt halten, wenn ich dir sage, daß ich ihn an der Angel halte?“

Frau von Ellissen hielt ihre Hände krampfhaft gefaltet, sie wollte nicht hören, nicht verstehen, ein kalter Schauer überlief sie. Sie schwieg.

„Warum antwortest du mir nicht – he?“

„Weil ich nachdenke, wer – wen – ich warte darauf, den Namen von dir zu hören.“

„Kennst du einen zweiten, der so sein könnte? Nein, er steht allein da, es ist dein Schützling, der Baron Fred Seuriet, ja, dein lieber Fred, den du leitest, den du beschütztest. Fred ist es – Fred!“ rief das junge Mädchen aus.

Frau von Ellissen schien bleich wie eine Tote, ein leises „O!“ kam über ihre fahl gewordenen Lippen.

„So sag doch. Er paßt dir nicht? Trau dich doch, es zu sagen, du, die ihn für den Besten hältst.“

„Wie,“ sprach Frau von Ellissen und ihre Stimme bebte, „wie kannst du jemanden lieben, der der größte Gegensatz zu deinem Charakter ist?“

„Habe ich dir denn gesagt, daß ich ihn liebe?“ fragte Stella etwas nervös und verblüfft von dieser Meinung.

„Wie, du willst ihn heiraten und du liebst ihn nicht einmal?“ fragte Mira entsetzt.

„Ich habe ihn mir gewählt und damit fertig.“

„Hat Fred dir von Liebe gesprochen? Sicher nicht, das glaube ich nicht,“ entgegnete die junge Frau in entschiedenem Tone.

„Nein, niemals,“ antwortete Stella.

Frau von Ellissen’s Augen glänzten, sie atmete wie erleichtert auf.

„Also, er liebt dich nicht, du liebst ihn nicht, warum willst du gerade ihn zur Erfüllung dieser Phantasie?“

„Das ist ganz einfach, meine Liebe. Es paßt mir, ihn zu meinem Manne zu machen, und ich bin doch für ihn eine Partie, eine gute Partie. Fred hat ja keine Liason, nicht einmal einen Flirt konnte man bei ihm bemerken – so glaube ich kaum, daß er mich ablehnen wird. Du hast ihm sein Leben gerettet, du hast sein Talent erweckt; du hast ihn zu dem großen Manne gemacht, der er binnen kurzem sein wird; du hast ihm Manieren beigebracht, du hast aus ihm eben das gemacht, was er heute ist. An dem Tag, an dem du ihm sagen wirst: ‚Stella will Sie, ich gebe Ihnen Stella,‘ wird er dir die Hand küssen und alles ist gemacht.“

„Wenn mir aber Fred antwortet, daß er – er sich nicht verheiraten will, auch nicht mit dir?“

„Na, das möcht’ ich hören,“ rief das junge Mädchen gereizt.

Stella hatte ihre Füße zur Erde gleiten lassen; hochaufgerichtet stand sie da, den hinter dem feinen Batist sich abzeichnenden Körper stolz nach rückwärts gebogen. Sie schlang die entblößten Arme um den schlanken Nacken unter dem aufgelösten Haar und lachte herausfordernd im Glanze ihrer Anmut, die sie für unwiderstehlich hielt. Eine neue Verneinung erstarb auf Frau von Ellissen’s blassen Lippen. Sie blickte auf das junge Mädchen, wie auf ein fremdes Weib und entdeckte, daß es mit allen verführerischen Reizen des Körpers ausgestattet war, geeignet, die sehnsüchtigen Wünsche eines Mannes zu erwecken, der, wie Fred, bis dahin die Freuden der Liebe nicht kennen gelernt.

Sie erinnerte sich der letzten Bestürmungen, die sie hatte erdulden müssen, des Geständnisses seiner heimlichen Leiden, und wie er erklärte, unmöglich länger nur bei der idealen Nahrung ihrer engelhaften Freundschaft leben zu können. Hatte sie ihm nicht gesagt, daß er eines Tages die Braut finden würde, deren triumphierende Jugend ihn über den unvermeidlichen Schmerz ihrer Weigerung trösten werde? Immerhin, indem sie so gesprochen, hatte sie keine Angst empfunden, da sie sich mit der tiefen Liebe geliebt wußte, die sie in Freds Jünglingsherz entfacht.

Jetzt aber stand Stella vor ihr, von vorne herein siegreich durch die Macht ihrer Reize und die Zähigkeit ihres herrischen Willens. Sollte denn die grausame Stunde schon so nahe sein? Nun erklärte sie sich den schmerzlichen Schauder ihres Herzens, daß wohl den furchtbaren Schlag geahnt, der es treffen, ja vielleicht gar brechen sollte? Die junge Frau wagte nicht, die Hände an ihre Kehle zu heben, die ein plötzliches Erstickungsgefühl verkrampfte; ihre Niederlage fühlend, bewachte sie sich mit der heroischen keuschen Kraft des liebenden Weibes, das zugleich Mutterpflichten trägt und – dreißig Jahre alt ist. Sie hat nicht mehr das Recht, ihre Liebe einzugestehen. Kein Wort kam über ihre Lippen. Wenn Stella ihr wenigstens eine noch so kindische Liebe für Fred gestanden hätte! Gewiß hätte sie, die Opferfreudige, die Bitterkeit der Entsagung gern auf sich genommen, und trotzdem kam ihr ein Trost aus dem unverfrorenen Geständnis des jungen Mädchens. Kam es ihr unter diesen Umständen zu, Fred zu einer Verbindung zu nötigen, die Stella nur in einer hochmütigen Laune wünschte?

Sie wandte den Blick von dem jungen Mädchen ab, daß jetzt spielend seinen geschmeidigen Körper nach rückwärts bog, um ihre rosige Ferse mit den Spitzen ihrer blonden Haare zu streicheln. Dann sprach sie mit ungewohnter Festigkeit:

„Was du von mir verlangst, Stella, fällt mir schwer und gegen mein Gewissen kann ich nicht handeln. So weit kann ich dir nicht nachgeben, daß ich meinen Willen gerade demjenigen aufzwinge, der mir alles dankt und sich mir gegenüber vielleicht zu blindem Gehorsam verpflichtet glaubt. Ich denke übrigens, daß dein Stolz mit solch einer Zustimmung kaum zufrieden wäre. Du bist es wert, geliebt, begehrt, und nicht blos geduldet zu werden.“

„Ich danke dir,“ sagte Stella ironisch und in kühlem Tone. „Aber du vergißt, daß Freds Vermögensverhältnisse ihn hindern könnten, die Augen zu mir zu erheben, und daß es unter diesen Umständen an dir ist, mich ihm anzutragen. Und ich bin ganz überrascht, daß du dir das nicht schon lange gedacht hast. Ich gestehe, ich bin ganz erstaunt über dich. Wie! Dieser junge Mann, der seit zehn Jahren in unserem Hause verkehrt und fast sein ganzes Leben bei uns zugebracht hat, dem du so zugetan bist … Ist es nicht natürlich, daß du trachtest, deine beiden Schützlinge miteinander zu verbinden? Ich gab mich der Uberzeugung hin, daß dies von der ersten Minute an deine Idee war, als du uns beide um dich hattest, und jetzt machst du eine Miene, die mir ganz das Gegenteil beweist. Hältst du ihn vielleicht nicht für reich genug?“

„Du weißt, daß ich wenig Wert auf Geld lege,“ erwiderte Frau von Ellissen.

„Oder hältst du mich nicht für würdig, dieses Genie zu besitzen?“ fügte das junge Mädchen schnippisch hinzu.

„Einander würdig sind jene, die sich treu genug lieben, daß sie sich ewig angehören wollen!“ sagte die junge Frau schwer atmend.

„Ich bitte dich, Mira, keine Sentimentalitäten, das geht mir auf die Nerven. Das alles sind nur Worte – nichts als Worte. Liebe! Das ist ja recht schön, aber in den ernsten Lagen des Lebens darf man nicht darauf rechnen.“

„Und die Liebe ist doch das Leben selbst!“

Stella zuckte die Achseln.

„Sie ist ein amüsanter Teil seiner Ausstattung, mehr nicht. Blick nur um dich und sieh’ das herrliche Dasein verliebter Frauen: du wirst nur Tränen, Tragödien, nur blöde oder wilde Eifersucht sehen. Ah, wenn man mir mit der großen Leidenschaft kommt! Nein, wahrhaftig, das ist zu läppisch! Was ich will, ist ein Mann, der mir Ehre macht. Das ist das erste…“

„Welche Eitelkeit!“

„Richtig: das ist das gescheiteste der Todsünden. Und weiter soll er nicht ein Vieh sein, ich meine, nicht einer, der von seinen Mannesrechten durchdrungen ist, mich seinem Willen unterwerfen und den meinigen unterdrücken will. Mit einem solchen ging’s schief, das sag ich im voraus. Nun, der kleine Fred ist die Sanftmut in Person. Wenn man ihn nur nicht bei seinem Komponieren stört, so schert er sich den Teufel um’s übrige. Daher bin ich an seiner Seite, der unbegrenzten Freiheit meines Tuns gewiß. Sein Charakter bietet mir Sicherheit gegen innere Kämpfe und Vorwürfe, diesem Zeitvertreib der besten Ehen. Außerdem wird mir seine Stellung einen bedeutenden Einfluß in der Gesellschaft sichern, und ich liebe, die anderen zu beherrschen. Wenn ich noch hinzufüge, daß seine persönlichen Vorzüge den Neid der andern Frauen erwecken werden, so wird meine kleine Eitelkeit, wie du’s zu nennen beliebst, auf dem Gipfel ihrer Wünsche sein. Wenn ich somit alles wohl erwäge, fällt meine Wahl auf ihn. Ich bin entschlossen. Übrigens, um dich über unsere gegenseitige Sympathie zu beruhigen, kann ich dir sagen, daß er mir gestern abend in einem ganz neuen Lichte erschienen ist, welches ihm nicht geschadet hat – im Gegenteil!“

„Weil er tanzte!“ warf die junge Frau ein.

„Nicht darum allein,“ entgegnete Stella, indem sie ihre spitzbübigen Augen halb schloß, „nein, weil er zu tanzen versteht! Wenn er aus seiner Ruhe erwacht, dieser Schelm, entdeckt man erst seine Leidenschaftlichkeit. Wie er bei all den Kotilliontouren so mit mir dahinflog, entfaltete er eine seltene Eleganz. Nein, weißt du, er gefällt mir wirklich! Nein, nein, ohne Spaß!“

Die Augenlider der jungen Frau zuckten, sie fühlte ihre Kraft weichen, und ihrer selbst nicht mehr mächtig, sank sie in den Lehnstuhl. Sie wollte fliehen, fort, weit fort, vor dem grausamen Martyrium, das ihrer harrte.

„Aber sag’, was ist dir?“ fragte Stella.

„Zieh’ dich schnell an,“ entgegnete Frau von Ellissen, „mir ist nichts.“

„Du hast recht,“ rief Stella aufspringend, „ich will mich heute recht schön machen. Schau ich nicht ganz übernächtig aus? Nein?“

Sie blieb vor einem Spiegel stehen, schnitt Fratzen, nahm erschrockene Mienen an und lachte sich schließlich ins Gesicht. Und mit einer plötzlichen Wendung zu Frau von Ellissen.

„Ich übe mich in meiner Haltung als Braut. Hier meine Verbeugung.“

Sie fasste mit beiden Händen ihr Nachthemd, zog es auseinander und verneigte sich feierlich.

Da Frau von Ellissen nicht lachte, wandte sich Stella ab und trippelte ernsthaft mit bloßen Füßen in ihr Toilettezimmer, dessen Tür sie hinter sich mit kurzem Schlag zuwarf. Aber sie öffnete sie sofort wieder, steckte den Kopf heraus und sagte:

„Weißt du, Mira, heute kann man dich nicht mal mit der Zange angreifen.“ Bums, schlug die Türe wieder zu, aber ohne sie ganz zu schließen und legte das Auge an die Spalte.

Frau von Ellissen, befreit, da sie sich allein glaubte, strich mit ihrer weißen Hand über die Augen und legte sie dann auf’s Herz, worin alles Blut zusammenströmte. Dann erhob sie sich ganz gebrochen und schleppte sich mühsam in ihr Zimmer.

Jetzt erst schloß Stella die Türe, schüttelte den Kopf und dachte:

„Die Arme – muß mich hergeben! Bah, sie wird sich schon gewöhnen und noch glücklich darüber sein! Und dann, geben! geben! Sie wird gar nichts geben. Ist das ein Ausdruck! Was man sich um uns scheren wird, in hundert oder zweihundert Jahren!“


V.

Das heraufkommende Osterfest wurde dies Jahr in der Fabrikstadt besonders schön gefeiert. Die Fastenpredigten waren von einem geistig hochstehenden Dominikaner, dem Pater Patry, gehalten worden und hatten die Gesellschaft zu ungewohntem Nachdenken erhoben. Die ersten Predigten hatten sogar eine gewisse Verblüffung im Gefolge, denn nur die wenigen gebildeten Geister waren fähig, die Unterweisung des gelehrten Dominikaner richtig zu würdigen. Während er in der Großstadt schon eine ziemlich zahlreiche und auserlesene, mit den Theorien einer wissenschaftlichen Religionsphilosophie vertraute Zuhörerschaft um sich geschart hatte, war er in dieser Provinz auf Unwissenheit und Gleichgültigkeit gegen seine tiefen Probleme gestoßen. Er hatte eine Art von Dezentralisation des modernen Religionsunterrichtes versucht, in der Hoffnung, in dieser, aus den verschiedensten Kreisen stammenden Zuhörerschaft, genug geistig hochstehende Elemente zu finden, die sich zu einem festen Kern zusammenschließen ließen, fähig, den Keim seiner Lehre zu empfangen und weiterzutragen.

Seine Predigten bewegten sich nicht im Buchstaben, sondern im Geiste des Dogmas. Seine Lieblingsgleichnisse waren dem Wortschatz der Wissenschaften entnommen, seine Rede endete in lyrischem Schwung, dessen Poesie der Mehrzahl verständlich war.

Obgleich die Geistlichkeit diese ungewohnte Art zu predigen kühl aufnahm, oder vielleicht gerade aus diesem Grunde, gewann Pater Patry schnell die Sympathien der Männer. Zuerst scharten sie sich aus Neugierde um seine Kanzel, dann kamen sie aus Interesse eifrig wieder. Bei den Frauen wäre er beinahe gescheitert infolge jenes umgekehrten Snobismus, der den Provinzlerinnen eigen zu sein pflegt. Sie mißtrauen verächtlich allem und jedem, dessen Ruf und Glanz schon fertig aus der Hauptstadt, der viel beneideten und viel verlästerten, zu ihnen dringt.

Der rückständige Geist der Provinz entspringt diesem angeborenen Gefühl, das wohl nichts sein mag, als der instinktive Widerstand gegen die Zentralisation der Intelligenz, – die Abwehr gegen die Vermischung der individuellen Eigenheiten verschiedener Rassen, – endlich die stolze Wahrung des Rechtes, den Gefühlen nach der Überlieferung der eigenen Heimat Ausdruck zu geben.

So waren die Frauen anfänglich zurückhaltend, da sie ihre Inkompetenz nicht eingestehen wollten. Indes erwachte in ihnen der Wetteifer, den Prediger zu verstehen. Und endlich gewonnen durch einige von ihnen selbst, Großstädterinnen, litterarisch Gebildete, – auch durch die Begeisterung der Männer – stürzten sie sich in einem wahren Kampf auf die dem Prediger zunächststehenden Stühle, ganz aufgewirbelt durch die auserlesene Zerstreuung, die das tödliche Einerlei ihres Daseins unterbrach.

Das geistige Leben ist in der Provinz beinahe erstorben, obwohl man bei entsprechendem Bemühen genug Elemente finden könnte, um geistige Bildung zu unterhalten und zu entwickeln.

Es scheint aber, daß sich die Provinz nicht zur Ausübung ihrer Kräfte und Wahrung ihrer Autonomie aufraffen kann: sie siecht dahin, sie welkt, sie vergißt und wird von den andern vergessen, sie liegt in einem Schlummer, der einer gewissen Annehmlichkeit nicht entbehrt, aber freudlos ist.

Die Gesellschaft blickte mit einigem Stolz auf den wachsenden Ruhm des jungen Komponisten Seuriet, wenn auch nicht ohne eine gewisse Eifersucht. Aus Furcht, durch eine zu lebhafte Äußerung ihrer Begeisterung die eigene Unwissenheit in schmerzlicher Weise bloßzustellen, geizte sie eher mit dem Ausdruck ihres Beifalls, als der junge Mann in der Karwoche sein stolzes Talent offenbarte. Er aber konnte sich trösten. Außer seinen nahen Freunden, deren Freude sich in vielleicht überschwenglichen Ausdrücken äußerte, war er vom Erfolg beglückt, den er bei einigen schon anerkannten jungen Komponisten und bei mehreren Kritikern fand. Eine Anzahl seiner Musikstücke, die kürzlich in den großen Konzerten von Lamoureux und bei Colonne gespielt worden waren, hatten dieselben so sehr gepackt, daß sie die Mühe nicht scheuten, zur bisher vollständigsten Aufführung seiner geistlichen Musik in die Provinz zu reisen.

Man redete ihm zu, sich mit einem seiner in der stillen ländlichen Zurückgezogenheit ausgereiften Werke kühn auf einer lyrischen Bühne der Hauptstadt vorzustellen.

Am Schlusse der großen Woche sah sich Fred allein; sein Fieber war vergangen und er blieb geschwächt, weil er an das bewegte Leben der jungen Künstler in der Hauptstadt nicht gewohnt war. Er fühlte sich völlig zerschlagen, sogar entmutigt, weil er entdeckte, daß er zu schwach sei, nicht nur zum Kampfe, sondern auch zum Streben.

Diese Krise hatte indessen seinem Herzen sozusagen Erholung gebracht. Ohne die Qual seiner Liebesenttäuschung zu vergessen, hatte er weniger unter ihr gelitten. Sein Verkehr in Frau von Ellissens Haus war notwendigerweise eingeschränkt, sein Alleinsein mit Mira oder Stella hatte beinahe ganz aufgehört. In diesen Tagen hatten sie alle wie in einem Wirbel von neuen und darum beruhigenden Sensationen gelebt.

Die Stille brachte aber die gewohnten Zusammenkünfte wieder und die Leidenschaft trat in ihre Rechte, umso heftiger, als sie beinahe ganz unterdrückt gewesen war.

Frau von Ellissens physische Leiden hatten ihre Schönheit noch erhöht, die Blässe stand ihr gut, die Leute fanden sie anziehender als je.

Als Fred sie so wiedersah, war er geblendet und seine Begierde flammte neu auf. Auf ihren Spaziergängen im Park verfolgte er sie und suchte sie beharrlich allein zu treffen. Die wenigen Minuten aber, die er mit ihr zubringen konnte, wurden immer seltener, sei es, daß sie ihm auswich, sei es, daß Stellas ständige Gegenwart ein natürliches Hindernis bildete.

Wenn es ihm gelang, sie ohne Zeugen zu sprechen, hielt Frau von Ellissens beinahe schmerzliche Verwirrung den Ausbruch seiner Klagen hintan. Fred’s Erregung stieg auf einen solchen Grad, daß er eines Abends vor ihr und vor Stella erklärte, daß er an einem Kummer sterben würde, der seine Kräfte überstiege, daß sein Wille ganz dahinschwände und daß man eines schönen Tages erfahren würde, er habe die Flucht ergriffen.

„Und wohin würden Sie gehen?“ fragte Stella.

„Überallhin und nirgends,“ erwiderte er finster.

Und als Fred sich entfernt hatte, ohne daß die eine noch die andere auch nur die Hand ausgestreckt hätte, ihn zurückzuhalten, stellte sich Stella vor Frau von Ellissen auf und sagte hart:

„Wahrhaftig, Mira, ich erkenne ihn nicht mehr, du brauchst nur ein Wort zu sagen, um ihn zum glücklichsten der Sterblichen zu machen und du sitzest, mit einer mir unerklärlichen Grausamkeit stumm da.“

Mira wußte wohl, daß sie nur ein Wort zu sagen hätte, aber ein Wort, das Stella nicht kennen durfte und das sie nie aussprechen würde. Nein, nie und nimmer! Besonders jetzt nicht. Ach, warum hatte sie es nicht früher gesprochen, dachte sie in plötzlich aufsteigender Leidenschaft, gesprochen, bevor Stella’s launische Wahl auf den Mann gefallen war, der sie selbst mit allen Fasern seines Herzens und seines Leibes liebte. Allein es war zu spät. Die Gabe oder Hingabe ihrer selbst wäre nur eine Schmach. Es blieb ihr nur übrig, den endgültigen Verzicht auf ihn auszusprechen. Sie suchte sich den Mut dazu einzuflößen und rief übermenschliche Hilfe an, die ihr nicht gewährt wurde. Gewiß, sie wußte, daß sie ihre Pflicht tun würde, aber woher würde sie die Kraft nehmen, sie zu erfüllen, ohne daß eine Schwäche ihr Märtyrertum verriet?

„Du willst also mit Fred nicht sprechen?“ wiederholte Stella, deren Zorn wuchs.„ Nun gut! Klage nur dich an, wenn ich etwas nach euren Gebräuchen Unpassendes begehe –. Ich werde selbst mit ihm reden!“

„Ich verbiete es dir,“ rief Frau von Ellissen.

„Und ich verteidige mein Recht auf Glück,“ entgegnete das junge Mädchen.

„Stella, nimm dich in acht. Denk doch erst darüber nach.“

„Ganz richtig! damit mir ihn eine andere wegnimmt, oder er sich eine Kugel vor den Kopf schießt. Du hörst doch, daß er fortwill! Ich werde großmütiger sein als du und ich werde mich selbst anbieten. Finde dich drein.“

Dann drehte sie sich frech um sich selbst und ging ohne ein Wort in ihr Zimmer.

Es gab kein Zögern mehr. Gut, sie würde es ihm hinwerfen, das elende zerrissene Herz. Aber vor den schrecklichen Worten, die sie dem in sie verliebten Fred zu sagen hatte, versagten ihr die Gedanken; ihr Körper sträubte sich, sobald sie den entsetzlichen, entwaffnenden Schwindel nahen fühlte, der jeden Widerstand gegen die Tränen dessen, den man liebt und der einen begehrt, lähmt.

Sie bebte vor Entsetzen, wenn sie sich vorstellte, daß sie Fred schwach finden könnte, und sie verwarf einen Plan, der zu dieser ärgsten aller Gefahren führen könnte. Wenn sie sich die geöffneten Arme des weinenden Fred vorstellte, kam ihr die Sache unmöglich vor. Sie konnte nicht glauben, daß Fred auf eine Heirat mit Stella eingehen würde, obgleich sie sich gestehen mußte, daß ihn ihr entschieden ausgesprochener Wunsch zu diesem Entschlusse wohl bringen würde.

Ihre Gedanken webten, wirbelten, flohen und klammerten sich an die Unmöglichkeit, wie an Rettungsanker, die plötzlich nachgeben, gekappt durch die offen zu Tage liegende Pflicht. Und sie rieb sich auf in diesen schrecklichen Kämpfen und über die traurige Wahrnehmung, daß sie angesichts der Tat so arm an Energie, so kindisch furchtsam war. Sie fand keine Stütze in einer unbeugsamen praktischen, auf gründlichem Denken aufgebauten Logik. Waffenlos setzte sie sich dem Kampfe aus, willenlos opferte sie sich, im natürlichen Instinkt einer rückhaltlosen Hingebung. Ihr schwacher Wille ließ sie regungslos in der erschreckten Stellung eines untätigen Tieres, das sich erschlagen läßt, ohne auch nur zu versuchen, sich dem Martertod zu entziehen, sondern sich darauf beschränkt, seine Henker mit seinen tiefen klagenden Augen anzusehen.

Das Geräusch eines fallenden Stuhls weckte sie aus ihrem Brüten. Gewiß wachte Stella noch, gereizt wie sie war, und morgen würde sie, Auge in Auge mit ihr, mit ihren schrecklichen hartnäckigen Blicken in der Seele wühlen. Indem sie sich die Haltung des jungen Mädchens vorstellte, fragte sie sich mit noch größerer Angst, was geschehen würde, wenn Fred, auf irgend eine Weise befragt, mit einer Weigerung antwortete. Es war doch möglich. Würde ihm Stella diese Schlappe verzeihen? Es war kaum wahrscheinlich. Und dennoch? Nun keimte der etwas feige Gedanke in ihr, sich der ganzen Verantwortung zu entziehen. Sie war ja nicht verpflichtet den jungen Mann selbst auszuforschen, irgend ein anderer konnte das übernehmen. Wäre dies nicht auch für alle am passendsten? Dieser Gedanke erleichterte sie, sie wurde ruhiger, kampfesmutiger. Lange brauchte sie nicht zu suchen.

Die Deaken’s waren am passendsten für diesen Schritt. Franz hatte sich an ihrem Werk beteiligt, so mußte er natürlich auch an Fred’s Zukunft Anteil nehmen. Könnte er ihm beibringen, daß er autorisiert sei, ihm Stella anzubieten? Man würde sehen! Frau von Ellissen wollte sich’s nicht selbst gestehen, daß sie aus dieser Kombination neue Hoffnung schöpfte. Beglückt diese Auskunft gefunden zu haben, erhob sie sich und ging in Stellas Zimmer. Als diese sie eintreten sah, schloß sie die Augen und stellte sich schlafend. Aber unter den Küssen, die ihre Stirne streiften, enthüllte sie ihre ironischen Blicke.

„Warum weckst du mich auf, warum störst du meine Träume?“

„Nein, du Böse,“ sprach die junge Frau leise, „im Gegenteil, damit du ruhig schläfst, ohne Ärger und ohne Zwietracht. –“

„Du willst also mit Fred sprechen?“

„In einigen, in ganz wenig Tagen, wirst du seine Antwort haben.“

„Also bald die Hochzeit.“ Stella beugte sich vor, um Mira zu küssen.

„Wir werden sehen, ich hoffe …“ erwiderte Mira.

„Du zweifelst?“

„Ich weiß nicht, wenn er…“

„Wenn er mich ausschlägt, mich nicht will, meinst du, wie?“

„Denke doch daran, wie er über die Ehe spricht! Nur die, die er wirklich liebt, und die ihn liebt, will er zur Frau nehmen.“

„Ach, das sind leere Worte, leeres Gewäsch interessanter junger Leute. Wenn sie aber die Richtige treffen, dann sagt doch keiner nein. – Übrigens umbringen würde ich mich deswegen nicht, davon kannst du überzeugt sein. Wenn Fred mich nicht will, ist er einfach ein Esel, und es würde mir nicht schwer fallen, mich zu trösten – und ihn zu ersetzen.“

„Wie, du hast einen andern auch? Du hast einen in der Reserve?“ murmelte Frau von Ellissen.

„Ah! hältst du mich für so dumm, daß ich alle meine Hoffnungen auf den einen setze, alle Nummern in einen Sack werfe? O nein, wenn es mit dem einen fehlschlägt, gehts eben mit dem andern, der auch nicht zu verachten ist.“

„Wer ist’s?“

„Du bist zu neugierig.“

„Sag’ schnell!“

„Wenn es dich amüsiert, meinetwegen. Es ist Fernand von Eulenburg.“

„Wie,“ rief die junge Frau. „Der Verlobte deiner Freundin Alice! Bist du bei Sinnen – Stella!“

„Ein bißchen verrückt, aber sehr wenig,“ erwiderte schelmisch das junge Mädchen. „Fernand heiratet Alice einzig und allein ihres Geldes wegen, ich weiß es. Wenn ich ihn wollte, bin ich sicher, daß ich ihn gleich hätte und Alice wäre durchgefallen. Eigentlich wäre es ganz amüsant, ihr einen solchen Streich zu spielen.“

„Stella! Du könntest ihr ruhig den Verlobten wegnehmen?“

„Die Freundschaft, Mira, ist wie die Liebe: eine kleine Zerstreuung, die mit den ernsten Lebensfragen nichts zu schaffen hat. Fernand ist eine gute Partie und ein schöner, junger Mann. Ich mag ihn weniger gerne zum Manne haben, als Fred, aber er mißfällt mir durchaus nicht und ich prophezeihe dir, wenn ich auf einer Seite durchfliege, so gelingt’s mir auf der andern.“

„Man kann dich nicht anhören, Stella.“

„Ja, ich weiß, du hast deine Ideen. Ich aber habe die meinen, die ich für besser halte. Siehst du, das ist das Gesetz dieser Welt: Sein Glück fassen, wo man es findet und sich um das Übrige nicht mehr kümmern.“

„Das heißt um die andern?“

„Gewiß.“

„Ach, Stella, wenn du wüßtest, wie entsetzlich deine Worte sind und wie wenig am Platze.“

„Ich verstehe dich nicht.“

„Wenn alle so dächten.“

„Ich denke wie die Mehrzahl. Alle gesunden vernünftigen Menschen denken und handeln, wie ich. Die Kranken und Entarteten haben den Altruismus erfunden. Da es ihnen an Kraft fehlte, sich allein im Leben zu verteidigen, haben sie die Pflicht erfunden, daß man sich zusammenschließen müsse, um einander zu verteidigen. Der Individualismus wird sie ebenso vertilgen wie in Amerika, und die Schwachen werden notwendigerweise verschwinden. Nein, siehst du, Mira, jeder für sich und durch sich: Das ist das Gesetz der Lebenskraft. Es wird sich durchsetzen.“

„Es ist die Herrschaft des Hasses, die du proklamierst!“

„Und wenn auch?“

„Aber ich,“ rief die junge Frau leidenschaftlich aus, „will an die ewige Macht der Liebe glauben.“

Und die Unglückselige eilte davon und preßte beide Hände auf ihr armes Herz, worin in schweren Schlägen ein Trauergeläute ertönte.


VI.

Am nächsten Morgen hielt Frau von Ellissen in ihren zitternden Händen einen Brief von Fred:

„Verzeihen Sie, Mira, daß ich Sie gestern nicht benachrichtigt habe. Ich reise ab. Ich bin körperlich und geistig krank. Ein Luft- und Szenenwechsel wird mir gewiß heilsam sein. Geben Sie mir Nachricht von sich poste restante nach Rom, ich werde mir die Briefe nachschicken lassen. Zürnen Sie mir nicht und glauben Sie an meine zärtliche Liebe.

Fred.“

Er hatte mit einem riesigen Strich, als Geständnis gleichsam der Ursache seiner Flucht, das verhaßte Eigenschaftswort unterstrichen, das eine unüberbrückbare Kluft für ihre gegenseitige – lächerliche Liebe bildete.

Der Waggon, der Fred entführte, sprang weniger auf den Schienen, als sein Herz in seiner Brust. Seine Nerven bebten. Er floh, wie ein verwundeter Vogel, der vergebens den spitzen Pfeil abschütteln will, der ihn durchbohrt.

Er floh den Vogelsteller, den er doch selbst hätte bald zitternd und besiegt aufheben können, wenn er im Bereich seiner zärtlichen und doch so mörderischen Hände geblieben wäre. Ach, diese Hände, die Frau von Ellissens Finger kneteten, die sich in ihr Fleisch vergruben, ihre Fläche an deren Fläche preßten, die empfindlich wie Lippen waren. Sie fieberte, wenn er so von ihnen Besitz ergriffen hatte. Welche Schande! Ihr moralischer Wille war ihre einzige Kraft, und sie wollte dieser Liebe in extremis nicht nachgeben.

Eine Aussprache zwischen ihnen war unvermeidlich geworden. Sei’s. Sie würde hören und erwidern, aber aus solcher Ferne, daß ihre armselige physische Schwäche geschützt wäre. –

Wie sollte Frau von Ellissen Stella die Nachricht von Fred’s Abreise mitteilen, die sie selbst mitten ins Herz traf, in das arme zertretene Herz, das in einer sich täglich enger zusammenziehenden Hülle steckte.

Fred versuchte sich zu zerstreuen, indem er Venedig ohne Führer durchstreifte. Er genoß die Erschütterung, die ihn bei jedem neuen Kunstwerke erfaßte, daß er nach Mira’s Schilderungen erkannte, und ihre enthusiastische Stimme begleitete ihn überall hin und gab ihm die Illusion ihrer Gegenwart. In dieser Sinnestäuschung wanderte er umher, von ihr geführt, ihrer bilderreichen Sprache begeistert und empfänglich gemacht für die schwermütige Schönheit der edlen Ruinen, für die grandiose Pracht der Paläste, die rührende Anmut der abbröckelnden Bogen, die majestätischen Trümmer der antiken Paläste.

Fred war überrascht vom Anblick, der sich ihm in dieser hellen Sternennacht darbot. Girlanden von Rosen und Lorbeer, tanzende Ketten von farbigen japanischen Laternen lassen das dunkle Gewässer in allen Farben spielen und verwandeln es in eine schreiend bunte Harlekinsjacke. Langsam gleitet ein Boot mit Musikanten und Sängern von San Marko, mit Champagner trinkenden, verliebten Paaren besetzt, den Canal grande hinab.

Geigen, Flöten, Mandolinen, Sänger mit kräftigen oder schrillen Stimmen, überbieten einander und erwecken durch ihre alten Karnevalsmelodien die Erinnerung an vergangene Freuden, himmlische Intriguen, herausfordernde Masken, wollüstige Dominos. Sie preisen die Stadt der Versuchung, des Entzückens, des Traumes, die war und ewig sein wird: Venedig.

Wie um das Festschiff zu grüßen, tauchen nacheinander die Marmorstufen der Kirche Santa Maria della Salecte und die Paläste aus dem Dunkel, vom plötzlich entflammten bengalischen Licht grell beleuchtet, auf. Die kleinen Kanäle färben sich purpurrot durch einen heitern Streifen Lichtes, die Fenster werden geöffnet, auf den Balkonen erscheinen braune und blonde Köpfe, auf die auch ein Lichtstrahl fällt.

Hunderte von Gondeln drängen sich, gleichsam ins Schlepptau genommen, vom Festschiff, als wären sie von einer einzigen Hand gelenkt. So folgt in der Finsternis ein langer unförmlicher Fisch der leuchtenden Spur eines Schiffes.

Beim Rialto, dessen stolzer mit goldschimmernden Platten besetzter Bogen der Tiara eines Riesengötzenbildes gleicht, bleibt das Schiff lange stehen. Auf den illuminierten Kais und auf der Brücke wimmelt eine immer dichter werdende Menge. Wie berauscht von der Musik, klatschen die Weiber in bis Hände, verlangen jedes Lied, jede Opernarie noch einmal, singen den Refrain aus vollem Halse mit, kurz: sie verlangen ihren Teil am Tumult und an der Freude und brechen in begeisterte Hochrufe aus, wie beim Einzuge eines volkstümlichen Monarchen.

Plötzlich wird alles dunkel, alles zerstreut sich; das blumen- und laternengeschmückte Schiff, die Gondeln und die Menge. Paläste, Kirchen, Kanäle versinken wieder in die Dunkelheit, schlafen oder träumen, das Wasser spiegelt nur Mond und Sterne wieder.

In der erstorbenen Stadt widerstehen nur die Leidenden und die Liebenden der ansteckenden Betäubung dieser Stille, dieses Friedens.

Fred seufzte und dachte bei sich: „Ich soll dich also nie vergessen, Mira! Hier bin ich. Sind wir nun weit genug voneinander?“ Und es fielen ihm die grausamen Worte ein, die sie einst zu ihm gesagt hatte:

„Bringen Sie doch einmal eine dreißigjährige Frau auf die Bühne und in meinem Zustand der Leidenschaft: die ganze Kritik wird sich dagegen erheben und es abgeschmackt finden. Unsere berühmtesten Psychologen haben noch nichts gefunden, um das Recht der Dreißigjährigen auf Liebe zu rechtfertigen. Und sie werden es nicht einmal versuchen, aus Furcht, selbst dem Gelächter und der Verachtung des Publikums zu verfallen. Woran liegt das? Gewiß an einer irrigen Auffassung der Liebe. Die Religionen haben sie geduldet, um die rassenverbessernde Zuchtwahl zu begünstigen. Für sie soll die Liebe nur das Mittel zur Zeugung sein: folglich muß sie an der Schwelle des unglücklichen Alters Halt machen. Die Kunst hat in ihr nur das Motiv der Schönheit gesehen und in der Schönheit die einzige Entschuldigung der Liebe. Wenn die Schönheit vergeht, muß die Liebe schwinden. Die Stunden der strahlenden Jugend sind aber kurz, und endlos die Jahre nach dem Beginn der Reife. So lange sie aber auch seien, man darf nicht mehr lieben. Lange noch ehe der Körper zum ewigen Frieden eingegangen ist, muß man sein Herz unter einer steinernen Platte begraben, seine Zeit ist vorüber. Wehe dem Herzen, das sich unterfinge, von den Toten aufzuerstehen und sein ewiges Leben zu fordern. Schlaft, ihr Alten, aber schlaft allein!“

„Welches Weib!“ rief er aus. „Sie, die in vollem Glanze, in voller Schönheit verzichtet! Es war nicht das Werk eines banalen Geistes oder eines leichtfertigen Herzens.“

Und da dieses düstere unheilschwangere Meer sein Herz ganz melancholisch gestimmt hatte, begann er zu weinen.

Die Fledermäuse schwebten lautlos und unruhig. Er beneidete nicht mehr jene, die ihr Geschick in die Ferne treibt, die ihre Tage und Nächte zwischen Himmel und Wasser verbringen, die nach unbekannten Fernen auswandern. Wozu an Trennung denken, an freiwillige Verbannung in die Fremde, hinter den schaumbekrönten Wogen, da die Stunden der Bitterkeit, des Zornes, der Enttäuschung verrauscht sind? Da die Stimmen der Ebbe und Flut, die ihn früher riefen, die ihm ewigen Frieden boten, die mit ihm schluchzten, ihn verspotteten in der langen schmerzlichen Dämmerung heute nur fröhliche Osterglocken, Glocken der Auferstehung, der Freude erklingen lassen, mit dem Rate lange, ja ewig zu lieben.

Fred bedauerte die, die er beneidete, denen er auf ihren Abenteuern folgen wollte. Und als Streifen schwarzen Rauches sich über der großen smaragdgrünen Mauer erhoben, die dort dem Himmel abschließen, als Silhouetten von Schiffen mit ausgespannten Segeln auf dem grauen Nebel erschienen und mit schrillem Geschrei, als ob sie sich verloren fühlten, die Seevögel klagten.

Er empfand eine unsagbare Bangigkeit und eilte zum zarten goldigen Lampenlicht zurück. Die Vorhänge waren geschlossen, alle nächtlichen Geräusche verschwimmen in ein langes eintöniges Rauschen, die Rosen durchduften die laue Luft mit ihrem feinen Wohlgeruch.

„Ach, einer liebt immer stärker als der andere. Jetzt bin ich es, später wirst du es sein. Das ist das Leben!“ …

Ein Monat verging. Frau von Ellissen war allein in ihrem Zimmer, als man ihr einen Brief brachte; sie erkannte sofort Freds Schrift.

„O Mira, ich liebe Sie! Lassen Sie mich noch hoffen. Sagen Sie nicht Ihr letztes Wort, sagen Sie es noch nicht. Lassen Sie mir noch eine Frist. Überlegen Sie. Quälen Sie nicht Ihren Geist, um Gründe gegen Ihr Herz zu finden, da Sie mich lieben. Ja oder nein, lieben Sie mich? Wenn Sie mich lieben, werden Sie die Meine. Wie groß könnte unser Glück sein, wenn Sie wollten. Wir würden die Provinz verlassen, wir würden uns in einer herrlichen Gegend einnisten, in einem kleinen Gebäude aus roten Ziegeln, dessen Galerie direkt über dem Meer gelegen ist, dessen Woge an steilen Felsenklippen brandet und schäumt in seinem heimlichen wiegenden Gesang. Wir würden uns im Tale von Bangar herumtreiben, wo das Gras so hoch wächst, daß man darin verschwindet, wo die üppige Vegetation orientalische Töne annimmt, wo der Ginster ein Baum ist, wie die Mimosen des Esterel. Wir würden zum Leuchtturm von Kervillavuen wandern, um das Meer zu betrachten, das die Seele mit der Energie seiner Wogen erfüllt und sie mit seinem Sprühregen in unauslöschlichem Glauben an ein unendliches Leben tauft.

Aneinandergelehnt würden wir über den schönen Hafen von Sauzon heimkehren, dessen Boote wie närrisch tanzen, ihre Ketten ertönen lassen, und mit den Schiffskörpern zusammenschlagen wie Kastagnetten.

Dies war mein Traum. Haben Sie ihn nie geahnt? Also, Mira, eine gute Regung: antworten Sie mir endlich! Rufen Sie mich zurück, zu sich, auf immer. Wenn flüchtige Geister, wie Sie, Mira, über diese Fragen debattieren, halten Sie sich an die landläufigen Vorurteile, an die fertigen Ideen, an den Schein mit einem Worte. Sie sprechen darüber ab, ohne irgend einen triftigen Grund.

Gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, daß ich außerdem in meinen eigenen Angelegenheiten Urteil genug besitze. Ich bin mir vollständig klar darüber, daß sich in meine leidenschaftliche Bewunderung Ihrer geliebten Person keinerlei Illusion mengt. Ich sehe Sie so schön, wie Sie sind, wie Sie in meinen Augen immer sein werden. Mira, antworten Sie mir nur ein Wort: Komm! Lassen Sie mich endlich das ersehnte Wort von Ihren Lippen hören: Ich liebe Dich! Ich zittere, ich bebe! Ich hoffe, ich warte! Ich lebe, aber wie!

Fred.“


VII.

Nach Empfang von Freds Brief hatte Frau von Ellissen einen dringenden Ruf an Miß ergehen lassen. Sobald sie sie herbeieilen sah, so gut es ihre armen, schwergewordenen Beine gestatteten, führte sie sie in ihr Zimmer. Stella turnte indessen in der Halle, die ihr dazu reserviert war, am Trapez, mit Handeln, am Reck, Übungen, die ihren Körper geschmeidig machten und entwickelten, ihn zur Äußerung einer Lebenskraft anspornten, deren Reflex auch in ihrem Intellekt zum Ausdruck kommen mußte.

Der Versuch von Miß war eine Erholung für Frau von Ellissen, die durch Stellas stetes plötzliches Auftauchen fortwährend zusammenschreckte. Das junge Mädchen verfolgte sie durchs ganze Haus, als ob sie sie mit ihrer Gegenwart, mit ihrem Geplauder quälen wollte.

„Kommen Sie schnell, Miß, ich habe Ihnen so viel zu sagen.“

Miß ahnte wohl, daß sich hinter der bleichen Stirne der jungen Frau ein großer Kummer verbarg. Schon lange fürchtete ihre verständige Freundschaft die traurige Stunde. Auch ohne Miras Geständnis ahnte sie das zärtliche Geheimnis, das sie wie eine Schuld verbarg. Sie wäre auch weiter gar nicht darüber erschrocken, da sie, die Reine, auch an die Reinheit der Liebe dieser beiden so vertrauten Wesen glaubte, hätte sie nicht Stellas despotischen Charakter gefürchtet. Sie sah einen Konflikt heraufbeschworen, wenn sich das junge Mädchen in den Kopf setzte, Fred für sich zu erobern.

Daher war ihr auch, bei Frau von Ellissens ersten, etwas verlegenen Worten sofort alles klar und sie konnte in ihrem Herzen, wie in der Wage der hohen Gerechtigkeit die Rechte und Pflichten eines jeden gewissenhaft abwägen. Es fiel ihr nicht schwer, Frau von Ellissen zuzustimmen, daß diese es sich selbst schuldig sei, das schwere Opfer zu bringen.

„Wenn Sie statt um zwei Jahre älter, um zwei Jahre jünger wären, meine sehr Verehrte,“ erklärte sie ihr, „dann würde ich Ihnen sagen, Sie haben unrecht, nicht schon lange die ehrlichen Liebeserklärungen Seuriets anzunehmen. Aber ich verstehe, daß Sie vor den zukünftigen Gefahren einer nicht passenden Vereinigung zurückgeschreckt sind. Gewiß – Sie stehen jetzt in Ihrer vollsten Schönheit – alles vereinigt sich in Ihnen, ein Herz zu berücken… Freds Charakter ist schwach … und zwei Jahre, Sie haben nicht unrecht, machen viel aus! Die Frau altert schneller, als der Mann. Ein Gelübde hält Sie zurück! die Furcht, eines Tages von ihm nicht mehr geliebt zu sein! So drängt sich ein loyaler Entschluß auf und das einzige, was ich möchte, ist, Sie getröstet zu sehen. Denn schließlich – man muß ein Ende machen! Fred wird sich Ihnen eines Tages entziehen – er wird heiraten!“

„Er würde bei mir ausharren,“ erwiderte die junge Frau bebend, „davon bin ich überzeugt, wenn nichts seine Ruhe störte, denn er liebt mich.“

„Aber er liebt Sie – zu tief – , Sie haben mirs gestanden. Und da Sie seinen Wünschen nicht nachkommen werden, wird er sich für immer von Ihnen entfernen; während gerade seine Anhänglichkeit an Ihnen in dem vorgeschlagenen Verhältnis ein reines Glück bringen kann.“

Die junge Frau seufzte, ohne zu antworten: ihre Hochachtung vor der bewunderungswürdigen, seelischen und körperlichen Jungfräulichkeit dieses idealen alten Mädchens hinderte sie, die grausamen Erschütterungen ihres Herzens zu verraten, das eine neue Eifersucht quälte.

„Würden sie nicht von ihm,« fuhr die Miß fort, »alles haben, was Sie wünschen, die zärtliche Zuneigung, das fast tägliche Beisammensein und, noch mehr, die Kinder, deren Mutter Sie beinahe wären? Ja, ich finde geradezu, daß Ihnen das Leben ein Wohlwollen entgegenbringt, wie es für so viele andere ein gleiches nicht hat!“

„O, liebe Miß, sprechen Sie mir nicht vom Wohlwollen des Lebens – ich darf nicht klagen. Und doch, ich leide, leide entsetzlich!“

„Bedenken Sie,“ sagte das alte Fräulein gradheraus, „um wieviel schrecklicher Ihr Leid wäre, wenn Sie diesen jungen Mann anders geliebt hätten? Dann wäre nicht ihr Herz allein zerrissen, sondern Ihr ganzes Sein.“

„Und wenn ich mich vergessen hätte, ihm mein ganzes Sein geboten!“

„Mira! nein – das glaub’ ich nicht. Gott hat Sie beschützt, denn trotz aller, übrigens so natürlichen, Versuchungen, sind Sie ohne Fehl geblieben. Welche Befriedigung müssen Sie in dieser Stunde empfinden, die unabwendbar schlagen mußte! Sie würden sich demjenigen, der Ihnen allzusehr angehört hätte, aus Anstand und aus Achtung für sich selbst, verpflichtet sehen! Vergessen Sie nicht, Sie waren die Gattin von Stellas Vater! Danken Sie Gott, teuere Ungläubige, der Sie zärtlich aber keusch werden ließ, und bereiten Sie ruhig selber, mit ihren eigenen Händen, diese Heirat vor, die die beste Lösung der Frage bietet.“

„Werde ich den Mut dazu haben?“ murmelte Frau von Ellissen.

„Sie müssen ihn haben. Sie müssen es wollen. Und vor allem, nur einzig Sie können dieses Projekt zur Durchführung bringen. Die Auseinandersetzung muß zwischen Fred und Ihnen allein stattfinden. An Ihnen ist es, ihn durch eine überzeugte feste Sprache zu diesem Ende zu führen, dem glücklichsten, ich wiederhole es, für Sie alle drei: für ihn, der mit seinem schwachen und weichen Charakter im Zusammensein mit Ihnen den teuren Einfluß, den liebevollen fast mütterlichen Schutz finden wird, den niemand anderes ihm leihen kann, als nur Sie; für Stella, deren Herrschsucht, ihrer selbst unbewußt, unter der Einwirkung Ihres Verzichtes sich mäßigen wird, die sich weniger frei fühlen wird, obgleich sie daran denkt, gegen eueren beiderseitigen würdigen Ernst mit den äußersten Mitteln anzukämpfen; und für Sie endlich, die sich bald daran gewöhnen wird – die dahinfließende Zeit beruhigt manches Verlangen, glauben Sie mir! – gewöhnen wird, nicht mehr unerfüllt vergöttert zu sein, sondern geliebt und zärtlich verehrt von jenem, der Ihnen das ganze Glück seines Lebens verdanken wird.“

„Aber wenn Stella ihn nicht liebt!“ rief die junge Frau.

„Lassen Sie doch, kümmern Sie sich nicht darum – sie liebt ihn auf ihre Art – und ich glaube, daß Stella ihn nicht nur lieben, sondern ihm auch als Gattin – Treue bewahren wird!“

„Sie glauben? – Oh! wenn ich wüßte, wenn ich nur die Wahrheit erfahren könnte, wenn es mir möglich wäre, in ihre Seele zu blicken.“

„Ich glaube, Sie verkennen sie. Sie ist aufrichtig bis zur Grausamkeit!“ sagte die Miß.

„Sie halten sie – nur für aufrichtig? –“

„Ja. – Sie – nicht?“

„Ich fürchte, Miß!“

„Man muß nicht fürchten, sondern hoffen. Man muß die Welt für besser halten als sie vielleicht ist. Ein bißchen Optimismus und viel Barmherzigkeit, und das Übel, das man fürchtet, verflüchtigt sich und das Gute, das man wünscht, geht in Erfüllung.“

„Ich habe große Angst…“ hauchte noch die junge Frau.

„Das ist nicht das Mittel zum Siege. Ah! wenn Sie so beginnen, dann sind Sie von vornherein besiegt. Glauben Sie mir. Als Christus zum Lahmen sagte: ‚Erhebe dich, werfe deine Krücken von dir und gehe!‘ hätte da jener gezweifelt, so würde er sich nicht erhoben haben und gegangen sein. Also, arme Freundin, etwas Mut, und alles wird sich wohl gestalten.“

„Also, Sie wollen, ich soll ihn zurückrufen, um ihm Stella zu geben?“

„Ja,“ sagte die Miß einfach, – „Sie werden es tun, nicht wahr?“ fügte sie fragend in einer Weise hinzu, die deutlich sagte: Sie müssen es wollen.

„Gewiß! ich will es,“ stammelte Frau von Ellissen und verbarg ihre Stirne in den Händen. Sie weinte – während die Miß, über das traurige Antlitz geneigt, einen erschütterten Blick, erfüllt von barmherzigem Mitleid, zum Himmel warf, wo alle ihre Gedanken endeten.

Die Türe wurde mit einem plötzlichen Ruck aufgerissen, und Stella, leuchtend und frisch vom Bade, noch feucht von der Brause, die Haare wie einen Mantel über das helle Kammtuch gebreitet, stürmte wie der Wind herein.

„Was! Sie, Miß! I beg your pardon! Ich glaubte Mira allein. Was macht Ihr da, alle beide, eingesperrt? Ihr seht aus, als hättet Ihr eine düstere Verschwörung vor? Darf man wissen? Ich störe wohl? Geh’ auch schon. Fahrt nur in euerem kleinen Geplauder fort.“

Und ihre beiden stechenden Augen in den ernsten Blick der Miß, die sie kritisch betrachtete, versenkend, fragte sie plötzlich:

„Ich wette, man hat von Fred und mir gesprochen?“

Diese platzte heraus:

„Ja, Mama wird ihn zurückrufen. Also, kleine Braut – bald die Hochzeit!“

„Ha! ja – endlich! – wann?“

„Bald – heute noch geht der Brief ab – nicht wahr?“

„Wenn du ihm schriebest?“ warf Stella hin.

„Ganz richtig, ich werde ihm schreiben. Ich schreibe „Dringend“ darauf und gebe ihm drei Tage Zeit nach Ankunft des Briefes,“ meinte naiv die junge Frau.

„Nein, das wäre ungeschickt. Richte es nur so ein, ihn verstehen zu machen, daß du ihm einen ernsten Wunsch mitzuteilen hast.“

Frau von Ellissen ging in ihr Zimmer. Sie war allein. Sie setzte sich vor ihre Schreibmappe und verharrte davor, die Feder in der Hand. Diese zitterte, denn ein plötzlicher Entschluß erfüllte sie mit Schauer. Von ihrer Erschütterung zu ungewohntem Mute gedrängt und übrigens auch allzusehr von der Frage hingenommen, um die ruhigere Stimmung des nächsten Morgens abzuwarten, schrieb sie ohne einzuhalten, mit zitternden Buchstaben, welche dem unregelmäßigen Rhythmus ihres Herzens folgten.

„Fred! Reisen Sie so schnell Sie können. Kommen Sie! Gleich, noch am Abend Ihrer Ankunft, und wäre es ein Freitag – ich zähle auf diesen Tag. Kommen Sie – welche Stunde es auch immer sei hören Sie? Und wäre es Mitternacht, wäre es noch später! Kommen Sie heimlich durch den Park, den ich offen lassen werde: ich erwarte Sie bei mir – im Parterre, Sie wissen schon…

Mira.“

Sie schellte, während sie mit dem Finger über das geschlossene Kuvert strich.

Doch Stella trat ein.

„Schon erledigt?“ sagte sie lachend.

Frau von Ellissen hatte gerade nur Zeit, den Brief in die Mappe zu werfen.

„Noch nicht. Ich möchte nur wissen, ob Jacques schon zu Haust ist.“

„Ich will nachsehen,“ sagte Stella.

Als Mira die Schritte Stellas im Korridor nicht mehr vernahm, steckte sie den Brief in die Tasche und eilte die Treppe hinab.

„Tragen Sie diesen Brief sofort zur Post,“ sagte sie dem Diener, „geben Sie ihn rekommandiert expreß auf und bringen Sie mir das Rezepiße in mein Zimmer.“

Als Stella zurückkehrte, fand sie das Zimmer leer. Sie lief zum Schreibtisch und nahm die Feder in die Hand, die noch voll Tinte war.

„Endlich!“ sagte das junge Mädchen aufatmend.

Die Miß verlor den Atem, als sie die Stufen zu ihrem Heim hinanstieg. Aber dieses kokette Heim war von zahlreichen Nippsachen erfüllt, Geschenke ihrer Schülerinnen, zierliche kleine Nichtigkeiten, von überallher zusammengetragen. Dieses naive und liebevoll zusammengestellte Museum war ihrem Herzen teuer und bot ihr eine wohlige Umgebung. Sobald sie es erreicht, atmete sie erleichtert auf, beruhigend, lächelnd. Ihr Blick streifte über die zerstreuten Gegenstände, liebkoste sie mit sinnender Freude. Sie fühlte sich durch dieselben umgeben von der ständigen Zeugenschaft so vieler schon alter freundschaftlicher Gefühle. Alle Mühe, die sie sich genommen und sich noch immer in ihrem Lehrerberufe nahm, verflüchtigte sich in der unausgesetzten Erinnerung der tausend freundschaftlichen Bande, die sie sich geschaffen, die sie umgaben, ja, sie beinahe über ihre Einsamkeit trösteten. Alte Jungfer, war sie doch mehr als irgend eine Frau auf der Erde geliebt gewesen. Die Herzen hatten sich um ihre Güte geschart, wie kleine Küchlein unter dem mütterlichen Flügel. Und ihre Brut, die sich jedes Jahr mehrte, zerstob vergebens in alle Winde, sie fand die Erinnerung an alles und an alle wieder, an den Wänden, in den Ecken, auf Schritt und Tritt, ihr Nest mit Blüte und Duft erfüllend.

Als Stella eintrat, blieb sie stehen und stieß hervor:

„Ich hatte Angst, zu spät zu kommen.“

„Nein,“ erwiderte die Miß, „der Tee bei den Hennebergs ist heute erst um neun Uhr, wir haben vollauf Zeit. Wie geht es Mira heute abend?“

„Ganz fertig, Nerven, und bleicher als je, aber immer schön! Sie werden sehen, daß sie in der Unterredung mit Fred alle möglichen Weitläufigkeiten suchen wird. Anstatt mich ihm sieghaft auf einer Silbertasse anzubieten, wie eine für ihn unschätzbare Gabe!“

„Bescheiden sind Sie gerade nicht?“

„Wozu auch? Ist es nicht die Wahrheit? Können Sie denn sagen, daß ich für Fred, dem fast noch unbekannten, reich an Gaben und Hoffnungen, aber arm an Geld, nicht eine sehr annehmbare Partie bin?“

„Ich leugne es nicht, meine Liebe, aber …“

„Aber? Nun – sprechen Sie Ihren Gedanken aus …“

„Ich will sagen,“ sprach die Miß langsam, ihre Worte suchend, um den leicht erregbaren Stolz Stellas nicht zu treffen, „ich will sagen, daß Ihnen für den Augenblick vielleicht noch die sanften Tugenden, die Ergebenheit, die Resignation, der opferwillige Geist mit einem Wort, fehlen, die wertvollsten Eigenschaften, die der Mann in dem Weibe sucht, das sein Leben zu teilen berufen ist. Sind Sie überzeugt, ihn genug zu lieben, um das ganze Streben seines Genies zu unterstützen, werden Sie ihm durch die Feinfühligkeit jener Mittel helfen können, die das Herz allein gebiert, zu arbeiten, zu leiden, sich zu überwinden?“

„Wenn ich ihm nur nicht im Wege bin, was wird er mehr von mir verlangen können?“

„Ihn zu lieben, Stella, ihn tief zu lieben und es verstehen, ihn zu lieben.“

„Bravo! Ganz wie Mira, Sie auch, mit eurem Rappel von der Liebe. Gott! was seid ihr romantisch.“

„Sehen Sie wohl, Stella, daß Sie für die Ehe nicht reif sind, Sie kennen ja noch nicht einmal das oberste göttliche Gesetz derselben.“

„Sie selber, Miß, sind altmodisch, Ihr Herz gleicht einem kleinen, toll gewordenen Kuckuck, der den Schwanz hin und herwirft und nach allen Seiten tanzt, um: Liebe! Liebe! zu singen. Heute, sehen Sie, ist das Handwerkzeug des Herzens vervollkommnet. Es ist ein Chronometer erster Güte geworden, tüchtig, wohlgeregelt; und da man das ganze Räderwerk kennt, wissen wir, daß es eine Maschine darstellt und nichts als eine Maschine, die durch eine rein physische Hygiene in gutem Zustand erhalten werden muß. Dann kann man ruhig seinen kleinen Geschäften nachgehen, indem man dieses recht vernünftige Herz hinter seinem Mieder trägt, wie die Uhr in einem Armband: einfach, um ab und zu die Zeit zu erkunden, z. B., wenn einen jemand langweilt, ihm zu sagen: ‚Verzeihen Sie, ich habe keine Zeit‘.“

„Und das ist die Antwort, die Sie mir geben?“ fragte traurig die Miß.

„Teufel! Wenn Sie von mir verlangen, mich in Rührseligkeit zu ergehen …“

Die Miß murmelte fast gegen ihren Willen:

„Sie sind nicht gut, Stella.“

„Ein Wort noch!“ erwiderte das junge Mädchen, mit den Achseln zuckend. „Schauen Sie, Miß, wozu dient die Güte, wenn nicht dazu, Leid zu bereiten? Betrachten Sie Mira – die wird ganz krank davon, Sie ist die Güte für alles, was sie „den Kummer der andern“ nennt. Sie ist fertig; sie war so stark, so kräftig, und jetzt – ist sie im Begriff, sich eine Herzkrankheit zu holen. Schöner Erfolg, das! Warum denkt sie nicht daran, sich wieder zu verheiraten, sie, so schön, so liebreizend, alles was man nur wünschen kann, um das Glück eines Mannes auszumachen.“

„Sie bedenken nicht, mein Kind, daß Mira, indem sie so handelte, wie sie es tat, gar manches Weh einer größeren Menge gestillt hat, als Sie es wohl ahnen! Sie hat gelitten und leidet noch, gewiß! Aber sie ist eine Einheit, die sich für das Glück einer Vielheit ausgegeben hat. Das Ergebnis ihres persönlichen Schmerzes ist eine Riesensumme um sie verbreiteter Wohltaten. Und wenn jeder mit ihren Gaben ausgestattet wäre, würde das Elend, dieses fürchterliche Elend, das die Menschheit zerfrißt wie eine Wunde, wohl rasch verschwinden!“

„Wieder eine Utopie, Miß –. Das Elend ist notwendig, um das Glück genießen zu können. Wenn alle Welt glücklich wäre, wüßte man nicht, was Glück ist: man ist nur glücklich durch den Vergleich.“

„Kann man glücklich sein, wenn man nicht an jene denkt, die es nicht sind?“

„Wenn man mit gesunder Vernunft daran denkt, ja. Gesund sein, das ist das einzige Geheimnis. Das Leben ist eine Macht, Miß. Haben Sie schon darüber nachgedacht? An uns ist es, mit allen Kräften den Odem des Lebens einzuatmen, der in der Luft liegt, der uns berührt und sich anderswo niederläßt, wenn wir ihn nicht festhalten. Schlürfen wir davon so viel als möglich, in langen Zügen, so wie man trinkt, wenn man großen Durst hat. Und dann freuen wir uns unseres Glückes, ohne der Verdurstenden zu achten, die die ungeschickten Trinker des Lebens sind, die schwachen, die anämischen, die Kranken endlich! Glauben Sie, es ginge schlechter zu auf der Welt, wenn es da nur Starke gäbe, solche im Gleichgewicht? Die Gleichheit der Kräfte bewirkt die Gleichheit der Rechte. Seien wir stark, um nicht in unseren Hoffnungen betrogen zu werden. Ich bin nur ein Weib, aber ich hab’ in meinem Kopf etwas, das mich denjenigen gleichstellt, die unsere Herren sind: die Männer.“

„Das ist Ihr Stolz und Ihre Härte,“ stieß die Miß, endlich ärgerlich geworden, hervor.

Stella aber, voll Verachtung:

„Nein, Miß, das ist mein Wille! Nun, werden Sie auch die Macht des Willens und seines Verdienstes leugnen?“

„Nein, vorausgesetzt, daß man das Gute will.“

„Aber ich will es, Miß. Ich will sogar nur das!“

„Ja, das Gute für Sie!“

„Natürlich! Ich verfüge nicht über die anderen! Ich habe die Freiheit des Handelns nur über mich selbst. Ich kann niemanden dazu anhalten, für die Vergrößerung seines Glückes und seiner Freiheit zu arbeiten, also, warum wollen Sie, daß ich mich dafür interessiere? Aber ich halte in meinen Händen ein Wesen, das mir gehört, das mein Ich ist, über das ich nach meinem Gutdünken verfügen kann; und dieses Wesen seinem Ziele zuzuführen, habe ich das Recht und die Pflicht.“

„Aber diese Ideen,“ seufzte die Miß etwas entwaffnet, „wie sind sie Ihnen gekommen?“

„Ganz einfach indem ich darüber nachgedacht, als ich viel gelesen, ein bißchen durcheinander, es ist wahr; wenn aber die Ideen in der Luft liegen, begegnet man ihnen überall wieder unter verschiedenen Gestalten. Man muß sie nur suchen, vereinigen, vergleichen. Und wenn man ein bissel Grütze hat, dann findet alles seinen Platz. Aber schauen Sie, – da ich schon im Zuge bin, eine Beichte abzulegen, kann ich Ihnen ja alles gestehen – wissen Sie, wer mich zur Auflehnung gegen das gefährliche Spiel der Empfindsamkeit und aller ihrer üblen Folgen gebracht hat? – Mira selbst.“

„Die teuere Mira!“

„Gewiß, allzu gut, allzu weich! Als Mira Papa heiratete, war ich zwar noch ein Kind, trotzdem aber entging mir das Leben nicht, welches sie an der Seite meines Vaters führte. Mira reichte meinem Vater nicht aus Liebe die Hand – nein, sie wurde seine Gattin, sie war ihm die treueste, ergebenste Lebensgefährtin, die beste Freundin, jung, schön – nicht so schön wie heute – sie lebte ausschließlich der Pflicht, Gattin, Mutter zu sein und diese Pflicht, welche ihr mit ihrem Schritt auferlegt war, ganz zu erfüllen. Ihr Leben blieb leer und öde. Sie ertrug alle Schroffheiten Papa’s mit Geduld und Ergebung, trotzdem der Stolz sich oft in ihr aufbäumte, ihre Augen von Zorn auffunkelten! Bald aber änderten sich die Gefühle und eine Art Mitleid überkam sie – Mitleid für den alten ergrauten Mann. – Ich wuchs zum Mädchen heran und wurde von ihr nach dem Tode meines Vaters mit der gleichen hingebenden Liebe behandelt, wie vorher. Mira ist mir Mutter, ist mir aber auch die teuerste Freundin. Ich möchte sie eben glücklich sehen – auf ihre Art – die allerdings nicht die meine ist. Ich habe eingesehen, daß, wenn ich mich von einer übertriebenen Empfindsamkeit hinnehmen ließe, mein Dasein dem ihrigen gleichen würde; daß ich allen Mut verlöre, jede Energie, um mich zu verteidigen. Nicht alle haben eine so starke Seele und einen so festen Charakter, wie sie. Wenn mir der Himmel einen solchen Grobian bestimmte, würde ich zusammenknicken, wie sie und mein ganzes Leben ergösse sich aus meinen Augen. Da hab’ ich mich denn aufgerichtet, mir einen Standpunkt gewählt. Ich habe unter meinen Anlagen die männlichen Eigenschaften gesucht, die mir von meinem Vater überkommen waren und bildete sie aus. Und da es sich darum handelte, ihm zu gleichen, um so glücklich zu sein, wie er es war, habe ich in mir alle Mittel entwickelt, dieses Ziel zu erreichen. Das hat mir im Anfang viel gekostet, warum soll ich es Ihnen verschweigen? Mir war eine liebevolle Wärme gegeben, die mir im Wege stand. Auch ich hatte das Bedürfnis, zu lieben! Aber das war zu dumm! Jene, die lieben, werden nicht geliebt. Man dreht ihnen ihre Liebe zwischen den Zähnen um, wie ein falsches Gebiß, und zielt darauf. Ich habe es vorgezogen, die Zügel in der Hand zu haben. Und jetzt halte ich sie. Ich bin nicht schlecht, Miß, ich versichere Sie. Es gibt sogar Augenblicke, wo ich recht fähig wäre, gerührt zu werden. Aber ich will nicht. Ich spreize mich dagegen. Schauen Sie, wenn ich Angst habe, weich zu werden, denke ich an Mira und das genügt. Ich werfe mich heftig zurück, und zwar auf den Gegensatz zu ihrem Denken; das ist sogar meine einzige Verhaltungsmaßregel: sie macht dies, ich mache das, gerade das Gegenteil. Sie hat Herz – ich nicht mehr! Sie überlegt mit dem Herzen, ich überlege mit dem Gehirn. Wenn sie gibt, so nehm’ ich, wenn sie weint, so lache ich! Recht einfach, wie sie sehen: ich will ihr nicht ähnlich sein, ich will nicht leben, wie sie; denn sie hat gelitten. Sagen Sie mir doch, warum sie von Tag zu Tag blässer wird; ihre Augen verraten, daß sie leidet – an irgend einem Kummer leidet. Ich bin kein kleines Mädchen mehr – warum nennt sie mir nicht den Grund? Warum immer ein Seufzer? und das erst so recht, seitdem ich ihr gesagt, daß ich Fred will, daß ich seine Frau werden will. Ich muß doch eines Tages heiraten?“

„Das Leid erschreckt Sie also sehr, mein Kind?“

„Ich finde es ungerecht und unnütz, vor allem unnütz.“

„Das ist nicht meine Ansicht. Sie wissen, daß ich aus eigener Kenntnis der Sache sprechen kann, nicht wahr?“

„Gewiß.“

„Nun! Im Alter, daß ich erreicht, nachdem ich alle Grausamkeit eines Lebens ertragen, das ich mir selbst gewählt, mit eigenem Willen, mit aller Einsicht, schwöre ich Ihnen, Stella, – und ich leihe diesem Schwur eine ganz besondere Feierlichkeit, mein Kind, – schwöre ich Ihnen, daß ich durchaus stolz und glücklich bin, in mir eine Freude entwickelt zu fühlen in Berührung mit dem Leid, das geheiligt ist, wenn es freiwillig ist oder doch würdig getragen wird. Eine fast göttliche Empfindung der Freude ist es, die sich ihres reinen Ursprungs bewußt ist, einer souveränen Genugtuung über die Kraft meiner Entsagung, – ein Stolz, möchte ich sagen, darüber, daß ich durch meine Aufopferung im erhabenen und schöpferischen Willen das Glück oder wenigstens den Frieden jener Geschöpfe um mich her gesichert habe, die mir teuer waren. Ich fühle mich ganz anders stark, als Sie, die Sie nur für sich selbst kämpfen, daß ich für jene gekämpft und gesiegt habe. Sie werden vielleicht Ihre Befriedigung finden: ich habe die Befriedigung jener erobert und habe sie ihnen gegeben. Das Weib, das den Hochgenuß des Opfers nicht kennen gelernt, wird nie das gekostet haben, was es Bestes auf Erden gibt und vielleicht darüber hinaus. Geben, sich geben, das ist der Inbegriff von Seligkeit. Und ich bedaure Sie, Stella, o, ich bedaure Sie von ganzer Seele, wenn Sie nicht eines Tages dem Schmerze begegnen werden, der die nüchterne Härte Ihres Herzens brechen wird, um daraus die unendliche Quelle einziger Glückseligkeit sprudeln zu lassen.“

„Ich danke Ihnen, Miß,“ erwiderte das junge Mädchen kalt; „aber ich hoffe niemals dem Hammer zu begegnen, der auf diesen Felsen schlagen wird.“

Und das junge Mädchen berührte mit leichtem Finger die Stelle, wo ihr Herz schlief.

Sie verblieben einen Augenblick in Schweigen, um den inneren Tumult ihrer heftig erregten, aufgewirbelten Gedanken sich beruhigen zu lassen, wie im Kielwasser eines Schiffes die Wogen sich türmen und glätten. Sie wechselten noch gleichgültige Worte, um die Zeit auszufüllen und der Verlegenheit einer vollen Verstummung auszuweichen. Die Miß versuchte, ostentativ ein Heft der englischen Schularbeiten durchzublättern: aber Stella wendete das Haupt zur Uhr, die von dem sentimentalen Museum der Nippsachen auf dem Kamin umgeben war.

Die Miß sagte:

„Sie wissen ganz gut, daß ich zu früh komme. Aber einerlei, gehen wir.“

VIII.

Seit dem Ball auf der Präfektur hatten sich Alice von Werner und Stella nicht unter vier Augen gesehen: Alice schmollte.

Jeden Dienstag, an welchem sie auf den Besuch der Damen Ellissen rechnete, richtete sie es so ein, von einer Gruppe junger, an ihre Rockfalte gehefteter Leute umringt zu sein, getrennt von ihrer übermütigen Freundin. Aber die Damen Ellissen ließen auf sich warten, und während dieser paar Wochen wurde Alicens Brautstand besiegelt. Der schöne Fernand hatte seinen offiziellen Antrag gestellt und wurde angenommen, und der Groll Alicens zum triumphierenden Gefühl gewandelt, nahm sein Ende. Es blieb ihr nur noch der Wunsch Stella wiederzusehen, um ihr mit schadenfroher Freude den Sieg zu verkünden. Sie hoffte innig, daß dieser Dienstag nicht wie die anderen vorübergehen würde, denn Frau von Ellissen konnte nicht wohl, ohne unartig zu sein, ihren Besuch länger hinausschieben. Die andern Familien hatten schon alle ihren Kratzfuß gemacht. Für heute, als letzten Termin, wurde nur noch der Adel erwartet.

Frau von Werner thronte gewappnet in einer Pariser Toilette dernier cri – perlgrauer Sürah Liberty – in ihrem Salon. Die Zierde dieses offiziellen Raumes schienen einzig und allein Blumen und Pflanzen etwas gewöhnlicher Art auszumachen, aber riesengroß und auffallend. Frau von Werner erging sich eifrig in Ausführungen über die Aufzucht und die Kultur der Pflanzen und bemühte sich mit gespreizter Liebenswürdigkeit, Interesse an dem einzigen Geplauder zu nehmen, das diesen Provinzlern zur Verfügung stand. Sie bat sogar Platz zu nehmen: darüber allerseits eitel Freude.

In dem kleinen anstoßenden Salon, der mit dem andern durch eine weitgeöffnete Flügeltür verbunden war, vereinigten sich die bei ihrer Ankunft von Alice sogleich mit Beschlag belegten jungen Mädchen. Dort plauderte man in freierer Art unter hellem Lachen, das zu dem ernsten, monotonen Gespräche der Mütter die begleitende lustige Musik zu bilden schien.

Alice, weniger feierlich, befleißigte sich nicht des von Frau von Werner absichtlich verscheuchten Entgegenkommens, sie dominierte und herrschte, mit aller Ruhe, durch ihre Überlegenheit des intelligenten Mädchens, mit imponierender Ungezwungenheit. Man riß sich um sie, suchte sich ihr zu nähern, bewunderte sie in etwas grotesker Weise, um ihr nachzuahmen. Aber nur wenigen gelang es: ihre beste Schülerin darin war noch Stella Ellissen. So wurde auch die Freude der kleinen Mädchen nicht früher vollständig, als bis die beiden jungen Mädchen, Aug in Aug, ihre Retourkutschen hin und herfliegen ließen, oft im Pariser Jargon, den die andern nicht kannten, aber applaudierten als verstünden sie ihn. Eine ihrer gewöhnlichen Klagen war die Abwesenheit der Herren, denen ein Provinzbrauch den Zutritt in diesen Winkel versagte. Ein Brauch, den zu brechen gefährlich gewesen wäre.

Alice von Werner war in der Großstadt erzogen worden, in einem sehr gemischten Milieu. Ihr Vater, Sohn eines bäuerlichen Grundbesitzers, hatte sich im Kielwasser eines einflußreichen Abgeordneten und mehrmaligen Ministers auf die Politik geworfen; dieser behielt ihn als Sekretär an seiner Seite bis zu dem Tage, an dem er ihm eine wichtige Präfektur zu verschaffen in der Lage war. Die etwas dunkle Herkunft des Herrn von Werner hatte ihm nicht gestattet, seinen Weg in der Gesellschaft ebenso leicht zu machen, wie in der Politik. Eine gewisse Schüchternheit war ihm geblieben, welche ihn an den Verkehr geringerer Beziehungen bannte.

Bis zu ihrem fünfzehnten Jahre erhielt Alice zwischen den sehr verschiedenartigen Freunden der Familie von Werner eine oberflächliche Kenntnis aller jener Fragen, die die Großstadt von oben bis unten bewegen. Sie entwickelte sich unter dem minderwertigen Einfluß oberflächlicher Reden, erwarb die banale Kunst, von allem und über alles zu sprechen, von Theaterprinzessinnen, den modernen Ideen, von der Politik, den Sitten und einer ihrem Geschmacke angepaßten Moral, die sie sich zwecks Benutzung ihrer persönlichen Freiheit zurechtlegte, und als sie ihren Eltern in die Provinz folgte, brachte sie den gefährlichen Keim ihrer bedauernswerten Erziehung dahin mit, der in der seltsamen Energie ihres Temperamentes schnell Wurzel schlug. Jetzt war sie ein hübsches Mädchen voller Güte, nervös, leidenschaftlich, mit einschmeichelnden, etwas katzenartigen Manieren, unter einer gewissen tragischen Maske.

Für Fernand von Eulenburg hatte sie eine heftige Leidenschaft gefaßt und erwiderte unverzüglich die ersten zerstreuten Annäherungen des jungen Mannes, der nur einen bequemen Flirt suchte, um seine Zeit auszufüllen. Bald aber war es ihr gelungen, der Sache eine ernste Richtung zu geben. Eulenburg gehörten dem herabgekommenen Adel der Umgebung an. Durch den wenig skrupulosen Ehrgeiz seiner Familie in den Staatsdienst verwiesen, hatte er die niedrigeren Stellen der Unterpräfekturen rasch genug durchlaufen, um dann auf den Posten eines Generalsekretärs zu gelangen und noch bessere Aussichten im Auge zu haben. Der Protektor, den man für ihn geangelt, war eben jener Abgeordnete und mehrmalige Minister, der sich das Fortkommen von Werners zur Aufgabe gemacht.

Alice erklärte dem schönen Fernand die Vorteile einer Heirat, die gleichzeitig reich und so zu sagen in jeder Richtung entsprechend wäre. Er ergab sich, ohne großen Kampf; die Beute war schön. Aber die Gefährlichkeit der Lage war in erster Linie in seinem unbeständigen Charakter gelegen. Er war ein hübscher Junge, hatte hellbraunes Haar und jenen südlichen Typus, der mit dem glänzenden Haar das auffallende Weiß der Haut und die lebhafte Färbung der Wangen vereint und der Augen und Zähne erglänzen läßt, wie die Farben eines Lichtdruckes; er war groß und schlank, mit einer natürlichen Eleganz, welche das Provinzleben in eine gewisse Nachlässigkeit, die nicht ohne Anmut war, verwandelt hatte.

Er kleidete sich gut, wenn auch mit auffallend englischem Geschmack; aber die einfache Vornehmheit seiner Haltung milderte die etwas übertriebenen Nuancen, welche in dem Provinzmilieu nicht richtig verstanden wurden.

Er war sehr begehrt, viel geliebt, wie er wohl merkte, und widerstand den zahlreichen Verführungen. Die Art seiner Schönheit, seine liebenswürdigen Manieren verwirrten die Frauen.

Alle sprachen sie von ihm, hinter dem Fächer, mit geheimnisvollem Lächeln. Doch mißfiel ihm dieses Leben keineswegs; er hätte es noch länger fortgeführt, als er sich plötzlich vor eine Heirat gestellt sah, deren Ablehnung seine Karriere möglicherweise unterbunden hätte. Er hatte außerdem auch gar keinen Grund, um sich ihr zu entziehen. Frau von Eulenburg, die Mutter, die gleichfalls entzückt war, kam eines Tages in ihrem alten sehr heruntergekommenen Wagen, um Alicens Hand zu erbitten, liebenswürdig und herablassend, wie jemand der weiß, das er mit aller Rücksicht, die ihm zukommt, empfangen werden wird. Ihr schwarzes Kleid mit geblümten Muster und unmodernem Schnitt, – es stammte noch von ihrer Aussteuer, – schien in jeder Falte von verflossenem Glanz zu sprechen, der jedem falschen Luxus moderner Toiletten dadurch trotzte, daß er ihn verachtete. Sie grüßte Frau von Werner auf altmodische Art, ein wenig ungewohnt, aber die vollkommene Korrektheit ihrer Sprache hielt den Spott der Dame der großen Welt im Zaun. –

Frau von Eulenburg wollte gern entzückt von ihrer künftigen Schwiegertochter erscheinen, die sie mit einem Blick richtig gewertet hatte; sie behielt sich aber vor, ihr später das heilsame Sturzbad ihrer Ratschläge zu teil werden zu lassen.

Da Eulenburg nun glücklicher Bräutigam war hörte er auf, Alice öffentlich den Hof zu machen; er überzeugte sie freundschaftlich von dem Unpassenden einer allzuzärtlichen Haltung, und das junge Mädchen ergab sich, scheinbar sehr willfährig, im Grunde genommen fand sie es einen unnötigen Zwang. Aber die Entschädigung, der sie entgegensah, ließ sie doch einen gewissen Ernst in der Haltung bewahren; auch versprach sie, sich weder jetzt noch jemals von den Liebenswürdigkeiten, die Fernand für andere Frauen übrig hatte, und die wie er behauptete unerläßlich waren, um vorwärts zu kommen, beirren zu lassen. „Notwendige Höflichkeit“ wiederholte er ihr und sie, ganz aufgeregt durch ihren Sieg, ging so weit, daß sie sogar eines Abends Stella Ellissen ihren Flirt mit Fernand verzieh.

Als das junge Mädchen hinter ihrer Mutter erschien, streckte Alice ihr lächelnd die Hand entgegen. Stella, sehr erfreut, umarmte ihre Freundin und folgte ihr in den kleinen Salon, welcher für sie reserviert war. –

Als sie allein waren, sahen sich Alice und Stella an; die Braut blickte düster, Stella scharf und spöttisch.

Diese brach los:

„He! albernes Ding – kannst du mich nicht mehr leiden?“

„Ich, meine Liebe? Aber warum sollte ich dich nicht mehr leiden können? Ich bin die Glücklichste aller Sterblichen!“

„Also ist alles in Ordnung?“

„Alles … ich bin verlobt … ich bin Braut …“

„Meine Gratulation, meine Liebe, wenn du nur glücklich bist.“

„Das wäre noch schöner, wenn das nicht der Fall wäre.“

„Nun, das kommt auf den Geschmack an.“

„Mein Geschmack ist dem deinen gerade entgegengesetzt.“

„Bis zu den Antipoden, meine Kleine.“

„Du Duckmäuserin.“

„Nein wirklich! Du bildest dir ein, daß ich in deinen Fernand verliebt bin?“

„Nun … es schien so.“

„Du bist ein Dummchen! Also du hast nichts verstanden?“

„Was verstanden?“

„Du bist nicht so schlau, wie ich gedacht habe. Ich habe an dem Abend deinen Fernand genommen, weil ich einen anderen ärgern mußte.“

„Welchen anderen?“

„Meinen Bräutigam, meine Liebe!“

„Nein … du … du auch! Oh! welches Glück.“ Alice stürzte sich ganz entzückt auf Stella um sie zu umarmen.

„Du darfst nichts davon wissen, … es ist noch nicht offiziell. Ich sage es dir nur im Geheimen, denn wir verraten einander doch nicht, nicht wahr?“

„Oh! Du glaubst nicht, Stella, wie glücklich ich bin, daß auch du verlobt bist, so können wir ganz aufrichtig aussprechen, uns alle unsere Gedanken mitteilen … hat er dich geküßt … wie hat er dich geküßt … sag rasch … ich möchte nämlich wissen ob …“

„Ich habe dir gesagt, es ist noch nicht offiziell.“

„Ja, es ist wahr … nicht wahr, es ist der Baron Seuriet..?“

„Er in seiner ganzen Größe..!“

„Ich glaubte aber, daß er dir nicht gefiele.. du sagtest doch..“

„Ach Liebste … ich bin nicht für die großen Leidenschaften … er mißfällt mir nicht und das genügt mir..“

„Ach richtig, du bist ja kalt wie Eis. – Ich nicht, ich brenne. Aber lasse es nur gut sein, das wird noch kommen.“

„Ich glaube kaum.“

„Gewiß … wenn du ihn … weißt, du es ist ja ganz etwas anderes … hat er dich schon umfaßt? Sag’?“

„Du, ich fürchte, das wird mir überdrüssig.“

„O! Du Unschuld! Wenn du wüßtest, was ich weiß?“

„Ach, du bist ja wie elektrisiert von deinem Fernand?“

„Ein verliebtes Haus, meine Liebe! O! seine Hände, die bleiben nie ruhig! – Aber Fred – wie ist denn der so plötzlich in dich verliebt geworden? – Man hat ihm doch gar nichts angesehen. Du hast mir ihn immer so kühl geschildert?“

„Ach, du weißt ja … seine großen Talente! Solche Menschen sind immer mehr mit ihrer Kunst beschäftigt, als sie plaudern würden. Das ist nicht wie bei Politikern, – … … Und das gefällt mir eben. Ein Mann, der immer hinter mir her wäre, den würde ich bald spazieren schicken. Im Gegenteil ich würde entzückt sein, wenn er den anderen Frauen ein bischen den Hof machen würde.“

„Ich nicht,“ protestierte Alice energisch. „Ich gestehe dir sogar, daß mich Fernand in dieser Hinsicht erschreckt. Er fühlt sich verpflichtet mit Allen liebenswürdig zu sein, und ich komme darüber in Wut.“

„Was für eine Eifersucht! Lache doch darüber.“

„Ich leugne es auch gar nicht – ich will ihn ganz allein für mich haben und nicht für die anderen. Wenn ich daran denke, daß er mich je einmal betrügen könnte … mir wird jetzt schon schwarz vor den Augen.“

„Brrr! … Gleich ein Drama! Das wird ihm in seiner Stellung schaden.“

„Wenn ich einmal verheiratet bin, … liegt mir gar nichts am Avancement.“

„Fernand wäre sicher nicht zufrieden, wenn er dich hören würde.“

„Ich sage es ihm ja auch nicht … das kannst du dir doch denken.“

„Ja, gib acht, daß er nichts davon merkt … siehst du, da kommt er eben.“

Eulenburg blieb ein wenig im großen Salon. Kraft seiner Rechte als Bräutigam ging er auf die beiden jungen Mädchen zu, die dicht bei einanderstehend ihn kommen sahen. Lachend schritt er so weit vor, daß man sie vom Nebenzimmer aus nicht mehr sehen konnte, und umarmte dann beide gleichzeitig. Stella drückte er fest an sich und Alice schlang er seinen Arm um den Hals.

„Nun, geniert Euch nur nicht,“ sagte Stella sanft.

„Ach Pardon“ sagte er – „Sie sind beide so schlank, daß ich glaubte nur eine in Händen zu haben.“

Stella warf ihm, während sie ihrer Freundin den Rücken kehrte, einen schelmischen Blick zu.

„Meinen Glückwunsch, mein Herr!“ …

Alice rief lebhaft:

„Gratuliere ihr auch, Stella ist ja auch verlobt!“

„Wirklich!“ rief er erstaunt.

„Bist du aber eine Plaudertasche, Alice … ich habe dich doch um Geheimhaltung gebeten!“

„Ist es wirklich wahr … gnädiges Fräulein?“

„Wie die Heirat selbst, … wie das Amen im Gebet“ … erwiderte Stella lachend.

„Aber du … Fred ist ja gar nicht hier … oder ist er schon zurückgekommen?“

„Ja … es ist … sicher … das Weitere kümmert Euch nicht. – Fred war weg … er ist schon da … oder kommt heute.“

„Ach! Fred ist der Glücklichste … aller Sterblichen,“ setzte er mit beinahe scharfer Stimme hinzu. –

„Man darf absolut nicht wissen wer er ist!“

„Gut, gut,“ antwortete das junge Mädchen, das mehr damit beschäftigt war ihren Bräutigam zu betrachten, als sich für irgend etwas Anderes zu interessieren. „Deine Befehle sollen befolgt werden. Nicht wahr Schatz?“

Fernand ergriff die Hände seiner Braut, und begann ruhig, ihre Fingerspitzen zu küssen. Dabei zeigte er eine Miene, die mehr nach Gewohnheit als nach Überzeugung aussah.

Indessen betrachtete ihn Stella neugierig und als er erriet, daß sie auf seine schweigsame Unbeweglichkeit aufmerksam geworden war, setzte er, sich selbst übertreffend, seine Tätigkeit fort.

„Alice“ rief Frau von Werner, „komme die Damen begrüßen. –“

Sehr verwirrt stürzte das Mädchen fort, und ließ die beiden allein.

Sogleich neigte sich Fernand zu Stella.

„Ist es denn wahr, wirklich wahr?“ fragte er mit einem beinahe traurigen feurigen Blick.

„Wie … wahr … wovon sprechen Sie?“ fragte Stella.

„Sie werden sich verheiraten?“

„Ja, mein Lieber … es ist das traurige Schicksal, das doch den meisten beschieden ist.“

„Aber Sie, Sie müssen doch nicht … Sie?“

„Wie Sie?“

„Nein, intelligent und stark, wie Sie sind, haben Sie das Recht und die Pflicht frei zu bleiben.“

„Werde ich, nach Ihrer Meinung, wenn ich verheiratet bin weniger frei sein?“

„Oh! Sie verstehen mich wohl! Sie! Sie! Sie heiraten ohne Liebe, denn Sie lieben diesen zukünftigen Gatten nicht! O! sagen Sie mir Stella, daß Sie ihn nicht lieben!“

„Ich liebe augenblicklich Niemanden. Und daß ist sehr bequem, glauben Sie mir, um seinen Weg in der Welt zu machen. Später dann, wenn ich es mir im Leben nach meinem Geschmack und nach meinen Ideen eingerichtet haben werde, werde ich ja sehen! Aber Sie selbst, wie mir scheint machen es ebenso wie ich.“

„Ja, bei einem Mann ist das etwas Anderes.“

„Wirklich! Jetzt wollen Sie Unsinn reden. Nun gut! Umso schlimmer, daß ich will, daß es „nichts Anderes“ sei. Was wollen Sie? Ich fühle mich Ihnen gleichwertig und beanspruche dieselben Menschenrechte. Es hat mir nie einleuchten wollen, daß ich Sklavin eines Menschen sein sollte. Ich gehe geradeaus durch das Leben, ohne mich durch konventionelle Dummheiten beirren zu lassen. Die Ehe, die ich eingehe, gefällt mir, ohne Zweifel, weil sie meinem Naturtrieb schmeicheln und meine Freiheit nicht fesseln wird. Ach, ich würde mir niemals einen wild eifersüchtigen Wächter nehmen.“

„Wie Alice, nicht wahr?“

„Da geben Sie nur acht!“

Sie lachte, er zuckte die Achseln, und lachte auch. „Die eifersüchtigen Frauen sind am leichtesten zu beruhigen. Glauben Sie vielleicht, daß ich die Absicht habe mir mein Leben verderben zu lassen? Gewiß nicht!“

„Das sind Illusionen, mein Lieber … das werden Sie bald bemerken.“

„Aber“ protestierte der schöne Fernand. „Sie hat mich noch nicht ganz in der Tasche.“

„Aber sehen Sie doch! Seien Sie aufrichtig gegen mich. Sie nimmt das Leben von der praktischen Seite, und Sie wären sehr dumm, wenn Sie das nicht ausnützen und die Vorteile die sie Ihnen mit ihrem Gelde bietet, annehmen würden. Aber betreiben Sie Ihr Spiel klug und mit Vorsicht.“

„Sie sprechen wie eine Freundin, meine liebe Stella. Wie schade, daß Ihr Herz nicht so entwickelt ist, wie Ihr Verstand!“

„Weil …“ sagte sie nervös, ihm liebevoll in die Augen blickend.

„Weil …“ wiederholte er, … aber warum … Sie lieben doch Niemanden … sagten Sie?“

Sie lächelte.

„Also gebrauchen Sie keine Ausflüchte, haben Sie zum mindesten den Mut Ihre Ideen und Ihre Handlungen zu verteidigen. Ich habe den Mut dazu!“

„O! Sie sind ein herrliches Mädchen“ seufzte Eulenburg. Er versuchte, sich Stella zu nähern und ergriff ihre Hand.

Stella blieb ruhig und blickte ihm scharf in die Augen. Er sagte leise:

„Sie sind zu schön! Sie machen mir Angst!“

„Angst … vor was?“

Er hielt ihre Hand krampfhaft fest: „Angst, daß ich den Kopf verliere!“

Er erwartete, daß sie abwehren würde, was jedoch nicht geschah. Dann beugte er sich fast mechanisch über Stellas Hände und begann geschickt das Geschnäbel, daß er so eben an den Händen seiner Braut geübt hatte.

Einen Augenblick ließ ihm Stella fast mit Genuß gewähren, als ob sie die Stimme seiner Gefühle vernähme. Dann entzog sie ihm mit entschlossenem Ausdruck ihre Hände.

„Hören Sie doch auf! Das ist albern, was Sie da tun! Wenn Alice zurückkäme?“

Er hörte auf und griff mit der Hand nach dem Knoten seiner Kravatte.

„Sie gehen zu weit!“ sagte sie beinahe ärgerlich. „Versuchen wir doch ernst zu sein, ja?“

Er antwortete kalt:

„Sie haben Recht.. ich habe vergessen, daß Ihre Hände schon einem Anderen gehören.“

„Ja.“

Der schöne Fernand war bei seinem Flirt gestört worden. Er seufzte, und begann den Angriff auf einen anderen Punkt.

„Ich werde mich fügen“ sagte er, „weil Ihr grausamer Wille es von mir verlangt. Aber lassen Sie mich nicht verzweifeln … versprechen Sie mir … schwören Sie mir ? daß wir Freunde bleiben … trotz alledem … ja, wollen Sie, Stella?“

„Aber ich sehe darin nichts Unpassendes,“ antwortete sie. „Warum sollte der Mann meiner besten Freundin nicht mein Freund sein?“

„Aber ein Freund … Stella … ein Freund, dem man sich anvertraut … O! Die Zärtlichkeit eines erlesenen verborgenen Gefühls, das man nur allein kennt … welch ein Trost in der Bitternis des Lebens!“

„Wer sagt Ihnen, daß unser Leben bitter sein wird? Das Leben ist so wie man es sich gestaltet … und ich will, das mein Leben glücklich sein soll … ich werde es mir glücklich gestalten.“

„Ich auch!“ rief Fernand entschlossen. –

„Bravo!“

„Und wir werden also künftig sehr gut befreundet sein. Wir werden uns oft sehen?“

„Zu vieren.“ antwortete Stella.

„Gut; was geht uns die Anzahl jener an, die ärgerlich sind, wenn das Herz sich abwendet.“

„Aber sagen Sie doch, Fernand, wenn Alicens Herz auch darauf verfallen würde … sie … auch .. sich abwenden würde?“

„Das wäre … mir nur angenehm“ vollendete er ungeniert.

„Hm!“ sagte sie empfindlich, mein Verlobter ist ein reizender Mensch … und es wäre möglich … …

Fernand erwiderte: „Umso besser!“

„Nur“ antwortete Stella „er ist nicht … sehr.. lustig … nicht sehr gesellig.“

„Prächtig! Er wird das Haus hüten und wir …“

„Pst! Alice!“

Das junge Mädchen kam gelaufen … sie rief den beiden entgegen: „Was treibt Ihr?“

„Zukunftspläne, meine Teure,“ entgegnete Stella „wie es sein wird, wenn wir verheiratet sein werden.“

„Wer!“ sagte sie plötzlich und sah auf die Uhr, „es ist spät..“ „Mira wird böse sein, wenn wir so spät kommen … auf Wiedersehen … meine Freunde!“


IX.

Mit fieberhafter Ungeduld erreichte Fred den heimatlichen Boden.

Er bereute damals, abgereist zu sein … aber hätte er denn bleiben können?

Hätte er nicht in Zukunft seine Besuche einschränken müssen, auf das geringe Glück, Mira täglich einen Augenblick zu sehen, verzichten müssen, ihre zarten Hände nicht mehr heimlich küssen dürfen?

Was blieb ihm anderes übrig, als den Schmerz zu ertragen, und in der Einsamkeit zu leben, da seine Liebe und der Wille von Frau von Ellissen ihm das auferlegten?

Wäre es nicht besser dieses ferne Land zu verlassen, wo er doch keinen Trost finden konnte?

Wenn Mira wenigstens mit gewesen wäre, um ihn zu trösten. Er hatte sich so sehr daran gewöhnt, alles von ihr zu empfangen, Mut, Hoffnung, die Richtung jeder seiner Handlungen! Er hatte bei ihr so gern auf sein eigenes, so schwaches Wollen verzichtet! Ihm fehlte die Erfahrung um nachzudenken, zu urteilen und selbst zu entscheiden. Seine traurige Kindheit, seine dahin geopferte Jugend hatten ihn stets gehindert, seine Willenskraft selbstätig auszuüben. Er war unfähig – ohne seine Retterin – mit seinen entfalteten seelischen Kräften zu handeln.

Fred, fühlte sich, fern von ihr, sich selbst überlassen, und begann zu sinken, wie ein Mensch, der mit geschlossenen Augen und verschränkten Armen sich verzweifelt ertränkt.

Aber Mira konnte ihn nicht verlassen.

So gleichgiltig sie gegen sich selbst war, hatte sie sich nicht, was ihn betraf, zu heroischer Tapferkeit aufgeschwungen?

Gewiß, keine übelwollenden Auslegungen und auch kein ungerechter Zorn, besonders nicht von Stella, konnten ihn erschrecken, aber konnte er erlauben, dulden, daß sie seinetwegen Qualen erleiden mußte? An ihm war es, das notwendige Opfer zu bringen.. sich von ihr zu trennen!

Er verzweifelte bei diesem Gedanken. Sein Gang war unsicher auf dem weiten Weg nach Hause.

Wie grausam war das Leben! Dieses Leben hatte sich so ganz anders gestaltet, dieses zusammenhangslose unordentliche Leben, verächtlich wie ein Glückspiel! Dieses Leben von dem man sagt: O! wenn man es doch noch einmal beginnen konnte! Aber man kann es nicht wieder beginnen. Man lebt es zu Ende wie eine Maschine, feig oder heroisch, je nach dem Maß von Kraft, über welches man verfügt. Und er zeigte sich feig, feig, immer gleich bereit ein Ende zu machen. Anstatt die Ereignisse herauszufordern und zu bekämpfen, erwartete er sie und ließ sie über sich ergehen.

Bei diesem Punkt seiner inneren Betrachtung wuchs seine Verzweiflung bei dem Gedanken, daß seine Kunst infolge seines Charakters fortwährend im Sinken war.

Weit entfernt davon, von der verzweifelten Energie erfüllt zu sein, welche allein zum angestrebten Siege führt, war er Zufällen preisgegeben, äußeren Einflüssen, dem Übelwollen der Neidischen und seiner eigenen Entmutigung. Aus sich selbst heraus konnte er nicht vorwärts kommen. Und doch fühlte er die Flamme schöpferischer Inspiration in sich glühen. Er wußte es, daß er in sich die Möglichkeit trug, einen neuen und machtvollen künstlerischen Ausdruck zu schaffen! Manchmal erfaßte ihn ein brennender Wunsch mit seiner genialen Sprache die erwartete Formel hinauszurufen.

Langandauernde Schauer erschütterten ihn, als ob eine unsichtbare Hand sein Wesen in seinen Grundfesten aufrütteln würde, ihn vorwärts schleudern würde, gleich einem Thyrsusstab, und ihn gleich einem Gotte dem Rythmus übermenschlischer Harmonien unterwerfen würde.

In diesen heiligen Minuten, die schmerzhaft und göttlich zugleich waren, unterwarf er sich dem Aufwallen seiner Seele, und stürzte sich in die eigensinnigste Arbeit, ohne die jede Inspiration vergeblich ist.

Wenn ihm aber irgend ein materielles oder moralisches Leid in den Weg kam, sanken gleich die versengten Schwingen leblos, kaum zitternd im Todeskampfe, zurück. –

„Ich bin ein Unglücklicher“ murmelte er dann.

Ich kann nur in einer Atmosphäre von Liebe leben, schaffen, bestehen. Und ich bin einsam … so einsam!

Er küßte den Brief von Frau von Ellissen wie wahnsinnig. Der Inhalt des Briefes verwirrte ihn. Zum ersten Male rief sie ihn zu sich, – – am Abend – –, und in welchen Ausdrücken! „Unauffällig“ … zu welcher Stunde immer! … Er las und las wieder, und ein Gedanke faßte Wurzel in ihm. Sein Herz schlug freudig, mannigfache Bilder jagten ihm von Schwindelanfällen unterbrochen durch den erregten Kopf.

Mit einem Schlage verwandelte sich seine Hoffnungslosigkeit in schwärmerische Freude.

Wenn dies alles eine Entscheidung Miras bedeuten sollte, einen schnell gefaßten Entschluß, endlich der Stimme der Liebe nachzugeben? Wenn sie ihn annehmen würde, wenn sie ihm die erhabenen Worte sagen würde: „Fred ich liebe dich. Ich werde die deine sein!“

Da sich Mira entschlossen hatte, ihn in der Nacht zu empfangen, … allein! Konnte er daraus eine andere Absicht ersehen?

Er empfand plötzlich das Gefühl, als ob seine Brust an dem liebeglühenden Körper Miras, die sich ihm hingab, ruhen würde. Er breitete rufend die Arme aus, und preßte sie, als er wieder zu sich kam, auf sein Herz.

Endlich entströmten Tränen der Freude und Wollust seinen Augen und benetzten ihn wie der Morgentau.

Und er kehrte tatsächlich nach Hause zurück; seine Stunde war gekommen. Seine lebhafte Einbildungskraft räumte alle bangen Sorgen mit einem einzigen Schlag aus dem Weg.

Als er in der Stadt ankam, traf er Frau von Kannenberg. Sie bat Fred zum Tee zu kommen. Sie war erfreut, ihn nach so langer Zeit wiederzusehen.

Fred nahm an. Was wollte er auch von 4 Uhr Nachmittag bis zum Einbruch der Nacht beginnen? So verging wenigstens die Zeit schneller!

Die Rouleaux waren herabgelassen. Weit weg von dem Fauteuil, in dem Frau von Ellissen ruhte, stand die kleine Lampe mit dem rosa Spitzenschirm. Sie verbreitete einen schwachen Schein, ähnlich der Helligkeit der Nachtlampe eines Krankenzimmers. Diese Beleuchtung war einladend zu sanftem Hindämmern, zum Stillsitzen, ohne sich zu regen, zum Dämpfen der Stimme, zum Flüstern halb zu erratender Worte. Kein lautes Geräusch schien hier möglich, ebensowenig als man es sich einfallen ließe, im Halbdunkel einer Kapelle zu schreien.

„Ich werde ihm sagen … ich werde ihm sagen, ja, daß mein Herz mein ganzes Wesen ihm gehört,“ wiederholte sich Mira. Er wird mir antworten, daß ich grausam bin.

Plötzlich ertönten scharf markierte Schritte auf den Fließen des Vorzimmers und die Türe wurde leise geöffnet.

Frau von Ellissen erschrak heftig und stieß einen Schrei aus.

„Ich bin es, falle nicht in Ohnmacht!“ sagte Stella während sie eintrat.

„Ach!“ sagte die junge Frau, und sah das Mädchen mit erschreckten Augen an.

Stella sprudelte gleich los:

„Fred ist angekommen … aber frage nur nicht, wo er ist! … Fred … ja, wo ist Fred? Ich habe ihn eben zu Kannenbergs hinaufgehen gesehen … ah das ist also sein erster Weg, … und nicht zu uns?“

Die junge Frau wußte wohl, daß sie ihn geschrieben hatte, er solle in der Nacht kommen, daß Niemand davon wissen solle, damit er ohne Aufsehen kommen könne!

„Sie doch, Stella, überhäufe mich nicht gleich mit Vorwürfen. Er wird schon kommen. – Und übrigens ist es denn meine Schuld?“

„Doch, ja, es ist deine Schuld! Ach! das machst du gut! Hättest du nicht so lange gezögert! … Hättest du mit ihm gesprochen, als ich es dir gesagt habe! Dann wäre er da! Ich wäre schon verlobt, und unser Leben wäre schon im ruhigen Geleise. Jetzt aber ist er vielleicht für mich schon verloren, und ich muß vielleicht einem Anderen nachlaufen. Denn ich will unbedingt jetzt heiraten. Wer weiß, ob nicht eine von den Kannenbergs jetzt auch in Italien war und für mich jetzt alles verloren ist. Du siehst, daß sein erster Weg zu ihnen war.“

„O, mein Gott!“ stöhnte die junge Frau, das Gesicht in den Händen verbergend. Wenn es wahr wäre, daß Fred … von ihr zurückgestoßen … sich an ein anderes Herz geklammert hätte? … daß er sich aus Ärger, um sie zu verletzen, zu quälen, in ein Abenteuer verstrickt hätte, das ihn von ihr auf ewig trennte? … Wie entsetzlich! Ihn zu verlieren ohne den bitteren Trost, ihn wenigstens durch die Fesseln der Pflichten, … mütterlicher Pflichten … wiederzufinden! So grausam diese auch wäre, ein Schimmer von Freude war doch am Grunde des Leidenskelches … Aber ihn vollständig verlieren! … Ihn niemals wiedersehen! …

Sie regte sich wahnsinnig auf. Trotzdem sie geglaubt hatte, daß sie niemals von einer tieferen Trauer hätte ergriffen werden können, wurde sie jetzt inne, daß ihr früheres Leid nur eine Freude war, im Vergleiche zu den Schrecknissen, die sie nun kommen sah –

Ein instinktiver Gedanke bemächtigte sich ihrer. Sie mußte mit Stella vereint kämpfen, um Fred für sie beide zu erlangen. Sie rief fast in Tränen ausbrechend:

„Was tun? Sage es mir, mein Gott!“ –

Während Fred zurückkehrte, zügelte er seine Sehnsucht, unaufhaltsam vorwärts zu eilen. Nein, er wollte nicht, daß andere von der köstlichen Stunde, die Mira ihm versprochen hatte, erfahren sollten. Er würde warten, bis alles schlief, und sie allein wäre, ganz allein mit ihm, dem Liebenden, dem Gatten …

Lautlos, im Verborgenen wollte sie ihn treffen, bei flüsternden Worten, Lippe … an Lippe! …

Wie die Zeit lang wurde! Er füllte sie in etwas kindlicher Weise damit aus, daß er sich ankleidete, wie für ein Fest. Sogar ein Jasminsträußchen steckte er sich ins Knopfloch.

Dann dachte er daran, daß er immerhin schon um den Park herumstreifen, dem Spiel der Lichter, die allmählich ausgelöscht würden folgen konnte, um dann schließlich hinter den Scheiben von Miras kleinem Salon das Licht der verschleierten Lampe aufflammen zu sehen, welches ihm sagen würde, daß sie da wäre.

Er ging fort. Die dem Hause zunächst liegende Tür des Parkes … die Türe beim Eichenrondeau hatte er geschlossen, aber nicht zugeriegelt gefunden. Er ging und schlich zwischen den Schatten umher, die der große noch tief am Himmel stehende Mond längs den Hecken verbreitete. Er verbarg sich hinter dem Gebüsch, erschreckt durch das leise Geräusch von Schritten, lauschte mit nervöser Angst, daß er von den Spaziergängerinnen, die sich manchmal verspäteten, gehört werden könnte. Vorsichtig erreichte er so den Rand des Gehölzes und blieb dort regungslos im Schutze eines Baumes. Noch niemals hatte er die Sensationen einer so romantischen Ankunft zu einem nächtlichen Rendez-vous empfunden; er genoß sie als prickelnde ganz ungewohnte Freuden, in seinem so sittsamen Leben. Eine köstliche Erregung verzehnfachte seine Erwartung. Sein junges Blut pochte in seinen Adern, da es nun das leidenschaftliche Glück physischer Erregung empfinden sollte. Er war außer sich vor Freude über das sanfte Dunkel des Abends.

Das Fluidum des Mondes durchdrang ihn durch den Blättervorhang mit einem bis dahin unbekannten Gefühl eines unaussprechlichen Geheimnisses ..

Nicht einen Augenblick zweifelte er an den Wonnen, die ihm zuteil werden sollten. Nicht aus Ungeduld zählte er die Stunden, welche die Glocken des alten romanischen Turmes dort oben langsam von Viertel- zu Viertelstunde verkündeten. Er hätte von der Sehnsuchtswonne eines sicheren Wartens nichts verlieren wollen. Doch ließ er seine Blicke dahin und dorthin schweifen, um den Veränderungen der Lichter im Hause zu folgen. –

Die Fenster leuchteten in der Abendluft, die ganz von dem berauschenden Duft der Maienblüte erfüllt war und drin wurden die Vorschriften getroffen, um zur Ruhe zu gehen.

Bald erhellte sich Stellas Zimmer und eine schmale Silhouette mit wallendem Haar stützte sich mit den Ellenbogen auf das Fensterbrett und sah hinaus. Nicht lange. Sie entfernte sich, kam dann wieder, ging auf und ab, ging an dem Fenster vorbei und zeigte eine Aufregung, die sich nicht beruhigen wollte.

Dann trat langsam ein dichter Schatten dazwischen.

Fred erriet, daß Mira Stella veranlaßt hatte zur Ruhe zu gehen. Sie selbst kam ans Fenster, schloß die Fenster und er glaubte zu sehen, daß sie sich vorher ein wenig verneigte um die Alleen des Parkes auszuspähen. Er murmelte in großer Erregung: „Mira, Mira! … ich bin hier!“

Endlich erschien sie am Fenster ihres Zimmers. In diesem Augenblicke schlug es zehn Uhr. Sie zählte die Schläge, unbeweglich. Dann bei dem letzten verklingenden Schlag sank sie in einen nahen Fauteuil und Fred bemerkte, wie der nachdenkliche, abgewendete Kopf sich nicht bewegte, so als sie versuchen würde zu schlummern.

Wie ruhig sie in einem solchen Augenblicke ist, dachte Fred, enttäuscht, daß Mira sich nicht ebenso erregt zeigte, wie er. Er hörte sogar auf, sie anzusehen, denn diese Ruhe konnte er nicht ertragen und er begann wieder zwischen den geneigten Brettchen der Fensterläden hindurch, bei Stella die Bewegungen ihres Schattens, der sich noch immer nicht beruhigen wollte, zu verfolgen.

Eine unbestimmte Traurigkeit trübte seine Freude, er seufzte; er trug einen Groll im Herzen gegen all die Dinge die in seinem Leben so unharmonisch waren. Er fühlte etwas von der Enttäuschung, die ihm zuteil wurde, wenn er zu dem Text einer heiteren Melodie nur eine dumpfe, schwere, matte Begleitung hörte. Das, was an diesem Abend mit dem Frühlingslied, das in ihm klang und ihn bis in die Fingerspitzen erheben ließ, harmoniert hätte, wären köstlich verlaufende, gewandt gegriffene Arpeggien, bis in die höchsten Stimmlagen hinauf gewesen.

Und Mira … so unbeweglich … schlummernd? Endlich erlosch das Licht in Stellas Zimmer.

Jetzt war die Fassade des Hauses ganz dunkel, ausgenommen das viereckige helle Fleckchen, daß Miras abgewendeten Kopf umrahmte.

Das Schweigen wurde tiefer, als die große Mondscheibe hinter den Hügeln verschwand.

Fred verließ seinen geschützten Platz, und ging um das Gebüsch, das ganz von blühendem Flieder eingefaßt war, herum.

Es schlug elf Uhr. Er zitterte: Die Tür des Glasvestibuls öffnete sich unter dem langsamen Druck einer unsichtbaren Hand. Dann drang durch die Stores des kleinen Salons ein Licht hindurch.

Mit einem leichten Satz durchmaß Fred den Raum, der ihn von dem Hause trennte, trat durch die halboffene Türe ein, fand seinen Weg zwischen dem Grün, welches den Eingang umgab und schob leise die Portiere beiseite, welche die einzige Türe des Boudoirs sorgsam verhüllte.

Mira, die nicht gehört hatte, daß er sich näherte weilte hier. Sie saß in einem schwarzen geschlossenen Kleide ganz zusammengekauert, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, die Stirne in die Hände vergraben.

Das hatte Fred sich nicht vorgestellt, daß sie ihn so erwarten würde! Ein erkältendes Gefühl hielt den Schwung seiner Gefühle zurück. Er rief sich den Brief ins Gedächtnis, in der schrecklichen Angst, sich vielleicht getäuscht, vielleicht schlecht gelesen zu haben.

Seine Hoffnungen verflogen, alles brach zusammen. Er erwachte aus seiner trügerischen leidenschaftlichen Aufwallung mit jenem Stich im Herzen, der den Unglücklichen eigen ist, die sich falschen Hoffnungen hingeben und die, wenn die scharfen Krallen der Wirklichkeit sie anfassen, die früheren Leiden wieder empfinden.

Er flüsterte ganz leise, fast klagend:

„Mira!“

Die junge Frau richtete sich erschreckt auf, und erstickte einen Schrei.

Sie sahen sich sehnsüchtig, liebeglühend an, bestrebt die gegenseitigen Gedanken zu erraten. Aber Mira hatte sofort den Gesellschaftsanzug und das angesteckte Jasminsträußchen bemerkt.

So war es also wahr, was Stella gesagt hatte? Er kam von dort – – – von den Kannenbergs? Die Gefahr belebte sie. Sie machte ihm ein Zeichen.

Er näherte sich um zu den Füßen Miras niederzuknieen, wie er es sonst immer getan hatte. Sie hielt ihn aber durch eine Bewegung zurück.

„Sie haben meinen Brief in Rom erhalten? Und Sie sind gekommen … Fred! …“

„Ja, und, … und! …“

„Und Ihr erster Gang war zu Kannenbergs Mädchen? Sie haben sie aber sehr bald verlassen; es ist erst elf Uhr?“

„Ja Mira, ich war dort, die Ungeduld, die Stunden bis zur Nacht, … in der ich kommen durfte, … schnell vergehen zu lassen, Mira.“

„Sie hätten wenigstens die Blumen entfernen können.“

Und sie deutete mit der Hand nach dem Aufschlag seines Rockes. Er nahm die Blumen mechanisch haben. Den zarten und närrischen Grund, warum er sie so verklärt und so stolz angesteckt hatte, wagte er nicht zu gestehen: „Ich habe sie erst später genommen! Um meiner Liebe für Sie Ausdruck zu geben, der Freude Sie wiederzusehen, Sie, die mir Ihr zusagendes Wort gegeben hat!“

Die junge Frau schüttelte den Kopf:

„Ich stehe Ihnen doch wie mir scheinen will, nahe genug, daß Sie mich ein wenig zur Vertrauten hätten machen können?“

„Was hätte ich Ihnen anzuvertrauen, daß Sie nicht ebenso gut wüßten als ich?“ antwortete er traurig. „Ich war so unglücklich ohne Sie. O, so unglücklich, … so unglücklich!“ sagte er, den Kopf senkend.

„Kommen Sie zu mir, Fred, … ganz nahe zu mir, damit ich Sie ganz … so ganz bei mir habe … daß ich Ihre Augen sehe!“

Fred stürzte vor ihr auf die Knie und breitete die Arme aus, um sie zu umschlingen; aber sie faßte seine kühnen Hände und hielt sie fest in den ihren.

„Fred … Sie haben mich nicht mehr lieb?“

„O Mira! …“ Er barg seinen Kopf an Miras Brust und begann zu schluchzen. –

Die junge Frau wurde rot; ihre Nasenflügel bebten; ihre traurigen Augen bekamen wieder einen freudigen Glanz.

Fred war noch der Ihre! Man würde ihr ihn also nicht wegnehmen. Aber er war am Ende seiner Kräfte, der arme Fred … gequält durch die lange Dauer seiner keuschen Liebe. Also vorwärts! Sie brauchte nur ein wenig Mut in diesem letzten Kampf, damit der Geliebte, der in ihren Armen weinte, sich wiederaufrichtete … … als ihr … … Schwiegersohn!

Ihr Sohn! Sie versuchte sich von dieser unbefleckten Zärtlichkeit gefangen nehmen zu lassen; sie drängte ihre liebeglühenden Triebe heftig zurück; sie legte dieses Wort wie ein Siegel auf ihre Lippen um ihnen zu befehlen ihr Zittern zu beruhigen, das sie bei der Berührung mit diesem lieben weinenden Gesichte empfand, das auf ihrer Brust ruhte und über die Lauheit dieser Wiederbegegnung erblaßte. Sie rief sich zu, daß sie ihn nicht lieben dürfe … trotzdem umschlangen ihn ihre Arme mit unbewußter Heftigkeit, und umarmten ihn mit wahnsinnigem Druck, wie sie es sich erträumt hatte.

„Oh! Mira, hab’ Erbarmen! Hab’ mich lieb … rief Fred. Wenn du nicht mein sein willst, so jage mich fort, töte mich, aber mache mich nicht wahnsinnig! Du mußt mein sein … Mira … du mußt endlich mir gehören!“ … Und er stürzte sich über den erblaßten halbgeöffneten Mund der jungen Frau! Sie sträubte sich, stieß ihn weit von sich weg und erhob sich mit einer Bewegung, wie um zu fliehen. Aber er versperrte ihr den Weg. Überreizt, wie er war, von ihr heftig zurückgestoßen, zitterte sein ganzer Körper vor Begierde und vor Wut. Er schrie mit heiserer Stimme, er weinte und zeigte dabei die Zähne, als ob er sie beißen wollte!

„Sie sind grausam, Sie sind widerwärtig! Ich hasse Sie! Was wollen Sie denn? Warum haben Sie mich diesen Abend gerufen, diese Nacht, allein, zu Ihnen? Warum haben Sie mich mit Ihren Armen umschlungen?“

Beleidigt, verwundet, aber auch erschreckt stammelte sie; während sie sich an die Wand lehnte:

„Also Sie haben geglaubt?!! … O! Fred … Sie haben glauben können?“

„Ja, ich weiß, ich hätte es wissen sollen, daß Sie eine von jenen Frauen sind, die von der Liebe alles wollen … ausgenommen die Liebe selbst! … Ich habe genug daran gelitten während dieser langen Jahre! Verrückt, dumm war ich, mein Leben, mein Herz zu verlieren, um zu Ihren Füßen hinzukriechen wie ein Hund, dem man schmeichelt und den man mit dem Fuß zurückstößt, wenn er es wagt Ihnen die Hände zu lecken. Aber noch einmal, da Sie doch wußten, daß ich Sie liebe, warum haben Sie mich heute Abend kommen lassen?“

„O Fred! Sprechen Sie nicht so mit mir! Ich erkenne Sie nicht wieder!“ murmelte Mira … während sie sich in ihrer Schwäche mit ausgebreiteten Armen an die Wand klammerte wie an ein Kreuz. „Sie töten mich! …“ Ich wollte Ihnen … … ich wollte dir … …

Er beruhigte sich, da er sie so bedauernswürdig stehen sah und schon wand sich sein weiches Herz vor Reue. Aber er blieb vor der Türe in der früheren wilden Haltung stehen.

„Fred“ sagte sie ihm, „da ich sprechen muß, weil Sie mich zu einem Geständnis verpflichten, das die Furcht auf meinen Lippen zurückgehalten hat, und das ich Ihnen mit halben Worten zu verstehen geben wollte, ohne es mit fester Stimme aussprechen zu müssen … wissen Sie also …“

Fred stürzte sich zu ihr hin, da er sie so schwach, fast sterbend glaubte. Aber vor Schreck über seine Berührung beendete sie den angefangenen Satz, während sie die Hände abwehrend von sich streckte, und ihre Augen voll Tränen standen:

„Stella liebt Sie!“

Dann sank sie mit geschlossenen Augen, und schlaffen Armen in einen Stuhl. Sie hatte den Abgrund überschritten, der sie auf immer von ihrer einzigen Liebe trennte. Nun, da das Werk vollendet war, brach sie zusammen, wie um ins Grab zu sinken, nur noch von einer ewigen Ruhe träumend.

Während Fred, der starr vor Schrecken, wie ein vielfaches Echo den Wiederhall der Worte hörte, die sie ihm eben gesagt hatte, erbebte jede Faser seines Wesens:

„Stella liebt Sie!“

Ein instinktives Zittern überfiel ihn. Dann dachte er über die Wahrscheinlichkeit dieses Geständnisses nach. Sein Herz schwoll, als ob er ersticken müsse und er glaubte zu leiden.

„Mira“ murmelte er „welche Worte haben Sie ausgesprochen? Und, wenn Sie aufrichtig sind warum müssen Sie mir dies dann sagen?“

Sie regte sich ein wenig, wollte erklären, machte Bewegungen die ihre Sprache nicht ausdrücken konnte. Dann nickte sie mit dem Kopf, und erwiederte: „Ja, Stella liebt Sie!“

„Nun wohl!“ antwortete er ungeduldig „wenn das der Fall wäre …“

Sie sah ihn an.

„Verstehen Sie den nicht? Sie müssen Stella heiraten!“

„Ich!!!“ Strahlende Bilder glitten an seinem geistigen Auge vorbei. Er erwiderte:

„Sie denken doch nicht daran?“ Sie antwortete entschieden: „Sehen Sie, Sie wollten doch heiraten! Sie haben mir gesagt, daß Sie so nicht weiter leben könnten, daß Ihr Herz der Zärtlichkeit bedürfe, daß die Einsamkeit in der Sie leben, dem Fluge Ihres Genius hinderlich wäre.“

„Gewiß!“ sagte er feurig.

„Nun wohl?“

„Nun wohl, aber Sie sind es, die ich zu meiner Gattin, meiner einzigen Liebe ersehne!“

„Sprechen wir nicht von mir Fred … die Pflicht … das Alter … haben mich von Ihnen getrennt … ich darf für Sie nicht mehr vorhanden sein.“

„Mira!“

„Lassen Sie mich für immer!“

Ein Schweigen folgte. Die junge Frau sank mit gefalteten Händen auf ihre Knie, sie dachte auch, daß es sinnlos sei, sich so das Herz zu zerreißen, da es ihr doch frei stand ihre Leiden in innigen Umarmungen zu lindern. Sie begriff weder, warum sie sich opfern mußte, noch, daß sie machtvoll ihre Pflichten fühlte, gegen die sie sich, wenn nicht aus instinktiver Erregung, so doch wenigstens mit dem Wunsch der Hingabe, auflehnte.

Tief in ihrem Inneren trug sie ihre Liebe eingegraben, die sich all ihren Handlungen aufdrängte. Weil sie liebte, fügte sie sich in die Leiden. Das Glück anderer begeisterte sie. Dem Aufruhr ihres Herzens zum Trotz, gehorchte sie ihrem Pflichtgefühl. Ihr Eigensinn in diesem Punkte beharrte unbeugsam auf den scheinbaren Eingebungen ihrer instinktiven Gefühle. Trotz ihrer Schwäche ging sie mit gesenktem Kopfe gegen das Ziel los, das sie als das beste erkannt hatte, und war sich wohl bewußt zu straucheln wenn sie sich vergaß.

Sie antwortete ihm:

„Ich kann und darf Ihnen nicht angehören, ich bin eine Frau von dreißig Jahren … meine Pflichten gegen Stella … verstehen Sie … und meine Zärtlichkeit für Sie gebieten mir dies. Stella hat diese Verbindung erträumt!.. Ich betrachte Sie wie meinen Sohn … so wie Stella meine Tochter ist! … … … Stella ist schön, jung, … Sie brauchen eine Gefährtin … und Sie gefallen ihr … Sie werden sie lieben. Ich muß für Sie tot sein … aber ich will Ihnen die Hand drücken, Fred.. Ich wende mich an Ihre Ehre. Sie müssen Stella lieben, wie Sie mich geliebt haben … Sie müssen Sie lieben … das ist eine Ehrenpflicht. Das ist die Aufgabe unserer Seelen. Sehen Sie mich an, erheben Sie sich, über alle Kleinigkeiten! … Seien wir groß, der Unendlichkeit der Liebe gegenüber!!! Das muß sein! …“

„Mira … also niemals werde ich die Worte hören: „Ich bin Dein“ … „auf immer“?“

„Nein“ sagte sie mit erstickter Stimme.

„Hören Sie … Stella will morgen Antwort! … Also Morgen Abend … erwarte ich Sie zum Verlobungsdiner.“

„Und wenn ich nicht komme?“

„Dann …“ murmelte die junge Frau. Wortlos stürzte Fred hinaus, Mira ganz verstört zurück lassend.

Ganz plötzlich dachte sie, daß er entfloh, daß er ihr entwischte, daß er nicht wiederkommen würde, daß alles zu Ende wäre. Aber er hatte gesagt:

„Lassen Sie mich nachdenken!“

Sie stürzte ihm nach, rief ihn, leise erschrocken … ihm zu sagen … ich liebe dich, … ich bin dein! Aber im Dunkel des Parkes sah sie keinen Schatten; im Schweigen der Nacht hörte sie nicht den leisesten Hauch!

„O!“ seufzte sie von neuem mit ausgebreiteten Armen die leer waren wie ein offener Käfig:

„O Fred … Fred!“ Die finstere Nacht hüllte sie ein, wie in ewige Finsternis. –

Drei Monate waren vergangen! –

Die Wagen durcheilten die Straßen um die Gäste aufzunehmen. Die alten Arbeiter der Fabrik hatten die Nacht hindurch gearbeitet um Zweige abzuschneiden und damit das Gittertor des Hauses und das Tor der Kirche zu bekränzen, ihre Frauen entblätterden die weißen Rosen, welche sie abgepflückt hatten um die Wege zu bestreuen. Die Junisonne brannte herab.

Als Stella Ellissen dem Wagen entstieg und zwischen das Spalier neugieriger Köpfe trat, war sie verwirrt. Ihre kunstvolle Frisur, ihrer eigenartigen, persönlichen jede Banalität ausschließende Kleidung, ihre einfache und stolze Haltung, ihr offenes Gesicht von idealer und vollkommener Anmut, ließen sie hervorragend geeignet erscheinen, um unwiderstehlich zu verführen und zu herrschen. –

Keinerlei Kritik ließ sie aufkommen. Man blieb erstaunt vor dieser Erscheinung. Keine Unbeholfenheit, nichts Linkisches, keine Schüchternheit. Hinter ihrem Schleier war sie rosig, von jugendlicher Frische, und nicht infolge der Erregung. Ihre hellblauen Augen leuchteten unter den halbgesenkten Wimpern. Die leicht in die Höhe gezogenen Mundwinkel schienen zu ihrem natürlichen Ausdruck zu gehören, und drückten fast ein Lächeln aus; aber sie lächelte nicht. Stella ging ohne Hast, jedoch rasch genug, um das gewohnte Ungestüm ihrer Bewegungen durchblicken zu lassen. Sie war kindlich und königlich … jedoch nicht jungfräulich. Herr Deaken führte sie, denn sie hatte keinen Verwandten, der diese Pflicht hätte erfüllen können. Sie zog so sehr die Blicke auf sich, daß man trotz des Zuges auserlesen eleganter Frauen, der ihr folgte, nur sie sah. Mira, die den Zug schloß, wäre unbemerkt geblieben, wenn man sie nicht so sehr verehrt hätte. Aber die Leute wurden traurig, als sie sie so blaß mit einem wild entschloßenen Ausdruck sahen, den man an ihr nicht kannte.

Die unglückliche junge Frau, die gezwungen war, ihre Hand auf den Arm Freds zu stützen nahm sich mit äußerster Willenskraft zusammen, aus Angst, daß der junge Mann das unaufhörliche Zittern, das sie durchlief, bemerken könnte. Sie allein eilte, so schwach sie sich fühlte, und die Schleppe ihres Kleides knisterte unter der Hast ihrer Schritte. Man fand sie sehr schön in ihrer Toilette aus lichtblauen Crepe de chine mit schwarzen Margueriten und reicher Spitzengarnierung. Tapfer, mit grausamer Anstrengung, hielt sie sich aufrecht.

Miß, welche dem Zuge vorausgegangen war, um ihn nicht aufzuhalten, sah sie herankommen, und suchte ihre Blicke, um sie mit frischer Kraft und Mut zu beleben. Als Frau von Ellissen von Fred befreit in ihrem Lehnstuhl niedergesunken war, atmete sie auf.

Hörbar entströmte der Atem ihrer zusammengepreßten Kehle. Das Geräusch verlor sich im brausenden Orgelklang. Jetzt wagte sie es, die Augen zu Fred der vor ihn kniete zu erheben, und sie versenkte sich in eine letzte und schmerzliche Anbetung.

Fred war bleich … er frohlockte, sein Herz zitterte vor Entzücken und Gewissensbissen und plötzlich trieb ihm eine Blutwelle fieberhafte Röte auf die Wangen.

Seine Aufregung verriet sich durch nervöse Bewegungen. Er wäre am liebsten fortgestürzt, um das Weinen Miras nicht zu hören. Manchmal war es ihm, als ob der stoßweise Atem der unglücklichen Frau bis zu ihm hindrang und ihn streifte und seine Augen füllten sich mit Tränen.

Als der Geistliche die Hand Stellas in die seine gelegt hatte, vergaß er alles. In der Sakristei blieb die junge Frau zurück und begleitete Fred mit einem letzten Blick.

Von Miß unterstützt, von den Gästen umringt zeigte sie sich gerührt, ohne ihren inneren Schmerz zu zeigen. Als sie ermüdete, unterbrach Miß die Gespräche und antwortete für sie.

Indessen erfüllte Stella mit viel Anmut ihre gesellschaftlichen Pflichten als Neuvermählte. Vollkommen in Allem, traf sie den richtigen Ton, und blieb vertraulich und heiter mit ihren jungen Freundinnen, mit denen sie ihre Herzensergüsse austauschte.

„Ihr werdet auch an die Reihe kommen, meine Kleinen,“ sagte sie „und ich werde euch helfen. Ihr werdet schon sehen! Wenn ich erst wieder zurückkomme … aber erst müßt ihr mich abreisen lassen. Ich muß doch jetzt den Schleier ablegen, der mich überall zieht und spannt! Sehe ich nicht dumm aus, was?“

„Du bist anbetungswürdig! Aber, sag’ uns, bist du zufrieden?“ fragten sie, lüstern nach einem Geständnis, neugierig wie sie in ihrer Unschuld waren.

„Das werde ich euch sagen, wenn ich zurückkomme,“ antwortete sie mit geheimnisvoller Wichtigtuerei, die Nase in ihr Bouquet steckend.

„Übrigens,“ fragte sie Alice, die selbst zu viel wußte, als daß sie sich für Stellas Gefühle interessiert hätte: „Werdet ihr lange wegbleiben?“

Eine andere flüsterte ihr in’s Ohr:

„Du! Wie lange wird deine Reise dauern? Fernand hat nur einen Monat Urlaub, meine Liebe.“

„Du möchtest mehr haben, du Unbescheidene!“

„Wo ist denn Fernand? Ich habe ihn noch nicht gesehen.“ Sie log. Versteckt hinter einer Gruppe von Herren, war er seit dem Eintritt in die Sakristei damit beschäftigt, ihr leidenschaftliche Blicke zuzuwerfen. Und mit seinen feinen, weißen Zähnen an seinen Handschuh beißend, warf er ihr gleichsam rasche Küsse zu, die sie mit halbgeschlossenen Augen, leise nickend, empfing.

„Wahrhaftig“ rief Alice aus, „warte doch! Ich werde ihn dir suchen.“

Aber während sie in das dichte Gedränge der Ärmelbauschen und der raschelnden Schleppen glitt, näherte sich Fernand, der seine Braut hatte verschwinden sehen Stella. Er beugte sich nieder, als ob er die kleine Hand, welche er in der seinen festhielt, an seine Stirn pressen wollte und murmelte:

„Wann kommen Sie wieder?“

„In fünf Wochen, denke ich“ antwortete Stella:

„Oh wie ich Sie sehnsüchtig erwarten werde!“ sagte er leiser. „O Stella, Sie sind schön! Schön zum Verrücktwerden!“

„Finden Sie?“ sagte sie ein wenig erfreut.

„Sie wissen es recht gut! Aber ich habe ihr Bild in mein Gedächtnis eingegraben und behalte Sie so in Erinnerung, für immer. Das dürfen Sie nicht vergessen!“

„Auf Wiedersehen“ sagte Stella etwas verwirrt.

„Auf baldiges Wiedersehen … später …“

„Zu spät, vielleicht!“

Sie wendete sich um, Alice kam herbei.

Das Lunch war auf der großen Terrasse in den Parterr-Salons vorbereitet worden und die kleinen blumengeschmückten Tische standen bis zur Mitte der großen Alleen im Park unter dem grünen Dom, durch welche wie Sternengefunkel die Sonnenstrahlen durchschimmerten, entfalteten sich die hellen Toiletten, wogten hin und her, und veränderten ihre Farbenwirkungen, je nachdem sie zufällig zusammentrafen. Dort erstrahlte eine Gruppe blau, das plötzlich durch darauffallende Schatten dunkler wurde, oder sich von düster gefärbten Toiletten heller abhob. –

Und all das war entzückend in der hellen durchsichtigen Luft. Stella hatte Kranz und Schleier abgelegt. Unbekümmert ließ sie ihr langes Kleid schleifen. Schlank und weiß schritt sie dahin mit dem Sternenglanz ihrer goldigen Frisur, die der Luftzug ein wenig zauste und sie wie mit einem Glorienschein umgab.

Die Freundinnen begleiteten sie in einiger Entfernung wie ein respektvoller Hofstaat, wie eingeschüchtert durch die königliche Haltung der Jungvermählten.

Die Mütter waren erstaunt über die ruhige Dreistigkeit der neuen Baronin Seuriet. Man sagte mit halblauter Stimme: „Es fehlt ihr ein wenig an Bescheidenheit …“

„Ach nein,“ antworteten die Wohlwollenden, „daß ist ihre allzugroße Unschuld, die sie so dreist erscheinen läßt. Ein junges Mädchen, daß errötet … gesteht.“

Und Mira, noch so jung, kaum dreißig Jahre alt, würde sie nicht schon die sonst ihrem Alter eigene Unruhe an einem kritischen Tage dazu drängen ein neues Leben, eine neue Sommerzeit der Liebe herbeizusehnen? Ob sie wohl daran dachte?

Herr Deaken richtete sich zu einer verliebten, stillschweigend geduldeten Pose stolz auf. Als er einen Augenblick mit Frau von Ellissen allein war, erkühnte er sich sogar sanft ihren Arm zu drücken und ihr eine seiner schmeichelhaftesten Phrasen zuzuflüstern. Aber sie unterbrach ihn mit einer fast zornigen Bewegung.

„Nein, nein, jetzt ist’s genug, Herr Deaken! Bis heute habe ich dieses Spiel geduldet, weil … weil ich noch nicht so alt war, als daß mir ein wenig harmlose Galanterie mißfallen hätte … Aber heute …“

„Nun wohl, heute? Niemals sind Sie schöner gewesen, niemals begehrlicher.“

„Spotten Sie nicht, mein Freund, das heißt lügen Sie nicht, um mich zu trösten.“

„Ich lügen … ! Sie trösten! Worüber?“

„Ich meinte“ sagte lebhaft Frau von Ellissen „mich trösten, weil ich heute in die Kategorie der Schwiegermütter und der … Großmütter eintrete. Ich tue es sehr gerne, und nichts hält mich zurück. Ach … nichts, nichts! Als daß ich die alte unbedeutende Dame sein werde, die man „die gute Mama“ nennt und die man sich mit ganz weißem Haar … und mit trippelnden Schritten vorstellt. Ja, ja, so geht es, so werde ich bald sein! Ja … mit meinen dreißig Jahren!“

„Sie gestatten mir also nicht, Sie zu lieben?“ seufzte Herr Deaken.

„Nein mein Freund, ich will kein Wort mehr darüber hören.“

„Sie verzichten also auf daß Leben … so schön und so jung?“

„Jung!“ sagte die junge Frau leise..„ ach wenn ich noch jung wäre! Von heute an kommt mir das weiße Häubchen und die Brille zu … ich fühle mich auch schon so matt … daß ich mich am liebsten zurückziehen würde.“

„Darf ich Sie hinauf führen … Sie Grausame?“

„Nein, ich danke … aber ich sehe Stella nirgends … und meine beiden Kinder wollen ja bald abreisen … O wie sehne ich mich nach dem Alleinsein … das ist alles, was ich wünsche!“

„Ich werde Ihnen dazu verhelfen!“

Mira ging in ihr Zimmer … da kam Stella ihr schon im Reisekleid entgegen.

„Ist es schon zu spät?“ fragte die junge Frau, während sie sich krampfhaft an dem Treppengeländer festhielt.

„Ach, wir kommen sicher nicht zu spät“ antwortete Stella unwillig „wie dumm mich so zu eilen … doch Fred zittert vor Ungeduld … ja Fred … er eilt so sehr … Aber Mira, fasse dich doch … du bist ja ganz verstört … ich komme ja wieder … du irrst, wenn du denkst, daß es mir leicht wird, dich so zurückzulassen … lache doch ein wenig!“

„Bist du jetzt glücklich … Stella … sag’ mir’s schnell! O bitte sag’ es mir!“

„Gewiß, ja … gehe aber in dein Zimmer, wir kommen gleich, um dich zum Abschied noch zu küssen … Fred kommt auch!“

„Nein er braucht nicht zu kommen“ schrie Frau von Ellissen beinahe … „sorgt euch nicht um mich Ich will euch lieber nicht sehen!“ Stella war schon fort, sie flog die Treppen hinab und rief: „Fred! Fred!“

Mira, durch die Angst vor den Abschiedsküssen angespornt, schleppte sich längs des Treppengeländers hinauf und ging ganz verstört in ihr Zimmer. In diesem Augenblick hätte sie sterben, verückt werden mögen, um ihren Schmerz nicht mehr zu fühlen.

Nur die Angst, sich Fred zu verraten, war während der Todeszuckungen ihres Herzens in ihr lebendig. Sie rief jammernd aus:

„Nur noch eine Minute Mut! Noch eine einzige Kraftanstrengung! … Dann ist es vorüber … ich werde befreit sein … ich werde endlich weinen können!“

Sie ermahnte sich, wie der Kranke unter den Händen eines Operateurs, nicht zu weinen so lange die Qual ihre Seele zerfleischte. Die Hände auf ihrer Brust schienen das Rieseln des Blutes aufhalten zu wollen. Sie drückte ein mit Äther befeuchtetes Tuch gegen ihr Gesicht und atmete den Geruch heftig ein. Sie suchte die Schmerzlosigkeit. Jedes Geräusch, das sie vor ihrer Tür hörte, ließ sie in einem langen Schauder erheben.

Stella trat ein.

„Arme Mira“ sagte sie, sie an den Schultern fassend und sie an ihr stolzes Herz drückend. Und zum ersten Mal wieder zärtlich: „Ich habe dich ja so lieb … hörst du mein Kleines? Willst du, daß ich hier bleibe?“

„Ach nein … gehe … sei glücklich … reise! Oh, ich will es … gehe, laß mich … es ist gut.“

„Wirklich? Also auf Wiedersehen … bald. Ich werde sehr bald schreiben.“

„Ja, ja, … gehe nur rasch … glückliche Reise!“

Stella lief die Treppen hinunter. Der Wagen stand im Hofe schon bereit. Unten traf sie Fred.

„Nun gehe noch rasch zur Mama … zu Mira … schnell … schnell … Gib ihr einen Kuß von mir.“

Er zögerte. Sie drängte ihn ein wenig derb:

„Das würde sich nicht schicken!“

Er schien sich beeilen zu wollen. Aber auf der Treppe blieb er stehen. Seine Knie zitterten. –

„Nein, er würde nicht den Mut dazu haben. Aber was würde Stella, die jetzt seine Frau war, davon denken? Umsomehr als Mira ihn erwartete. An der Türe angekommen wandte er sich ab, seine Hände zitterten. Wenn sie am Ende beide laut aufschrieen, wenn sie sich umarmten!“

Stella rief von unten:

„Mache schnell, wir werden den Zug versäumen, beeile dich!“

Er glaubte, daß Stella noch einmal heraufkomme und klopfte an die Türe. Niemand antwortete. Er dachte. „Mira ist vielleicht nicht mehr drin. Oder sie muß sich eingeschlossen haben!“

Er öffnete die Türe.

Frau von Ellissen hatte sich wieder aufgerichtet. Mit ausgestreckten Armen wehrte sie sein Näherkommen ab. Auf ihrem Gesichte konnte man aus den geschlossenen Augen die Tränen fließen sehen. Schmerzlich betroffen wich er zurück. Oh! wie sie litt! Wenn er das zu glauben gewagte hätte, das geahnt hätte, … niemals … nein niemals ..!

Aber sie rührte sich nicht, streng und eigensinnig blieb sie bei ihrer Abweisung. Eine Ehrfurcht ergriff ihn. Mit verwirrtem Blick trat er vor dieser schrecklichen Erscheinung zurück, fühlte sich durch die abwehrenden Hände zurückgestoßen, hingestoßen zum Glück, durch diese Frau und Mutter, die in der Apotheose ihres Opfers zu tragischer Erhabenheit und Größe emporwuchs.

„Auf Wiedersehen … Mira … Mutter“ sagte er im Hinausgehen.

Als der Wagen davon rollte senkte die junge Frau ihre Arme; und als das Gittertor krachend geschlossen wurde, warf sie sich nieder, als ob sie ihres Lebensinhaltes beraubt sei, und preßte ihren Körper in die Kissen. Eine Weile blieb sie so in der Trägheit ihrer jetzt unnützen Kräfte; nur die fließenden Tränen verrieten, daß sie noch immer an ihr Schicksal dachte. Dann ließ sie eine Berührung, ein Murmeln neben ihr, die Augen öffnen. Miß beugte sich über sie, mit gutem mitleidsvollem Gesicht und energischen suggestiven Blick stolzer Tapferkeit.

„Nun, meine Liebe, Kopf hoch! Sie leiden, aber Ihr Leid ist edel und rein. Seien Sie stolz darauf.“

Mira schüttelte kläglich den Kopf.

„Ich kann nicht getröstet werden!“

„Weil Sie es nicht wollen. Aber man muß es wollen, um seinen Weg weiter zu gehen.“

„Alles ist zu Ende …“

„Alles beginnt. Niemals mehr als heute. Ihre Kinder haben Sie nicht mehr nötig …“

„Oh! nein … sie genügen sich gegenseitig.“

„Heute noch, vielleicht! Aber die Zukunft wird nicht leicht sein. Fred ist schwach, … er wird leiden. Was würde daraus werden, wenn Sie, die Tapfere, die Ergebene, nicht über ihn wachen!“

Die junge Frau hatte sich erhoben.

„Die Liebe drückt sich nur durch die Ergebenheit aus,“ fuhr das alte Fräulein fort. „Sie werden sehen, daß Sie nicht das Recht haben auf Ihren Leiden auszuruhen wie auf einem Ruhebett, das zwar ein wenig hart ist, aber auf dem man schließlich doch einschläft. Kopf hoch, meine liebe Freundin, jetzt mehr als jemals! So lange man geben kann und noch gibt, muß man sich aufrecht halten, bereit zu jedem Sühnopfer. Das ist Ihre Aufgabe, die Sie sich hienieden erwählt haben und für die Sie der Gott, den Sie nicht lieben konnten, dem Sie aber nach seinem ewigen und geheimnisvollen Willen dienten, mit unbeschreiblichen Freuden belohnen wird. Ach, wenn Sie ihn lieben würden, den Bruder der Menschheit, der sein blutiges Opfer gebracht hat, der Ihre liebende Seele geschaffen hat, der unbekannte Gott, der von flammernder Liebe erfüllt, durch die erhabenen Seelen der Menschheit leuchtet! Wie glücklich Sie sein werden! … Ja sehr glücklich, so wie ich es bin, ich, die ebenso gelitten hat wie Sie, mehr als Sie, denn ich habe keine Freude auf der Welt kennen gelernt und ich sterbe mit einem Herzen, das zum Lieben und zur Mutterschaft geschaffen war. Aber ich habe den göttlichen Willen erkannt, und ich habe denjenigen geliebt, der der Welt die Liebe gegeben hat, als Offenbarung seiner Existenz. Ich habe ihn geliebt und ich habe mich ihm angeboten. Er hat mich ganz hingenommen. Ich glaube ihn manchmal in mir zu tragen, wie man ein Licht trägt, das man mit den Händen schützen muß, damit der Hauch der Leidenschaften es nicht auslösche, während man geht …“

Die junge Frau murmelte:

„Ich kann nicht beten, ich habe verlernt zu beten.“

„Doch, weil Sie lieben können. Jedes Gebet entspringt der Liebe und jeder Liebesakt ist ein herrliches Gebet. Was fehlt Ihnen um die Freude in Ihren Leiden zu erkennen und zu genießen? Nichts, als zu wissen, daß Sie ihm sie darbieten, … ihm …, dem Gott der sie von Ihnen fordert. Glauben Sie mir, liebe Mira, breiten Sie Ihre leeren Arme gegen die große wärmende Sonne aus und Sie werden eine wundervolle Ernte idealer Glückseeligkeiten empfangen, die wie Frühlingsblüten Ihres ergebungsvollen Lebens sind. Auf! Erheben Sie sich und gehen Sie Ihren Weg. Ihre schönsten Tage kommen und Sie müssen die Kräfte zur Vollendung Ihrer Aufgabe wiederfinden. Gott entfernt sich von denjenigen, die ihn verlassen, aber er nähert sich jenen die zu ihm kommen … tun Sie den Schritt.“

„Ich bin sehr erschöpft, Miß.“

„Er wird Sie stärken.“

„Ach wenn er mir nur helfen würde!“ murmelte die unglückliche Frau, fortgerissen von dem kühnen Wollen dieser stolzen Seele. Und schon hörte sie auf zu weinen. – –


Ein Jahr war vergangen.

Stella, die junge Baronin Seuriet war in guter Stimmung, sie amüsierte sich. Einer ihrer Verehrer, ein junger Leutenant richtete täglich wohlgeformte Verse an sie, sehr leidenschaftlich in sehr zarten Ausdrücken, welche ihren Stolz und auch ein leises Prickeln erregten. Der Autor war ein sehr junger Mann mit unbedeutendem Gesicht, schüchtern, ungefährlich. Seine zarte Anbetung gefiel Stella; sie füllte eine Leere aus; es war ihr amüsant, in dieser Weise geliebt zu werden; das war doch eine Abwechslung gegen die stürmischen Angriffe Fernands und die friedliche Begehrlichkeit Freds. Sie hatte ihren Dichter: „Die kleine blaue Blume“ getauft und ihre Koketterie pflegte diese Blume nicht ohne Ergötzen.

Sie kam zu Mira, schön geputzt, strahlend, sonnig mit dem Auftreten einer jungen sieghaften Königin, der sich Alles und Alle zu unterwerfen haben.

„Was gibt es? Du bist krank? Wie siehst du aus, Liebe?“

„Ach Stella! Du bist unvorsichtig, meine Liebe. Ich habe es dir ja gesagt, daß das schlecht enden würde,“ antwortete die junge Frau.

„Gott! … immer dieselben Geschichten! … Ich sage dir, daß ich nichts davon wissen will … alles ist in schönster Ordnung, wenn ich mich amüsiere, und das genügt mir.“

„Du mußt mich trotzdem anhören, Stella.“

„Dann gehe ich … auf Wiedersehen!“

„Aber Unglückliche!“ rief die junge Frau aus, indem sie ihr den Weg versperrte.

„Ach was, Gott, wie langweilig! … Beeile dich, sage schnell, was du willst; ich muß zu Alice gehen, sie ist krank, wie ich höre!“

„Gehe nicht hin!“ sagte Mira erschrocken.

„Warum sollte ich nicht hingehen … was denkst du denn?“

„Weil … weil … du gewiß nicht empfangen wirst.“

„Nun, das möchte ich doch sehen … warum nicht … aus welchem Grunde nicht?“

„Alice sprach über dich … es ist … wegen ihres Mannes …“

Stella lächelte nervös, während eine leichte Blutwelle ihre Wangen färbte.

„Mit wem sprach Frau von Eulenburg darüber? Mit dir?“

„Nein … mit ihrer Schwiegermutter.“

„Der Witwe? nicht möglich!“

Mira schüttelte schmerzlich den Kopf … sie dachte an Fred. Dann wurde sie ernst.

„Sie war hier …“

„Hier bei dir?“

„Ja, bei mir, sie kam, um mir davon Mitteilung zu machen, daß sie sich, falls du deine Koketterien und Intimitäten mit ihrem Sohn nicht aufgeben würdest, an deinen Mann wenden wird.“

In Stellas Zorn mischte sich eine gewisse Unruhe. Sie hatte, wenn sie zu lange fort gewesen war, an Fred öfter mürrische, manchmal auch eifersüchtige Stimmungen bemerkt. Diese Angelegenheit konnte sein Vertrauen erschüttern und in ihr Zusammenleben jene Wortgefechte und Kämpfe bringen, die ihr so widerwärtig waren. Sie wollte Frieden haben und so sehr sie noch die Kraft in sich fühlte ihn zu erhalten, konnte doch ihre unbedingte Freiheit, die sie forderte, darunter leiden. Eine kalte Wut darüber, daß man ihrem Willen entgegentrat, spiegelte sich in ihrem Gesicht und ließ jede Anmut daraus verschwinden. Nach kurzer Überlegung wandte sie sich entschlossen nach der Türe.

„Wo gehst du hin?“ frug Mira ängstlich.

„Dorthin gehe ich, wohin ich dir eben sagte, zu Alice. Mache dir keine Sorgen, ich werde mich schon mit ihr auseinandersetzen. Wenn sie es war, die diese Geschichte heraufbeschworen hat … werde ich sie nicht wiedersehen … Ich zweifle daran, aber sollte es doch so sein, so wird sie es noch bereuen.“

„Und ihre Mama?“ frug Mira, entsetzt über Stellas Antwort.

Schon an der Türe, kehrte Baronin Seuriet um:

„Ich habe weder das Recht noch die Lust und die Absicht mich mit Fernand von Eulenburg zu entzweien. Er ist ein liebenswürdiger und charmanter Kamerad, der mir gefällt, der mich unterhält und den ich mir bewahren werde. Da hast du die volle Wahrheit, und die bitte ich dich auch seiner alten mürrischen Mutter zu sagen. Auf Wiedersehen Mira! …“

Und so wie sie es gesagt hatte ging Stella zur Präfektur, wo Alice mit ihrem Manne wohnte. Stella kannte sie gut. Tückisch und falsch, wie Stella war, sehr nachgiebig, fähig sich entzückt zu zeigen und dabei die bösesten Hintergedanken zu haben, spielte sie seit lange dieses Spiel, und hielt es durch die Überlegenheit ihrer Kraft und ihres beherrschenden Willens auch aufrecht. Sie fühlte, daß Alice sich fürchtete, ohne jedoch noch zu wagen genau anzugeben wogegen sich ihre Befürchtigungen richteten.

Naiv wie Alice übrigens war, ließ sie sich leicht überzeugen und war durch einen Rest romantischer Gefühle leicht in Rührung zu versetzen. Mit einem Herzenserguß war sie schnell zu erobern. Ihre Nerven gaben selbst bei einer banalen Umarmung, wenn diese nur mit der nötigen Leidenschaft ausgeführt wurde, so schnell nach, daß sie, wenn jemand ihr nur Liebe heuchelte, sich ihm ganz unterwarf.

Auch ihr Mann gab sich nicht viel Mühe mit ihr, denn er war sicher, mit Liebkosungen, denen er den Anschein leidenschaftlicher Wärme gab, über ihre eifersüchtigen Launen Herr zu werden. In seiner Gegenwart unter seinen Küssen vergaß Alice ihre Leiden; aber sie wurde wieder von ihnen ergriffen, sobald er fortging. Dann litt sie und beklagte sich. Ihre Mutter hatte sie gleich nach den ersten Worten verspottet, und setzte ihren Liebeswunden gewöhnliche Scherze entgegen.

Dann ging sie zu Frau von Eulenburg. Sie war sicher, daß sie Stella dadurch keine brennendere Wunde zufügen konnte, denn die Witwe verstand in Konvenienzangelegenheiten keinen Spaß. Ihre hochmütige Strenge gab den geringsten Zeichen ihrer Ungnade eine Schärfe, die unerträglich war. Alice hatte in ihr, Fernand betreffend, eine Verbündete gefunden, und brauchte sich nun blos verteidigen zu lassen.

„Gewiß bin ich für die Baronin Seuriet zu Hause,“ antwortete sie sehr laut, als man ihr Stella meldete, sodaß diese es hören konnte.

„Falsche“ murmelte Stella, während sie ruhig und lächelnd eintrat. „Nun? Wie geht’s meine Liebe?“ frug sie und umarmte Alice.

„Ach du weißt, ich schleppe mich so weiter, aber es geht schon. Mit Bébé geht’s gut und das ist das Wichtigste.“

„Arme Kleine! Was für eine Last so ein Kind ist, nicht?“

„Ach nein, ich beklage mich nicht.“

„Du hältst es aus. Ich, wenn ich so den ganzen Tag liegen müßte, würde ich wütend werden. Wenn ich Mutter würde, so wäre das so, wie man Fieber bekommt ohne es zu wollen.“

„Wie, du willst kein Kind?“

Stella unterbrach sie mit einer Bewegung.

„Alice, bring’ mir nicht Pech! Male mir nicht den Teufel an die Wand! Kinder locken mich nicht, im Gegenteil. Das ist ein Hindernis im Leben, das ist alles. Wenn ich keine bekomme, was hoffentlich der Fall sein wird, so werde ich sehr glücklich sein.“

„Ach du … du mußt immer in Bewegung sein, laufen, tanzen.“

„Ich muß mich amüsieren, ja. Das Leben scheint mir dazu da zu sein. Es wäre sehr langweilig, wenn man sich nicht zerstreuen würde.“

„Nun, mache es wie ich, sticke eine Wickeldecke; sieh einmal, ist das nicht hübsch, diese kleine Ausstattung?“

„Du möchtest damit am liebsten Puppe spielen. Machst du das alles selbst?“

„Ich muß mich wohl zerstreuen. Ich fühle mich jetzt so oft einsam.“

„Ach einsam! Du hast genug Menschen, die dir Gesellschaft leisten können.“

„Du irrst dich. Meine Freundinnen vernachlässigen mich ein wenig. Seit ich leidend bin, macht es ihnen keinen Spaß mehr mit mir zusammen zu sein. Mama sitzt nicht gern ruhig, sie kommt herein und geht wieder. Und mein Mann hat zu tun … hat sich … zu … zu amüsieren … … …“

„Ja, was ich sagen wollte, wegen Fernand“ sagte Stella kühn, „weißt du die neueste Erfindung deiner Schwiegermutter? Nachdem sie mich ohne Grund gequält hat, möchte ich es dir sagen, damit du etwas von dem unheilvollen Dasein, welches das Schicksal der alten Frauen und Gott sei Dank nicht das deine ist, kennen lernst. Sie fällt heute über mich her und will mich zwingen auf meine Vergnügungen, auf meine Bekannten zu verzichten … Das ist wirklich Übereifer!“

„Was erzählst du mir da?“ rief Alice aus, während sie sich bemühte die Augen groß aufzumachen, um ihre Lüge glaubwürdiger zu machen.

„Die Wahrheit, meine Liebe! Deine vortreffliche Schwiegermutter war darauf bedacht, sich bei Mira zu beklagen … errätst du ein wenig, weshalb?“

„Ich habe keine Ahnung … sag’ rasch!“

„Wegen zu häufiger Besuche, ja, so sagte sie, wegen zu häufiger Besuche deines Gatten bei mir! Sie ist wirklich köstlich!“

„Nicht möglich … du machst Spaß!“

„Das scheint so, aber es ist die volle Wahrheit. Sie fügte noch hinzu, du hättest sie beauftragt?“

„Ich! … Das glaubst du doch nicht!“ rief Alice erregt.

„Nein und deswegen bin ich hier“ antwortete Stella ruhig und zuckte die Achseln. „Ich weiß, daß du weder so dumm bist, noch so falsch, um dir so etwas in den Kopf zu setzen, und es dann für gut zu finden, diese Launen, an welchen dein Zustand Schuld tragen würde … wie das vorkommen soll … diese Träume einer Kranken zu einer Anklage aufzuwerfen, die in ihrer Angeberei ebenso häßlich als heuchlerisch wäre. Nein, ich kenne dich ja! Du bist solcher Gemeinheiten nicht fähig. Deshalb spreche ich offen mit dir, als Freundin, anstatt ärgerlich zu sein.“

„Und du tust recht daran, ich schwöre dir!“

„Schwöre nicht, das ist überflüssig. Aber bitte deine Schwiegermutter, sich nicht mit mir zu beschäftigen. Wenn sie das quält, daß ihr Sohn mich auch jetzt, da du verheiratet bist, sieht, so soll sie ihm selbst Vorstellungen machen, sie soll aber so freundlich sein, Miras Ruhe nicht zu stören. Diese Sorte alter Frauen weiß nichts anderes als Erfindungen zu machen, womit sie die Jugend quält. Ich frage dich nur, wo ist die große Unschicklichkeit an seiner Freundschaft, die durch dich, durch unsere intime Freundschaft veranlaßt wurde, und die sich offen, frei vor den Augen aller fortsetzt!“

„Ganz sicher“ murmelte Alice, die durch Stellas aufrichtigen Ton verwirrt war. Außerdem fing sie wirklich an zu zweifeln. Fernand hatte sie heute nachmittag verlassen, trotz ihrer Bitten, trotz ihrer Tränen und sie war überzeugt gewesen, daß er fortging, um sich mit Stella zu treffen. Aber Stella war hier. Eine unbefangene Freude ließ ihr Herz höher klopfen.

„Hör zu!“ sagte sie „es ist möglich, daß meine Schwiegermutter zu Mira gekommen ist, weil sie bei einer Szene dabei war, die ich, … ich kann … es ja gestehen … vor ein paar Tagen mit Fernand gehabt habe. Unter uns, nicht wahr? Fernand vernachlässigt mich sehr, seit ich leidend bin.“

„Das bildest du dir ein … hänge nicht solchen Gedanken nach … höre auf mit diesen Dingen … du wirst dir und deiner Umgebung damit schaden … ohne es zu wollen…“

„Nein, nein, das sind nicht blos Gedanken, Einbildungen … es ist wirklich so! Glaubst du, daß er je auf einen Ball, auf eine Gesellschaft verzichten würde, um bei mir zu bleiben, mich zu pflegen oder zu zerstreuen?“

„Aber liebe Alice, wenn du von einem Manne sentimentale Zartheit verlangst, wenn du dich an diese Kleinigkeiten hängst … dann bist du schon verloren! Fernand ist kein rücksichtsvoller Mann … er hat dich sicher sehr lieb … aber ich glaube kaum, daß er der Charakter ist, der sich an das Rockband seiner Frau hängt und daran zappelt. Dazu ist er viel zu lustig und zu temperamentvoll. Ganz zufrieden dich hier wiederzufinden, so brav bemüht, ihm eine Vaterschaft zu bereiten, auf die er stolz sein kann, ist er aber auch erfreut, ein wenig entschlüpfen zu können, seine gute Laune zu genießen. Und ich würde dich für sehr ungeschickt halten, erlaube mir, dir das zu sagen, wenn du die Zügel zu straff anspanntest. Vollblut geht leicht durch. Habe eine leichte Hand, lasse nach, so lange du in diesem Zustand bist, damit er nicht bemerkt, daß du stärker wirst, und daß ihn der Gedanke an deine Bürde nicht beeinfluße. Wenn du ihn aber den Zaum fühlen läßt, wird er sich bäumen und Purzelbäume machen. Deine Schwiegermutter hat dadurch, daß sie so eifersüchtig ist, eine besondere Ungeschicklichkeit begangen. Paß nur auf, daß dein Mann nichts davon erfährt.“

„Du hast vielleicht Recht“ antwortete Alice, die zu der vollen Unschuld und Aufrichtigkeit der Baronin gelangte.

„Aber es ist doch bitter zu sehen wie er sich eilt, von mir fortzukommen, um den Vergnügungen nachzulaufen, an denen ich nicht teilnehmen kann. So habe ich heute alles getan was möglich war, um ihn zurückzuhalten. Ach ja! Bei Kannenbergs wird Tennis gespielt. Glaubst du, daß es wirklich so notwendig war, daß Fernand hinging um sich bei ihnen zu unterhalten?“

„Du lieber Gott! Da oder wo anders, das ist um Bewegung zu machen,“ antwortete Stella, die an das Rendez-vous dachte, das Fernand und sie sich bei den Kannenbergs gegeben hatten. Aber gleichzeitig beschloß sie, nicht hinzugehen, um Alice endgiltig zu überzeugen. Sie konnten sich ein anderes Mal treffen. Sie nahm eine winzige Nippfigur, eine Sängerin im Halbtrikot auf ihre Fingerspitzen, drehte sie nach allen Richtungen, und tat, als ob sie sich dafür interessieren würde.

Dann zog sie rasch ihre Handschuhe aus.

„Wenn du ein wenig Zeit mit mir verbringen willst, da du heute allein bist, so gib mir die Nadeln, ich mache dir das herzige kleine Ding fertig. Willst du?“

„O! Wie lieb du bist!“ rief die junge Frau deren Argwohn gänzlich schwand und in der Schwäche ihres Zustandes schlang sie ihre Arme um Stellas Hals und umarmte sie schluchzend.

„Aber, aber, beruhige dich doch, arme Kleine! Umso besser wenn es dir Freude macht!“

Und mit ihren feinen Fingern arbeitete sie mit den Nadeln, zwar nicht sehr geschickt, aber eifrig, und mit gesenkter Stirne, um das Triumphieren ihrer entarteten Augen nicht zu zeigen.

Nun plauderte sie in kindlicher Weise. Alice beruhigte sich. Nur leise Seufzer begleiteten von Zeit zu Zeit ihre Worte. Während sie auf die Uhr sah, konnte sie sich nicht zurückhalten zu sagen:

„Jetzt beginnen sie zu spielen. Fernand ist sehr geschickt und er liebt es zu glänzen.“

„O und er entfaltet beim Spiel einen Eifer,“ antwortete Stella. „Ich richte es immer so ein zu seiner Partie zu kommen. Es ist eine wahre Lust an seiner Seite zu spielen.“

„Nicht wahr? Du bist auch eine gute Spielerin. Fernand wird es heute bedauern, daß du nicht mit von der Partie bist.“ Spuren von ihrer vorgefaßten Meinung bekamen wieder die Oberhand.

„Aber die kleinen Kannenbergs spielen auch recht gut“ entgegnete Stella. „Es ist nur schade, daß sie so eine schlechte Haltung haben. Ihr Mangel an Grazie zeigt sich in ihrer Art wilden Herumzuspringens. Und dann hat ihre Mutter die Manie sie in langen Kleidern spielen zu lassen!“

„Das tut sie schamhafterweise, um ihre Füße nicht sehen zu lassen,“ fügte Alice hinzu.

„Klugerweise,“ ergänzte Stella. „Freilich verhindert dies nicht, daß sie Verehrer gefunden haben; die beiden de Ressace machen es gut. Sie sind finanziell ruiniert, wie man es ärger gar nicht sein kann, und zu nichts zu gebrauchen. Dabei sind sie anspruchsvoll, übertreiben jede Mode, als ob sie dafür bezahlt würden, möglichst grotesk zu erscheinen. Und die Unglücklichen halten sich für elegant. Ich habe mich nie entschließen können, mit ihnen zu tanzen.“

„Ich auch nicht“ sagte die Baronin laut auflachend. – Alice begann wieder:

„Gehst du zum Verlobungsabend zu Kannenbergs?“

„Ich werde dort gewiß nicht fehlen, denn das Schauspiel wird unbezahlbar sein. – Und du?“

„Oh, ich, mir wurde verboten, mich zu rühren, bis neue Befehle erfolgen werden.“

„Das ist schade. Wir hätten uns halbtot gelacht.“

„Fernand … wird dort sein.“

„Das ist etwas anderes. Fred wird auch kommen. Aber er kann nicht lachen, er ist immer ernst. Er findet an den Menschen und Situationen nie die komische Seite heraus. Alles gipfelt bei ihm entweder in Harmonien, die ihn außer sich bringen oder in Mißlauten, vor welchen er sich hütet, und sich in seine inneren lyrischen oder tragischen Entzückungen zurückzieht.“

„Was willst du meine Liebe, das ist seine geniale Natur. Aber du, du hast ihn wenigstens!“

„Besser gesagt, das Haus bewahrt ihn. Was mich betrifft, so weißt du, daß ich weder für das Amt einer Kerkermeisterin, noch zur Gefangenen die Anlage habe.“

„Du bist ein Schelm, der nichts ernst nehmen kann!“

„Ach Gott! nein … Und du glaubst nicht, wie wahr du sprichst. Es gibt nichts Ernstes, siehst du!“

„Doch, die Liebe ist es. Ja wahrhaftig, die Liebe, die wie eine Krankheit kommt und verschwindet, die man mit erfahrungsgemäßen Mitteln pflegt, und die für gewöhnlich nicht nachläßt, ehe sie ihre normale Wandlung durchgemacht hat. Sie ist eine Krankheit, welche sich durch Widerspruch verschlimmert. Man muß sie, glaube ich, ruhig ihren Weg verfolgen lassen. Das ist das beste Mittel, sich ihrer schnellstens zu entledigen.“

„O du profanes Wesen! Du wirst davon ergriffen und sehr zufrieden sein.“

„Du machst es rasch!“ antwortete Stella. Plötzlich öffnete sich die Türe und Fernand erschien. Die beiden Frauen wandten die Köpfe, beide mit derselben Überraschung. Alice war plötzlich erblaßt und eine lebhafte Unruhe bemächtigte sich Stella. „Ei“ sagte er. Und ungeschickter Weise sah er fortwährend die Baronin Seuriet an.

Alice hatte begriffen, was vorging. Fernand hatte das Spiel verlassen, weil Stella nicht dort war, das war klar. Er verfolgte sie also. Aber sie?

„Du hast mir angekündigt, daß du den ganzen Tag über fort sein würdest“ .. sagte sie scharf zu ihrem Gatten, „Was für ein Zwischenfall führt dich denn wieder zu mir?“

Fernand machte sich nichts aus dem bitteren Ton seiner Frau; was ihn erregte, war die Stille Stellas, die bei ihm in der Wohnung war, während er sie, wie verabredet, anderswo erwartet hatte.

Er brummte:

„Ich habe mich gelangweilt. Ich glaube, daß dir das genügt.“

„Es muß mir genügen, weil du mir keinen anderen Grund angeben kannst; ich nehme ihn also an.“

„Nimm an was du willst, meine liebe Freundin, aber vor allem verschone mich mit einer Szene, wenn es dir möglich ist. Übrigens siehst du, daß sich Stella keineswegs gelangweilt hat. Ich muß ihr den Vorwurf machen, daß sie nicht gekommen ist.“

Zwischen ihren vor Zorn zusammengepreßten Zähnen zischte Stella:

„Dummkopf!“

Sie erhob heftig den Kopf und sagte hochmütig:

„Sie irren sich, mein Lieber. Ich war fest entschlossen zur Tennispartie zu gehen; aber ich fand Alice hier allein, betrübt, traurig, und da habe ich es vorgezogen, ihr Gesellschaft zu leisten, da Sie doch nicht bei ihr bleiben.“

„Was ist mit Stella, daß sie so spricht?“ fragte sich Fernand im Stillen.

Aber Stella fiel nicht aus ihrer Rolle.

„Und ich versichere Ihnen, daß Alice sehr, sehr gut ist, daß sie Sie gar nicht anklagt. Wenn Sie glauben, daß Alice sich glücklich fühlen kann, wenn sie mit ansehen muß, wie Sie allen Vergnügungen, nachjagen, und sie allein auf ihrer Chaiselongue mit einem Knäul Wolle zurückbleiben muß … so irren Sie sich. Schämen Sie sich, Fernand.“

„Ich danke Ihnen für Ihre Lehre,“ erwiderte er kalt.

„O bitte, steigen Sie nicht allzu hoch aufs Roß, zwischen uns ist das nicht nötig.“

„Und jetzt, da Sie gekommen sind, verabschiede ich mich … es ist schon spät … guten Abend, Kinder … auf Wiedersehen!“

„O meine Liebe, wie gut du bist!“ sagte Alice. Eine neue Vermutung erwachte in ihrer eifersüchtigen Seele. Stella liebte Fernand nicht, aber er begehrte Stella. Die Gefahr war geringer, wenn auch die Demütigung die ihr Stolz und ihre Liebe erlitten, nicht weniger schmerzhaft waren. Sie stand auf. Trotz ihres entstellten Körpers noch immer geschmeidig umarmte sie ihre Freundin. Diese flüsterte ihr ins Ohr:

„Jetzt söhne dich wieder aus, ja … gleich! Du mußt wissen, ich habe vor Fernand ganz das Gegenteil gesagt von dem was ich mir dachte. Aber die Männer wollen betrogen sein. Auf Morgen, mein Kleines!“

„Ich habe dich sehr lieb, wirklich!“ murmelte die junge Frau gerührt.

„Und ich dich auch!“ antwortete Stella, „Auf Wiedersehen“ sagte sie, als sie an Fernand vorbei ging, ohne ihn anzusehen.

Aber er eilte auf sie zu, um sie hinaus zu begleiten. Sie blieb plötzlich stehen und sagte kurz:

„Bitte, machen Sie mir das Vergnügen, hier zu bleiben. Ich weiß wo die Türe ist. Guten Abend!“

Sie ging, er blieb unbeweglich stehen, ungeheuer erstaunt. Dann höhnte ihn Alice:

„So gehe doch, mein Freund; geniere dich nicht, begleite sie!“

„Gewiß!“ rief er wütend. Sie mußte die Treppe hinuntergelaufen sein, denn er erreichte sie erst auf dem Vorplatz, den man von oben durch das gläserne Vordach sehen konnte. Stella vermutete, daß Alice ihr aus einem Fenster mit den Blicken folgen würde. Sie ging also, ohne sich umzusehen so rasch, daß er sie nicht erreichen konnte; sie sprach deutlich ohne eine Miene zu verziehen:

„Ungeschickter Mensch!“

„Stella!“

„Bitte, schweigen Sie! Verstehen Sie denn gar nichts? Alice hat sich über Sie und mich bei Ihrer Mutter beklagt. Ich habe sie, was mich anbetrifft, von ihrem Irrtum überzeugt, tun Sie für Ihren Teil das Ihrige, gehen Sie rasch zurück!“

„Wann sehe ich Sie?“

„Morgen ist mein Empfangstag!“

„Nein, außerdem?“

„Morgen … sage ich Ihnen … spät!“

Dicht am Gitter tat sie, als ob sie bemerken würde, daß er da war, winkte mit der Hand gleichgültig zum Abschied und ging längs des Trotoirs in der Platanenallee, stolz und ruhig wie eine junge Königin.

„Verteufelt!“ murmelte Fernand, während er die Treppe zu seiner Frau hinaufstieg, „das wäre dumm, wenn mir da etwas dazwischen käme!“

Die Baronin Seuriet ging oft allein aus, zu Fuß. Huldigungen ließen sie nicht gleichgiltig; und sie hatte das Gefühl den Tag nicht verloren zu haben, wenn sie einige neue Bewunderer auf ihrem Wege gefunden hatte. Sie hatte es gern, wenn man ihr folgte, sie blieb dann lange aus und kehrte angenehm ermüdet nach Hause zurück.

Sie verschmähte es auch nicht, elegant angezogen und in koketter Haltung, durch die Straßen zu schlendern, und vor den bescheidenen Schaufenstern kleiner Läden, die wenig besucht werden, und ihren Angestellten Muße lassen, stehen zu bleiben.

Diese versäumten die Gelegenheit nie, sie anzusehen und ihre flammenden Blicke belustigten die leichtsinnige junge Frau. Das war ihr Lieblingszeitvertreib, da sie nichts Besseres zu tun hatte. Und an diesem verlorenen Nachmittag bot sich wieder die Gelegenheit dazu. Es war jetzt zu spät um zu den Kannenbergs zu gehen und da Fernand nicht dort war, hatte sie auch keine Lust dazu. Dieser einzige Grund veranlaßte sie zu Mira, zu ihrer Mutter, hinaufzugehen.


Der Empfangstag der Baronin Seuriet war besonders angeregt, laut und heiter. Der Grund dazu war die Anwesenheit vieler junger Männer und der Mangel an ernsten Frauen; der Ruf ihrer Leichtfertigkeit ging doch schon so weit, daß man sich von ihr fernhielt.

Die Menschen, die sich „achteten“, zogen sich allmählig zurück; nur die leichtfertigsten ihrer Freundinnen blieben ihr treu, entschuldigten sie sogar, und zogen aus dieser Entschuldigung ebenso Vorteil, als sie ihre Vergnügungen ausnützten.

Und sie fühlten sich freier „unter sich“ diese jungen Frauen, in Flirts, die die Grenzen des Erlaubten oft überschritten.

Stella hatte für diese Empfänge besonders geschmückte Kleider eingeführt. Sie selber strahlte in einem weißen Kleid, unter der Brust gegürtet, eng an die Hüften anschließend, über dem Mieder lose, ein wenig ausgeschnitten, die Arme nackt bis zu den Ellenbogen. Mit frischen Blumen parfümiert … das war das Geheimnis ihres lebhaften, berauschenden Duftes … verbreitete sie eine bestrickende Lieblichkeit. Jede ihrer Bewegungen verbreitete die Düfte eines Buketts. Sie hatte Treibhäuser für ihren eigenen und intimen Gebrauch. Die Blumen waren in die Falten ihrer Röcke genäht oder wurden auf ihrer warmen Haut zerdrückt. Der zarteste Geruch anderer Frauen wirkte störend; der ihre erweckte einen wahren sinnlichen Rausch. Der junge Leutnant fragte sie, während er ihren Duft gierig einsog, in welchem Hyazinthenbeet sie im Morgentau gelegen sei.

Gegen Abend, als man schon etwas warm geworden war, wirkte sie auf die Schüchternsten verwirrend bis zur Besinnlosigkeit, besonders wenn sie sich darin gefiel, die Naive zu spielen, oder eine fast kindliche Arglosigkeit inmitten all der flammenden Wünsche die sie entfesselte, zu heucheln.

Fernand war, zur Zeit des allgemeinen Aufbruches, den sie beschleunigte, noch nicht gekommen.

Auch der junge Offizier blieb hartnäckig zurück, er enthielt ihr die gewohnte tägliche Ration poetischer Anbetung vor, indem er forderte ihr seine Verse persönlich vorlesen zu dürfen.

Und als sie sich mit einer Wendung ihres schmiegsamen Körpers auf den Rand eines Sofas niederließ, die Ellenbogen sanft aufstützte und durch ihre schneeigen Arme den jungen Poeten blendete, wurde er so verwirrt, daß er nur auf den Knien zu ihr sprechen konnte.

Stella hielt die Verse für mittelmäßig, weil ihr Autor pockennarbig, schlecht gewachsen war, und ein unbedeutendes Gesicht hatte. Sie lächelte kaum, ärgerlich, daß er ihr sein Gedicht verdarb, und mit Verdruß dachte sie daran, daß sie diese Verse ohne Zweifel wundervoll gefunden hätte und geeignet, sie zu einer verliebten Narrheit hinzureißen, wenn Fernand, ganz nahe bei ihr, und in derselben Stellung, sie ihr vorgelesen hätte.

Bis jetzt hatte sie niemand anderen getroffen, der ihre Phantasie so beschäftigt hätte, auf den sie es so abgesehen gehabt hätte, wie der kühne braune Kamerad, der allem im Stande gewesen war sie zu erregen. Ihre lasterhaften Vorstellungen hatten ihr vorgeschmeichelt, die flatterhaften Galanterien der Männer nachzuahmen. Sie hatte gehofft, daß sie im Umgange mit mehreren Anbetern die Wonnen unbeständiger Wünsche, den Stolz so vielfacher Verehrung fühlen werde. Und nun blieb sie kühl gegen alle, ausgenommen den Einzigen. Jedoch auch ihn, der ihre erwachende Sinnlichkeit beherrschte, liebte sie nicht. Ihr Herz blieb frei … als ob es im Schlafe liege. Selbst in ihren Träumereien mußte sie sich gestehen, daß sie für ihren Mann nur eine Art Zärtlichkeit fühlte, die ohne Zweifel aus einem außerordentlichen Mitleid für dieses schwache Wesen hervorging, daß sich der Liebe, die er sich erträumte, hingab. Es war ein eigenartiges Gefühl, daß sie niemand anderem gegenüber hatte, und das ihr Herz, das sie so sicher zum Schweigen gebracht zerstört zu haben glaubte, ein ganz klein wenig ergriff.

Der Beweis dafür war ihr das Wohlgefallen, das sie der aufwallenden Liebe Freds entgegenbrachte.

So freimütig wie sie war, hätte sie ihn zurückgestoßen, wenn sie ohne Begehren gewesen wäre, wenn sie nicht diese Art Zärtlichkeit gefühlt hätte, die sie zur Sanftheit ihm gegenüber geneigt machte. Übrigens gab sie zu, daß er reizend war, und wenn er sie auch nicht anzog, so erregte er in ihr auch keine Abneigung. Aber ihr ganzes Wesen war von Fernand unterjocht, stand unter dem Einfluß seiner starken Anziehungskraft, erbebte vor seiner Begehrlichkeit.

Sie dachte also an ihn, als sie den flammenden hinreißenden Versen zuhörte, die der junge Offizier, gleich einem Sklaven, zu ihren Füßen hinhauchte.

Stella seufzte, kokett schmachtend:

„Das ist alles wunderschön, lieber Herr, aber mein Mann wird gleich kommen, und Sie müssen schnellstens eine andere Stellung annehmen. Also vorwärts, stehen Sie auf und … … guten Abend!“ …

„O, gnädige Frau, Sie jagen mich fort! Und ich sterbe vor Liebe!“

Sie fand ihn so jämmerlich, daß sie sich vor Lachen schüttelte. Sie sah diabolisch aus, wie sie ihren geschmeidigen Körper hintenüberbeugte.

„O! Sie töten mich …“ sagte er.

Er umschlang, ganz den Kopf verlierend, ihre Knie und küßte sie.

Die junge Frau sprang auf, stieß ihn so heftig zurück, daß er im Aufstehen wankte; er war ganz bleich, seine Augen waren verstört, seine Hände zitterten. Ein Gefühl von Entrüstung erfaßte Stella. Diese Berührung brachte sie wieder zu sich selbst … erfüllte sie mit Besorgnis um eine Seelenreinheit von deren Besitz sie bisher selbst nichts wußte, und die plötzlich in ihr unter einem Schauer von Abscheu erblühte.

„O!“ murmelte sie in ihrem Ärger. „Sie sind merkwürdig kühn, mein Herr!“

„Entschuldigen Sie“ flüsterte der junge Offizier, „ich liebe Sie so sehr! Ich hoffte …“

„Was? Weil ich Ihre Verse lese und Ihnen manchmal einen freundlichen Blick zuwerfe und sie anhöre, … da setzen Sie gleich voraus …“

„Ach! Ja! Ich hoffte, Ihnen nicht allzu sehr zu mißfallen, gnädige Frau!“

„Als Dichter … das ist möglich … aber als … Liebhaber?“

„O Sie sind grausam!“

„Und Sie sind sehr waghalsig, daß Sie mich behandeln, wie ein alter Haudegen eine eroberte Festung. Nein!.. Ich verbiete ihnen, sich mir zu nähern …“

„Ach … ich sterbe vor Liebe!“

„Nun mein Herr trachten Sie sich zu sammeln. Guten Abend … nun so gehen Sie doch.“

Als der Offizier endlich fortgegangen war, setzte sich Stella wieder nieder. Ihre Knie zitterten.

„Da haben wir die Geschichte!“ sagte sie sich, ebenso überrascht über ihren Zorn, als über den Angriff des Leutnants. „Wie dumm ich bin, so zu poltern! was geht mir denn dabei so nahe? Ist es etwa die saubere Geschichte da? Nein, ich glaubte mich ganz einfach nicht genug Lucretia in diesem Punkt!“

Sie dachte ein wenig nach; dann lächelte sie. „Ich wette, daß ich weniger Skandal gemacht hätte, wenn es Fernand gewesen wäre. – Aber er kommt nicht, die Zeit ist vorüber. Er wird nicht kommen. Welche Katastrophe ihm wohl zurückgehalten hat? Er scheint mir im Grunde genommen Angst zu haben, seine Frau zu sehr zu kränken, der Ehrgeizige!!!“

„Ich hielt ihn für beständiger in der Liebe! Das ist schade! Ich hätte ihn heute Abend wirklich gern hier gehabt!“

Ein leichter Schritt wurde hörbar: die Portiere öffnete sich und Fred trat ein.

„Allein! Und traurig? Wirklich? Was drückt dich, meine Liebe? Bist du zu schön? Nicht? O … du bist schön! Ein Märchen. Ich traue mich nicht, dir nahe zu kommen ? du blendest mich!“

Mit leisem Rauschen ihres Kleides, dessen mit Perlen besetzter Stoff glitzerte, stand sie auf und ging auf ihren Mann zu, schlang ihre nackten Arme um seinen Hals und legte langsam ihren Kopf an dieses zarte schwache Herz, … das ganz ergriffen war … das vor Freude stärker pochte … weil er sich endlich geliebt wähnte! …

Dann murmelte sie, fast kindlich:

„Ich langweile mich!“

Er umarmte sie:

„Aber sei doch glücklich … du beglückst mich so sehr … so …“

„Gewiß“ dachte Stella, „wenn ich es könnte! Aber ich kann es nicht … das Glück der anderen ist mir gleichgültig … Gott, wie ich mich langweile!“

Sie hätte beinahe geweint bei den innigen Liebkosungen, die er ihr zu Teil werden ließ. Dieser Abend wurde sehr stimmungsvoll. Ihre Melancholie harmonierte mit Freds sehr trauriger Seele.

„Wenn sie ernst würde … dachte er … so könnte sie wie Mira werden … o wie schön das wäre … Ich glaube, das würde mir Kraft geben zu arbeiten …“

Er arbeitete wohl, doch es schien ihm, daß sie ihm nie zuhörte, wenn sie auch scheinbar aufmerksam war …

Er spielte Violine.

Dann fragte er:

„Gefällt dir das, Liebste?“

„Reizend“ antwortete sie, „aber sorge dich nicht um mich … gehe … spiele … arbeite.“

Dann fing sie wieder an zu träumen. Und Fred fühlte, wie die Flügeln seines Genius sich schlossen, erlahmten. Es war ihm nicht möglich, seine Frau zu sich zu ziehen, mit fortzureißen, aber er wollte noch bei ihr bleiben, und so stieg er wieder zur Alltäglichkeit des Lebens herab … zu kraftlos, um stolz und schmerzerfüllt in der einsamen Welt allein zu stehen.

Am nächsten Tag brachte die erste Post Stella einen Brief von Fernand, datiert aus einem vom Sitz der Präfektur entlegenen Arondissementshauptort. In korrekten Ausdrücken aber mit Worten, die zwischen den Zeilen zu lesen erlaubten, entschuldigte er sich, daß er den vergangenen Abend nicht kommen konnte; die Wahlen stehen vor der Tür. Man hatte ihn in aller Eile fortgesendet. Er würde mehrere Tage abwesend sein. Und er drückte seine Verzweiflung, seine Ungeduld in Worten aus, welche sich auf den Kummer beziehen konnten, daß er von seiner Frau fern bleiben mußte, die er so sehr liebte, die sein Leben bedeutete.

Stella beruhigte sich, aber sie erkannte, welche leere Fernands Abwesenheit in ihrer Tagesbeschäftigung verursachte.

Gewöhnt daran, sich fast täglich zu sehen … , gewöhnt viele Stunden bei ihr oder auswärts mit ihm zu verbringen, sich gegenseitig mit ihren unbefriedigten Wünschen aufzuregen, ihre Blicke in einander zu versenken, ihre Hände zu drücken, gemeinsam die Spiele zu spielen, die für sie nur Interesse hatten, wenn sie zufällig oder verabredet zusammen waren, suchte sie jetzt nach einem Mittel um die Stunden zu verkürzen, diese Leere die ihr unermeßlich schien, auszufüllen, ohne es zu finden[1].

Das Leben, wie sie es sich eingerichtet hatte, machte sie unfähig zu irgend einem geistigen oder seelischem Genuß.

Ihre Einbildungskraft hatte alle anderen Fähigkeiten vernichtet. Sie lebte in einer fortwährenden Überreiztheit ihrer Gedanken. Und wie ihr Gehirn sich durch ungewöhnliche Vorstellungen abnormal ernährt hatte, so machte ihr nichts Freude, als die Verwirklichung dieser Vorstellungen, so wie es für einen Dichter der einzige Genuß ist, die in seinem Kopf gleich einem Bienenschwarm vor dem Ausflug aus dem Bienenkorb summenden Reime in volltönende Verse zu ordnen.

Stella beging die Unvorsichtigkeit eine der vergnügten Nachmittagszusammenkünfte im Rondell ihres Parkes abzusagen. Die Unzufriedenen erkundigten sich nach der Ursache, errieten sie und man war entrüstet. Die Baronin war in ihren Launen wirklich zu weit gehend.

Nur der junge Leutnant ergriff ihre Partei. Er glaubte sie so ernsthaft gekränkt zu haben, daß er sich zum Rückzug verurteilte, aus Scham und vielleicht aus Angst.

Trotzdem traf sie ihn bei der Verlobungssoireé bei Kannenbergs, tanzte mit ihm und ließ sich verehren.

Der junge Mann, der glaubte in Gnaden wieder aufgenommen zu sein, wurde wieder mutig. Aber sie hörte ihn nicht an, war mit ihren vom Fieber des langen Wartens erregten Gedanken abwesend.

Die Tage vergingen.

Jetzt festigte sich in ihr der Entschluß, sich Fernand hinzugeben, weil sie erkannte, wie unentbehrlich er ihr war. Vielleicht glaubte sie so seinen Bestürmungen ein Ende zu machen und ihre Verachtung moralischer Bedenken ließ sie durch diese Bekräftigung ihrer Freiheit vor sich selbst höher erscheinen.

Stella hatte Alice nicht wieder gesehen; sie fürchtete jetzt, sich auf ein Terrain zu begeben, auf dem sie nicht sicher war, daß sich wie sie wußte, verändern konnte. Endlich erhielt sie Nachricht von der Präfektur: „Komme schnell, meine Liebe. Habe dir eine große Neuigkeit mitzuteilen.“

Stella eilte hin.

„Was für eine Nachricht? Ist das Baby zur Welt gekommen? Das ist aber unmöglich. Es wäre noch zu früh.“

„Ach natürlich! Aber wenn du wüßtest!“

Und indem sie ihr tief in die Augen sah, sagte sie:

„Wir verreisen.“

„Ihr verreist … eine Reise in deinem Zustand? Bist du von Sinnen?“

Stella war bleich geworden, aber behielt ihre gewohnte Selbstbeherrschung.

„O, die Doktoren haben es mir erlaubt … mit aller Vorsicht natürlich … und übrigens ist es ja keine Reise … sondern eine Versetzung meines Mannes. Er wurde zum ersten Sekretär des Ministers des Innern ernannt. Was für ein Avancement! Nicht wahr? Es ist Frau von Eulenburgs Verdienst, die, ohne uns etwas zu sagen, in dieser Angelegenheit vorgearbeitet hat. Fernand war auf einer Dienstreise begriffen. Man berief ihn telegraphisch ein. Ich erwarte ihn heute Abend zurück, und morgen sollen wir schon abreisen. Du kannst dir vorstellen, was für eine Unordnung und Aufregung wir jetzt im Hause haben.“

„Das glaube ich dir!“ erwiderte Stella ruhig. „Die Großstadt, dein liebe Großstadt! Jetzt bist du doch zufrieden … endlich?! …“

„O ja, gewiß,“ entgegnete die junge Frau erfreut.

„Du Undankbare! … Denkst du denn gar nicht an deine Freundinnen? Du verläßt uns ohne den geringsten Schatten von Traurigkeit!“

„Glaube das nicht, Stella! Ich bedauere dich sehr, meine liebe Stella, aber was ist da zu machen?“

„Ich sehe, wie leid es dir tut.“

Alice entgegnete lebhaft:

„Aber du wirft uns recht, recht bald besuchen, und ich werde auch wiederkommen. Dann schon mit dem Baby! So werden wir uns ja doch wiedersehen.“ „ Ich hoffe es … aber auch wir sind nicht darnach geschaffen unser Leben in der Provinz zu verbringen. Sobald das lyrische Drama Freds fertig ist, wollen wir … und zwar wird das sehr bald fein … nach Sauron, wo wir die große rote Villa gemietet haben. Ich hoffe, wir treffen uns also bald in der Großstadt für immer.“

„Umso besser!“ murmelte Alice mit vor Ärger zusammengebissenen Zähnen.

Nachdem sie sich gegenseitig bemüht hatten ruhig zu bleiben, umarmten sie sich. Aber ihre Blicke trafen sich, hart und drohend.

Bei diesem raschen Stimmungswechsel beherrschten sie sich nicht mehr so wie früher, und Stella wich instinktiv zurück, als ob sie sich ertappt fühlen würde. Alice ging auf sie zu um sie hinauszubegleiten. Sie ging mit schlangenartigen Bewegungen, furchtbar in der Niedertracht ihres Lächelns.

„Das wirst du mir büßen, meine Kleine,“ dachte Stella, während sie wie gejagt fortging, „Ah! Du entführst mir Fernand! Nun gut, wenn noch etwas zu meinem Entschluß gefehlt hätte … das entscheidet jetzt. Ich werde dich lehren mir zu trotzen!“

Sie kehrte in voller Eile nach Hause zurück, da sie ahnte, daß wenn Fernand bei sich zu Hause erwartet wurde, er zuerst zu ihr kommen würde. Er kam in der Tat. Er hatte, um am Bahnhof nicht erkannt zu werden, die Post genommen und kam nun staubig, seinen schönen schwarzen Bart zerzaust und mit zerdrückten Kleidern zu Stella.

Diese schloß mit kühnem Griff die Türe hinter ihm zu und während sie sich an die Mauer lehnte, zitternd vor Begehren, sah sie ihn an.

„Wie sehen Sie denn aus!“ sagte sie, nun schon ruhiger, indem sie ihn prüfend ansah, während er heftig und stoßweise atmete, da er, um nicht gesehen zu werden, die Treppe in großen Sätzen hinaufgelaufen war.

„Verzeihen Sie … ich hatte kein anderes Mittel Sie zu sehen, als mich so zu zeigen. – Fünf Stunden Wagenfahrt im sausenden Galopp. Ich bin gerädert. Und welchen Kummer ich habe! Wenn Sie wüßten! …“

„Ich weiß es schon. Alice hat es mir geschrieben, ich komme eben von ihr. Nehmen Sie Ihre Versetzung an?“

Er antwortete sehr überrascht.

„Aber es ist ganz unmöglich abzulehnen … meine ganze Zukunft wäre verloren.“

„Ach! Sie ziehen vor … wie es mir scheint … etwas anderes zu verlieren …“

„Sie? Niemals! Ich weiß genau, daß der Streich gegen Sie, von Alice und meiner Mutter geführt wurde, die mit vereinten Kräften dahin gewirkt haben … uns zu trennen.. Aber nichts, o nichts auf der Welt kann uns trennen, nicht wahr, meine innigst geliebte Stella?“

„Wenn es nur die Entfernung von hier zur Hauptstadt sein soll, das gewiß nicht.“

„Sie werden kommen … Sie müssen kommen und auch dort wohnen.“

„Glauben Sie, daß das so leicht ist, daß es allein in meiner Macht steht?“

„Sie müssen kommen. Kann ich denn ohne Sie leben? Und wir sollen uns so … so … trennen; … ist das nicht entsetzlich! Ich bin elend, krank vor Verzweiflung. Wenn ich Sie mit mir nehmen könnte, so an meiner Brust, … so ganz nahe bei mir, … an mich gepreßt … endlich mein … Stella!“

Sie wurde ironisch, ohne zu wissen warum, und während sie ihm ihre Hände überließ, die er leidenschaftlich drückte und sie heranzuziehen versuchte, streckte sie die Arme von sich, um ihn von sich fernzuhalten.

„Die Götter haben es anders beschlossen,“ sagte sie, sie war jetzt kaum gelockt dadurch, daß die Stunde ihr günstig war.

„Nicht die Götter, sondern Sie selbst, die Sie mich zurückstoßen … jetzt noch und immer. Eigensinnige Närrin! Die unsere schönsten Tage der Freiheit vergeudet hat!“

„Das finde ich nicht,“ sagte sie. „Und wer weiß. Die schönsten Stunden sind vielleicht jene, die wir schon durchlebt haben. Sie sind flatterhaft, mein Lieber. Ich fürchte Ihre Vergeßlichkeit, wenn Sie nichts mehr zu begehren haben.“

„O! Stella, die Plaudereien und Flirts sind vorbei. Jetzt ist es die Leidenschaft … die Leidenschaft allein, die ihre Rechte fordert! Ich liebe Sie! Ich will, ich muß Sie besitzen! Seien Sie gut und aufrichtig … und lieben wir uns!“

„Sie wissen es ja, daß ich nicht lieben kann!“

„O, es tut wenig zur Sache, was für einen Namen Sie dem Gefühl geben, daß Sie zu mir hintreibt. Denn das Vergnügen an unseren Zusammenkünften, den Schauer unserer gegenseitigen Berührung können Sie doch nicht leugnen!“

„Das hängt davon ab,“ sagte sie, während sie sich mit ihren Armen, die er an sich riß, verteidigte. „Ja, das hängt davon ab … was ich gerade für einen Tag habe.“

Ein Schrecken erfaßte sie, ein wirklicher Schrecken vor dem heftigen Angriff, den sie in den funkelnden, drohenden Blicken Fernands las! Noch immer bewahrte sie die Reinheit ihres Fleisches vor der Lasterhaftigkeit ihrer Gedanken.

Plötzlich stürzte er sich auf sie los, und preßte sie so fest an sich, die Hand in ihrem Haar, um ihr Gesicht an seinen Mund zu beugen, daß sie über diesen zu heftigen Anprall ärgerlich wurde, und ihn mit ihren kräftigen Fäusten, mit einem Ausdruck des Ekels zurückstieß.

Der schöne Fernand war aufs Höchste überrascht, gab sie frei.

„O!“ sagte er gekränkt, „wie es Ihnen gefällig ist. Ich wollte nur eine Umarmung, einen Kuß. Aber ich sehe, daß ich mich geirrt habe; Sie mögen mich allem Anschein doch nicht!“

„Nicht so,“ sagte sie. „Es würde mir nicht zusagen, brutal behandelt zu werden!“

„Also was sagt Ihnen denn zu? Haben Sie die Gnade das einmal zu sagen!“

Wußte sie es denn? Das hätte sie sich selbst fragen mögen. Sicher war es, daß sie von einem komplizierteren, von einem romantischeren Laster geträumt hatte. Sie hatte für ihre Nerven auf den Rausch einer höchsten Begierde gerechnet. Die unfreiwillige Kälte machte sie bestürzt.

Sie murmelte naiv:

„Ich weiß es nicht.“

Er lächelte und näherte sich wieder. Dann begann er demütig gerührt:

„Stella, ich werde abreisen! O ich leide so sehr! Es ist ein wunderlicher Seelenzustand!“

Diese leichten Phrasen reizten sie.

„Nun gut,“ sagte sie, „reisen Sie ab, da ich sie nicht zurückzuhalten vermag. Denn ich knüpfe eine Bedingung an das, um was Sie mich bestürmen. Wenn ich einwilligen würde, würden Sie mir Ihr Wort geben, die Stellung abzulehnen, die man Ihnen angeboten hat?“

Er wurde bestürzt, ungeheuer überrascht.

„Daran denken Sie doch nicht im Ernst, meine Liebe! Ist es denn möglich? Bin ich denn frei, ach Gott!“

„Man ist immer frei wenn man will!“

„Nein Stella, nein. Sie sind ein großes Kind, eigensinnig und hartnäckig. Sie wollen das Leben nicht begreifen; Sie glauben es sei so leicht sich von allem loszusagen … und seine Existenz aufs Spiel zu setzen! Ja wenn ich reich wäre! Ach! dann, ich schwöre es Ihnen … !“

„Schwören Sie nicht, mein Freund. Ich bin entschlossen. Sie wollen mich besitzen, aber ein Held sind Sie nicht.“

„Also nicht Liebe begehren Sie, sondern das Heldentum?“

„Vielleicht …“

„Ich dachte nicht, daß Sie so phantastisch wären.“

„Ich dachte es auch nicht“ sagte sie offenherzig. „Aber es scheint, daß alles möglich ist. Ja, es scheint mir jetzt … daß ich Sie lieben würde, wenn Sie eines großen Opfers fähig wären.“

„Sind das wirklich Sie, die so spricht?“

„Ich weiß nicht; nehmen wir an, daß das meine Laune ist.“

„Oder ihr Hochmut.“

„Nun also! Da ist der Hochmut doch zu etwas nützlich?“

„Ja, um mich zur Verzweiflung zu bringen.“

„Ach nein; Sie machen keinen verzweifelten Eindruck.“

„Weil ich noch hoffe, Sie Grausame!“

„Sie machen sich über mich lustig?“

„Ja oder nein; vielleicht“ sagte sie ernst: „Ich langweile mich, sehen Sie! O wie ich mich langweile! Also mein Freund … trennen wir uns!“

„Sie brechen mir das Herz.“

„Das ist ihre Schuld!“

„Also Stella, seien Sie vernünftig. Fordern Sie nicht unmögliches von einem armen Mann.“

„O, ich fordere gar nichts, mein Lieber. Ich fühle mich, ich gestehe es, ganz vereinsamt. Lassen sie mich. Sie erreichen heute nichts und wir könnten am Ende noch Zank miteinander bekommen. Gehen Sie; und wer weiß … eines Tages vielleicht, an einem anderen Ort … der mich mehr beeinflußt … in einem glücklicheren Augenblick … ich bin nervös seit einigen Tagen. Und wenn das über mich kommt, so weiß ich nicht mehr, was ich will. Die Krankheit des Willens. Ich werde mich bemühen, sie zu kurieren und hoffe, daß wir uns wiederfinden.“

Plötzlich dachte Fernand daran, daß bei ihm zu Hause die Minuten bis zu seiner Ankunft gezählt würden. An seinem unmerklichen Zurückweichen, und an seinem veränderten Blicken konnte man bemerken, daß er daran dachte.

Er seufzte:

„Also auf Wiedersehen! Meine schöne, vielgeliebte Stella! … Ich trage Sie in meinem Herzen … auf Wiedersehen!“

„Sie werden jeden Morgen Briefe von mir erhalten. Ich werde Ihnen schreiben, wohin ich Antwort erwarte … Bleiben wir gute Freunde!“

Er küßte ihr die Hände und die Handgelenke; aber er wagte nicht, seine Umarmung zu wiederholen. Dann, als sie ihn ruhig sah wurde sie wieder mutiger, bot ihm ihre Wange, welche sie, nach dem Kuß, den er darauf gehaucht hatte, ganz kühl wieder zurückzog.

So trennten sie sich.

Hinter ihrem Fenster stehend, sah ihn Stella fortgehen, staubig auf der staubigen Straße und eilig ohne sich noch einmal umzudrehen. Als er verschwunden war, fühlte sie sich sehr unglücklich.

„Ich bin dumm … zum prügeln“ murmelte sie, „nein dumm zum heulen.“ „Was werde ich jetzt tun?“


Nach düsteren verstimmten Tagen, an denen sie sich nicht einmal bemühte, den Abglanz ihrer schlechten Laune, die sie um sich verbreitete zu verbergen, erhielt Stella den ersten Brief von Fernand. Er war nicht unterzeichnet und in einer unkenntlichen Schrift … eine Vorsicht, die kindlich erschienen wäre, wenn es sich jemand hätte einfallen lassen die Korrespondenzen der Baronin Seuriet zu berühren. Aber der Briefträger hatte ihr die Post zuerst gebracht und niemand bekam den Brief früher als sie selbst zu Gesicht.

Dieser flammende stürmische Brief beruhigte sie. Fernand verzichtete nicht auf sie. Stella sollte ihm ins Ministerium schreiben mit einem verabredeten Zeichen auf dem Kuvert. Angeregt durch diese Art der Verführung auf Entfernung, tat sie es auch. In ihrem Zimmer eingeschlossen, in Sicherheit vor brutaler Verwegenheit, gefiel sie sich darin, diese durch jene weibliche Geheimtuerei herauszufordern, die Niemanden gleichgültig läßt. Einige Wochen vergingen für sie ganz angenehm in der Ausübung dieses Spieles, in dem sie Großartiges leistete. Die Antworten Fernands zeigten ihr, wie geschickt sie darin war, er schrieb wie irrsinnig. – Aber ihren Versprechungen und Drohungen zum Trotz kam er nicht sie aufzusuchen.

Vielleicht fürchtete er, daß die Ankündigung seiner Abreise schlecht aufgenommen werden würde. Vielleicht auch verpflichtete ihn das Verhältnis seiner Frau gegenüber zur Schonung.

Stella neckte ihn damit. Da teilte er ihr den Unfall mit, der Alice zugestoßen war … Infolge der Reise, welche sie, wie er eingestand, gegen den Willen der Ärzte unternommen, hatte ihr Zustand plötzlich zu ernsten Besorgnissen Anlaß gegeben. Und trotz äußerst sorgfälltiger Pflege hatte die junge Frau den Schmerz, vorzeitig ein totes Kind zur Welt zu bringen. Die ganze Familie war verzweifelt und verwünschte die Haupturheberin dieses Unglückes.

„Das ist gut! Jetzt habe ich ein Kind getötet!“ brummte Stella vor sich hin, war aber doch ein wenig beunruhigt. Wenn es wenigstens zu irgend einem Zweck gedient hätte! Aber für einen Flirt und für das Wenige an brieflicher Unterhaltung, war das doch ein zu teurer Preis.

„Ba! Ich bin noch immer mehr zu bedauern, denn ich langweile mich.“

„Schon blasiert?“ frug sie Mira eines Abends. –

„Ja“ antwortete die Baronin. „Nicht eine Katze ist hier, für die es wert wäre, sich herauszuputzen und in Gesellschaft zu gehen. Und was für eine Gesellschaft. Geistig Zurückgebliebene, Naive und Dummköpfe.“

„Nun gut, mein Liebling … suche dir ein anderes Mittel, dich zu zerstreuen, dich zu beschäftigen.“

„Ich verstehe dich! Danke! Das Leben einer Provinzlerin führen, nicht wahr?“

„Ach nein, aber beschäftige dich mit etwas … und auch mit deinem Mann!“

„Über das sprechen wir wieder, wenn es Fred gefällig sein wird ernstlich zu arbeiten!“

„Er arbeitet also nicht?“

„Er? Er raucht … er träumt und das ist alles. Ich habe wirklich nichts von ihm für mein Geld!“

„Pfui! Stella“ … sagte Mira … die für Stella errötete.

Wirklich verfiel die künstlerische Kraft Freds mehr und mehr; jede Flamme war erloschen. Und das Benehmen seiner Frau war nicht darnach angetan sie wieder anzufachen. Er … der träumte geliebt zu sein … er mußte leer ausgehen!

Nicht einmal jetzt, da sie tagsüber zu Hause blieb, sah er sie öfter als früher. Und wenn er sie nach einem langen einsam verlebten Tage aufsuchte, den sie einzig und allein damit verbracht hatte, in ihrem Sessel hingestreckt extravagante Pläne in ihrem Gehirn auszuspinnen; in ihre ungesunden Träume versunken, wie stehendes Wasser in einem Abgrund, war sie nicht einmal so gefällig ihm das Almosen der Heiterkeit zu reichen, mit dem sie ihn in früherer Zeit erfreut hatte.

Er erriet an ihrer mißachtenden Schweigsamkeit, daß sie ihm darüber grollte, daß es ihm bisher nicht gelungen war den Ruhm zu ernten … den sie sich binnen Kurzem erwartet hatte. Sie wandte den Kopf mit ungnädigem Lächeln ab, wenn er sich vergaß und in ihrer Gegenwart laut träumte. Und das ließ ihn vollständig in dem schrecklichen Nebel seines stummen Gehirnes versinken. –

Dieses oftmalige Sichwiederholen, daß er um jeden Preis ein Meisterwerk schaffen müsse, und die Furcht davor, daß er es nicht leisten könnte, lähmten ihn vollständig. Was sollte daraus werden? Wohin steuerten sie? Stella verzieh ihm auf keinen Fall. Ohne Zweifel fühlte sie sich betrogen, verraten, hintergangen.

Seine Qualen nahmen zu, aber sein Mut verringerte sich. Er fühlte sich manchmal unaufhaltsam jener Schwäche zutreiben, die damit endet, daß die Hand mit ihrer letzten Bewegung eine Waffe sucht, um mit einem Schlage eine langsame und grausame Agonie abzukürzen.

„Eines ist sicher,“ dachte er, … mein Leben ist verloren. Ich werde mich töten. Verflucht sei meine elende Schwäche. Sie wird meine Schuld tilgen, indem sie Stella von mir befreit. – Aber warum hatte sie das Verlangen meine Frau zu werden?! … Mira! … Mira! … Wie glücklich hätten wir sein können! Aber ich habe nicht mehr die Kraft zu arbeiten, sie heute anzurufen! Es scheint mir, als ob mein Herz seinen Platz verändert und die Stelle meines Gehirnes eingenommen hättet. Dort schlägt es nun, dort leidet es. Und der Liebesschmerz hat mein Genie verscheucht. Ich hätte geliebt werden müssen und ich wurde es nicht. Eine einzige Frau hatte ihr Herz an mein Herz gelegt … und diese Frau hat mich einer anderen gegeben, denn sie glaubte mein Glück damit zu begründen. O! Mira! wenn sie mich behalten hätte! Ja, sie hatte Angst zu alt für mich zu sein … und jetzt sind ihre Haare noch nicht gebleicht … wie die meinen, ihre Stirne noch nicht getrübt. Mir wäre der Balsam der Liebe zuteil geworden … o! Mira! Mira! … Du bist jung mit deinen dreißig Jahren, und ich bin ein Greis!

„Wahrlich,“ sagte die Baronin … mit erheuchelter Verlassenheit, „ich langweile mich sehr. Erfinde doch etwas um die blöde Existenz die wir führen zu ändern,“

„Aber sprich doch,“ sagte er, „ordne an. Was willst Du, daß wir tun sollen?“

„Hast du keine Ideen … Du? du glaubst, alles ist so am besten, wie es ist? Dir fehlt nichts?“

In einem plötzlichen Anfall von Aufrichtigkeit antwortete er:

„Wenn ich eine liebende Gattin an meiner Seite habe … nichts!“

„Das ist ja sehr lieb von dir. Aber ich frage nicht nach deinen Gefühlen, ich frage dich nach einer Idee!“

Traurig lächelnd antwortete Fred: „Gib mir eine Idee, und ich werde eine haben.“

„Das ist alles was du an Phantasie aufbringst?“

„Ja“.

„Na, sieh doch Fred, denke doch ein wenig vernünftig nach … willst du? Du mußt doch sehen, daß ich vermeide mit dir über gewisse Dinge zu reden. Da du sie aber auch vermeidest, muß ich mit der Sprache heraus. Was schlägst du vor zu tun? Du hast doch nicht die Absicht, nicht wahr, ewig in deinem Turm eingeschlossen zu bleiben und durch die Fenster zuzusehen wie die Schwalben vorbeifliegen, während ich in meinem Zimmer vergraben bleibe und damit beschäftigt bin, den Plafond mit einer Hartnäckigkeit zu betrachten, die ich anfange unerträglich zu finden. Wenn ich dich richtig beurteilt habe, so muß ich sagen, daß das Milieu in dem wir leben, – wenn man das „leben“ nennen kann – deinen Inspirationen nicht günstig ist. Wir müssen also auf eine Einsamkeitsexistenz im entferntesten Provinzwinkel verzichten, wo dein Gehirn keine Nahrung, keine Anregung erhält. Ist das nicht wahr?“

„Das ist richtig“ sagte er.

„Man baut nicht ein Monument, wenn man nur den Grundriß dazu macht. Man braucht auch Marmor für den Aufbau. – .. Strebe doch der Laufbahn zu, die allen offen ist, der Quelle zu, aus der alle schöpfen. Lasse uns in der Hauptstadt leben! Dort wirst du mit berühmten Künstlern Verkehr haben, wirst ihre Ideen kennen lernen, und wirst daran deine Phantasie entzünden. Das kritische Betrachten schöner Kunstwerke wird deine schöpferische Kraft anspornen. Du wirst es anders machen wollen, und wirst es besser machen, und der Erfolg wird riesenhaft anwachsen. Es ist meine Pflicht dich mit der ganzen mir zu Gebote stehenden Energie auf den Weg zu drängen, der dich zum Ziel führt, und den du, magst du nun wollen oder nicht, gehen wirst. – Willst du mir antworten?“

„Wie gut du bist, solche Gedanken zu haben! Ich danke dir.“

„Ich habe dich nicht gebeten mir zu danken sondern mir bei dem, was ich unternehmen will, zu helfen. Denn, du weißt, so etwas hängt nicht ganz allein von uns ab. Da ist Mira! Es ist unerläßlich, daß sie uns hilft. Wir sind nicht reich genug um in der Hauptstadt auf einem entsprechenden Fuß von unseren Revenuen zu leben.“

„Glaubst du?“ sagte er plötzlich unruhig.

Stella zuckte die Achseln.

„Wenn du nicht immer in den Wolken wärst, würdest du schon bemerkt haben, daß wir sogar hier einen tüchtigen Biß in meinen Mitgiftkuchen gemacht haben. Wie wird es erst dort sein! Und wenn der Rest dort zu Ende ist?!“

„Und wenn es mir nicht gelingt, ihr alles zurückzugeben?“

„Du … Zurückgeben?“

„Wir könnten unsere Ausgaben einschränken.“

„Danke! Der Meinung bin ich nicht. Das einzig Vernünftige ist, von Mira einen Zuschuß zu erlangen. Das ist nur richtig, sie ist reicher als wir; sie hat doch alles von meinem Vater … und sie ist allein. Braucht sie jährlich eine Rente von dreißigtausend Franks? Das ist beinahe schändlich … Sie ist eine Egoistin.“

„O Stella sag’ das nicht!“

„Warum nicht? Was sage ich denn Ungewöhnliches? Sieh mich doch nicht mit so jammernden Augen an. Ich kenne deine Bewunderung für Mira und ich teile sie auch, ich habe sie sehr lieb. Sie ist zu gut! Aber wenn es sich für mich darum handelt fortzugehen, wird sie aus Angst davor ganz wild. Wenn du wüßtest, was für Geschichten ich erzählen mußte, und was für Szenen ich ihr machen mußte um von ihr die Einwilligung zu unserer Heirat zu erhalten! Und alles das, um mich bei sich zu behalten … ausschließlich bei sich …“

„Du glaubst …?“

„Unter diesen Umständen kannst du sie veranlassen, uns etwas Geld zu geben,“ nahm Stella wieder das Wort.

„Ich!“ rief Fred aus, ganz erschrocken. „Ich soll sie um Geld bitten … sie!“

„Nun ja … warum nicht … ist das denn nicht ganz natürlich?“

„Nie … mals … hörst du! … Nie! … Stella! Alles eher … aber das nie … nie!“

„O, o! wie zartfühlend du bist!“ sagte sie, grausam in ihrer Frechheit. „Und doch wirst du dich dazu entschließen müssen. Das ist mein Ultimatum. Verstehe mich gut … und ich liebe es nicht zu warten. Wenn du in einigen Tagen bei Mira nicht Erfolg gehabt hast, gehe ich allein fort … ja … ganz allein …“

„Das wirst du nicht tun, Stella!“

Sie lachte ihr häßliches, gezwungenes Lachen.

„Du wirst dich davon überzeugen … demnächst. Erinnere dich unseres Übereinkommens vor der Hochzeit. – Ich bin frei … habe vollkommene Freiheit zu handeln wie ich will, bin frei ebenso wie du. Wenn du fortgehen wolltest, würde ich dich nicht zurückhalten. Bemühe dich, mir gegenüber dasselbe Verhalten zu beobachten.“

Fred war dieses Mal nicht schwach gewesen. Stella hatte Schulden gemacht, und sie waren abgereist. Als Fred vor seiner Abreise bei Mira war, hatten sie sich nur zu gut verstanden. Ihre beiden liebenden Herzen schlugen im Gefühle unsagbarster Reinheit zusammen. Wohltätige Beruhigung sank sanft und traurig auf sie herab. Er tröstete sich fast, in dem Gefühle, von dieser großen Seele so herrlich geliebt zu sein. Sie genoß seine zarte Verehrung wie ein Glück, daß sie für alle Schmerzen ihres Lebens entschädigte.

Sie sahen sich zum ersten Mal seit Stellas Hochzeit tief und ernst in die Augen, als ob sie ihre geblendeten Blicke in übermenschlichem Verstehen in das Geheimnis unendlicher Weiten versenken wollten.

So sahen sie sich im gegenseitigen Verstehen an, ganz hingegeben dem Entzücken, daß ihre magnetisch sich anziehenden Augen sich wiedergefunden hatten, die doch von jeher für einander bestimmt waren. Es war wie eine bräutliche Entkleidung ihrer hohen Seelen. Eine physische Erregung konnte nicht mehr an sie herankommen.

Und künftig, wenn sie es wollte, sollte sie alles erfahren. Fred würde ihr alle seine Gedanken gestehen und sie trug Sorge in ihrer erhabenen Seele, daß sie in seiner unendlichen Liebe unpersönlich blieb.

So ging die Zeit hin.

Zitternd hielt Frau von Ellissen einen Brief in ihrer Hand …

„Nun also, meine liebe Mira, liebe Mama, höre zu: Alles ist zerstört. Wenn du diese Zeilen erhältst, habe ich unsere gemeinsame Wohnung verlassen, und wohne allein. Die Adresse wird sich aber noch ändern, ebenso wie der Name, den ich trage. Endlich bin ich frei!

Es würde mir leid tun, wenn du dadurch Unannehmlichkeiten hättest, aber ich kann nichts dafür. Jeder lenkt sein Leben so, wie es ihm paßt, das ist sein Recht. Ich mache ganz einfach von diesem Recht Gebrauch. Unter uns gesagt, Fred ist ein Dummkopf.

Ich hätte ihn lieben können, wenn er mich besser verstanden hätte. Und ich gestehe es … einen Augenblick habe ich es gehofft. Ich habe mich geirrt. Das war eine Dummheit. Sprechen wir nicht mehr davon. Also, arme Mira, ein wenig Mut, alles wird sich früher oder später ausgleichen.

Wir waren nicht für einander geschaffen. Solche Entdeckungen kommen täglich vor. Nur wenn man vernünftig ist, schweigt man und fügt sich. Fred hat es vorgezogen, die Scheiben zu zerbrechen; wie er will. Es ist doch natürlich, nicht wahr, wenn man das Gitter des Käfigs zerbricht, daß der Vogel davonfliegt. Das ist doch nur logisch. Mein einziges Bedauern ist der Kummer, den ich euch beiden bereite. Aber schließlich, es ist zu spat für alles … da ich in den Armen eines Anderen sein werde. Also, meine Liebe, ich umarme dich und sage dir adieu, auf Wiedersehen, wenn der Zufall es so fügt.

Stella.“

Mira stand stumm und totenblaß da. Da trat der Diener ein und reichte ihr auf einer kleinen Tasse ein Telegramm. Es enthielt nur die beiden Worte:

„Kommen Sie!
Fred.“

Herzzerreißend schrie das junge Weib auf: „Er ruft mich – – – das heißt, daß er stirbt!“

Noch in derselben Nacht reiste Frau von Ellissen ab. Es war ihr unmöglich zu warten; wie verzweifelt stürzte sie sich in den nächsten Zug. Ihr ganzes Wesen konzentrierte sich auf diese eine Zeile, die sie in der nahenden Dämmerung noch lesen konnte. Unter den aufgetürmten Wolkenmassen glänzte noch ein grüngoldener Schein am Horizont. Dort war Fred, von dort aus rief er sie.

Sie litt qualvoll, von einer stets wachsenden Angst gemartert.

Ihr Herz schlug fast nicht mehr. Es war nur noch ein dumpfes Rollen das ihr in den Ohren klang, und das sie mechanisch, mit einer Bewegung, als ob es sie belästigen würde, vertrieb.

An der Vorderseite des Hauses war eine Tür in der niederen Mauer, welche Aussicht in einen schmalen Garten gewährte, der in voller Blüte stand; die Blumen strömten einen starken Duft aus, den der Wind ihr entgegentrieb als ob er sich über ihr Kommen freute.

Sie stürzte in das fremde Haus und rief mit aller Kraft:

„Fred! Fred … ich bin es! Ich bin hier!“ Sie ging mit ausgestreckten Händen, erschreckt über die Geräusche die sie beim Anstoßen an verschiedene Gegenstände erregte. Dann stürzte sie denselben Weg wieder zurück, wie wahnsinnig, wandte sich um, und glaubte fernes Ächzen zu hören, als wenn jemand seine letzten Seufzer aushauchen würde.

In den hellen Vorraum zurückgekommen, suchte sie sich zu beruhigen und sich mit Überlegung zurechtzufinden. Da hörte sie … … ja … sie hörte das einzige Wort „Mira“. Sie hörte ein Geräusch, wie das Aufklinken einer Türe, indessen war keine Türe geöffnet worden. Aber sie erkannte jetzt die Türe, welche ihr bezeichnet worden war. Sie ging mit schnellen und bestimmten Schritten bis zum Ende des Ganges, drehte ohne zu besinnen den Türknopf um, den sie in die Hand bekam und trat ein.

Es war richtig.

Da lag Fred, unbeweglich … seine Haare und sein Schnurrbart waren weiß geworden wie seine Bettücher … … er hatte das erhabene und verehrungswürdigste Gesicht eines Greises. Was war aus Fred in dieser kurzen Zeit geworden! Ein Leuchter mit drei Kerzen brannte auf dem Tische nächst seinem Bette, und ließ die Umrisse seiner so rasch abgezehrten Züge scharf hervortreten.

Von Schmerz ergriffen schritt sie vorwärts, die Hände gefaltet wie zum Gebet, und wiederholte einförmig klagend:

„Fred! Fred, ich bin da … um Ihren Namen, Ihre Ehre zu retten!“

Als sie ganz nahe an ihn herangekommen war, beugte sie sich mit ausgebreiteten Armen über ihn, in zu später Erlösung ihres Herzens, das dem seinen zugeneigt war, ihrer Lippen, die sie auf seine Stirne preßte. – – –

„Hören Sie mich an, Fred. Ich werde fortgehen um Stella, die Ihrer noch würdig ist, zurückzubringen. Und ich befehle Ihnen, auf mich zu warten, Fred. Nur einige Stunden verlange ich von Ihnen … von Ihrem Leben! Ich habe das Recht dazu … weil … erwarten Sie mich Fred … weil – !“

„Seien Sie barmherzig, bleiben Sie, um mir die Augen zuzudrücken!“

„Nein, nein … noch nicht … ich wende mich an Ihre Ehre. Ihr Name, Ihre Ehre müssen gerettet werden … dann … werden wir beide … dorthin gehen … dorthin … wo wir uns lieben werden … um uns niemals zu trennen.“

Fast mechanisch ging sie nach der Türe und verschwand.

„Lange Gasse 420!“ rief sie dem Kutscher zu. Vor dem hohen, neuen Hause angekommen, ging sie wie eine Nachtwandlerin an der Portiersloge vorbei, ohne zu fragen und schritt aufrecht dahin, die Blicke starr und durchdringend vor sich hin gerichtet. Der Portier kam heraus, doch sie erschien ihm so majestätisch und würdevoll, bis in die Falten ihres schwarzen Kleides, daß er es nicht wagte, sie anzurufen. Trotzdem hielt er es für vorsichtiger sie sich anzusehen und folgte ihr in einiger Entfernung:

„Irrt sich die Gnädige Frau nicht?“ frug er.

„Nein, ich gehe zur Baronin Seuriet“ antwortete Frau d’Ellissen kurz, wandte sich ein wenig um und ließ dabei ihr fahles Gesicht sehen. –

„Schön, schön,“ sagte der Portier respektvoll und um zu erklären warum er ihr folgte, fuhr er fort: „Im Halbstock, die Türe links.“

Sie stieg hinauf.

Stella öffnete die Türe und wich erschreckt vor dem Anblick, der sich ihr bot, zurück.

Sie hatte geahnt, daß es Mira, ihre Mutter sein würde.

„Ja, ich bin es“ sagte Mira ruhig.

Und sie trat ein, während sie ihre Tochter sanft zurückdrängte. Der Ton ihrer Stimme befreite Stella von dem Schrecken ihres Anblicks; sie täuschte sich nicht; sie träumte nicht, es war wirklich Mira, die es wagte, sie bis hierher zu verfolgen. Aus Ärger, vielleicht aus Verwirrung wurde sie purpurrot.

„Was willst du hier?“ frug sie trocken. „Da du den Weg hieher gefunden hast, mußt du auch wissen, daß du hier nichts zu suchen hast! Lasse mich in Ruhe, gehe! Ich bin für dich nicht mehr vorhanden, ebensowenig als für Fred!“

„Ich komme“ rief Mira jetzt zitternd aus, „um Freds Ehre zu retten … …“

„Du kommst von ihm …“

„Ja.“

„Es ist zu spät … gehe … Fernand kann jeden Augenblick kommen …“

„Elendes Geschöpf! …“ sie ging wortlos.

Sie eilte dem Lager zu, wo Fred im Sterben lag. Der kleine Revolver lag vor ihm auf dem Nachtkästchen. Mira warf sich auf ihn, preßte seine feuchte, warme Hand an sich. –

Sie nahm sein Antlitz zwischen ihre Hände, und hielt ihre Wange zu seinem Munde. –

Er atmete noch … o! … ganz leise.

Dann rief sie ihn mit all ihrer Kraft, mit ihrem ganzen Willen, rief ihn wieder … vielleicht war seine Seele noch nicht ganz entflohen. Zu spät kamen die Wort, die sie ihm in ihrer Selbstvergessenheit nun zurief: „Ich liebe dich … höre mich an … ich liebe dich … nimm mich mit dir.“

Sie hatte es nicht zu hoffen gewagt … seine Augen öffneten sich langsam, sein Blick der schon ganz abwesend war, irrte einige Sekunden umher, blieb dann auf ihr haften … die Augen erweiterten sich … seine Lippen erzitterten, und dann trat die endgiltige Ruhe ein. … … … Ein Schuß krachte, und Mira sank tot auf seine Brust.

Sie waren beide verschieden. Sie hatte seinen Brautkuß empfangen … diesen Kuß, den die liebende Seele der geliebten Seele Auge in Auge, in erhabener Verzückung gibt. … … … …

Die Baronin Seuriet erhielt inzwischen ein Telegramm.

Sie öffnete es und las:

„Hm“, dachte Stella, „er kommt nicht, das ist schade.“

„Geliebte, welches Unglück. Alice weiß alles, sie hat uns beobachten lassen, Sie und mich! Sie weiß die Adresse dieser Wohnung, wo wir unsere Zusammenkünfte hatten. Entsetzlich! Um sie zu beruhigen, habe ich schwören müssen, daß ich abreise. Und ich reise noch in dieser Stunde nach London, wo sie mit mir zusammentreffen wird. Wenn ich anders handeln würde, wäre alles verloren. Scheidungsdrohung, Stellung verloren, Skandal unvermeidlich! Fügen wir uns … und warten wir. Aber ich bin verzweifelt! Adieu, vielleicht auf Wiedersehen!

Fernand.“

„Der Feigling“ murmelte Stella.


Ende.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage:fiinden