Der Untergang des „Großen Kurfürsten“
Am 29. Mai Nachmittags fünf Uhr verließ das deutsche Panzergeschwader, bestehend aus den drei Schiffen „König Wilhelm“, „Großer Kurfürst“ und „Preußen“, die Rhede von Wilhelmshaven. Es war ein stattlicher Anblick, als die Panzer nach einander Anker auf gingen und, in Kiellinie formirt, unter Führung des Admiral- und Flaggschiffes „König Wilhelm“ davon dampften. Eine dichte Menschenmenge hatte sich auf den Molen versammelt, dem seltenen Schauspiele beizuwohnen und den Scheidenden den Abschiedsgruß zu bringen. Das nächste Ziel war Plymouth, wo der Kohlenvorrath für die weitere Fahrt nach Gibraltar ergänzt werden sollte. Nach einer raschen, vom besten Wetter begünstigten Reise wurde in der Frühe des 31. der englische Canal angesteuert und um acht ein halb Uhr Dover passirt. In selten scharfen Umrissen präsentirte sich das altehrwürdige Dover-Castle, welches mit seinem achteckigen Thurme die romantisch gelegene Stadt beherrscht. Die Stadt selbst, mit ihren aschgrau gestrichenen Häusern, macht einen düstern, fast unheimlichen Eindruck. Im Hafen schaukelte ruhig das für die Ueberfahrt nach Calais dienende Dampfschiff. Bewaldete Hügel, in üppigem Grün prangende Thäler, wogende Getreidefelder eilten rasch an unsern Augen dahin. Kein Nebelstreif hinderte die Fernsicht; ruhig war die See; kaum merklich wogte die Dünung hin und wieder, nur ein leises Lüftchen hauchte in die Segel der wenigen, langsam dahinschleichenden Schiffe. Freundlicher hat wohl die Sonne selten diese Küste von Alt-England beschienen.
Das Geschwader dampfte in Doppelkiellinie formirt mit einem auf hundert Meter geschlossenen Intervall. Voran „König Wilhelm“; an Steuerhord, das heißt rechts, folgte „Großer Kurfürst“ und in der Kiellinie des Admiralsschiffes schloß die „Preußen“. Die Panzer befanden sich Folkestone gerade gegenüber, einer blühenden Stadt von zwölftausend Einwohnern, dreieinhalb Seemeilen von den Molenköpfen des kleinen Hafens entfernt – da kreuzte eine holländische Bark, von der Landseite kommend, den Cours des Flaggschiffes.
Auf allen drei Schiffen wurden eben die Vorbereitungen für „Klar Schiff“ getroffen, eine Uebung, die auf Kriegsschiffen routinemäßig jeden Freitag Morgen abgehalten wird. Der „Große Kurfürst“ hatte „Alle Mann“ in Manöverdivision auf Verdeck versammelt, wo der erste Officier die Gefechtsrolle verlas, damit Jeder genau über seine Obliegenheiten unterrichtet sei.
Der „Wilhelm“ legte das Ruder Backbord und wich dem Segelschiffe, wie es vorgeschrieben, rechts hin nach dem Lande zu aus, die folgenden Schiffe thaten desgleichen. Nachdem die Bark passirt, beabsichtigte der wachehabende Officier des Flaggschiffes den alten Cours wieder anzunehmen, und commandirte das Ruder Steuerbord zu legen, ein Commando, welches aber von den Matrosen am Steuer mißverstanden und im entgegengesetzten Sinne ausgeführt wurde. Dieses Versehen war für den „Großen Kurfürsten“ verhängnißvoll. Immer näher und näher kamen einander die beiden Kolosse; schon kreuzten sich die Raaen, unvermeidlich war die Katastrophe. Die Uhr zeigte einige Minuten nach Zehn.
Ein furchtbares Krachen, der Detonation einer Explosion vergleichbar, welches einige Secunden andauerte, absorbirte alle anderen Sinneswahrnehmungen. Die Erschütterung der Schiffskörper selbst kam verhältnißmäßig wenig zur Empfindung. Das Bugspriet des „Wilhelm“ hatte über das Oberdeck des „Kurfürsten“ weg gefegt. Von oben prasselten auf diesem Stangen, Blöcke, Spieren; es regnete Holz- und Eisensplitter. Die Großraa hing zerbrochen in den sie haltenden Tauen; die backbordschen Seitenboote waren zertrümmert – eine unglaubliche Verwüstung das Werk eines Augenblicks. Die Mannschaft war, um sich vor dem fallenden Rundholze zu sichern, auf Commando nach Steuerbord gelaufen.
Der Rammsporn des Admiralschiffes hatte die linke Seite des „Großen Kurfürsten“ zwischen Groß- und Kreuzmast, unterhalb der Wasserlinie, tödtlich getroffen. Langsam neigte sich vor dem gewaltigen Anpralle das verwundete Schiff nach der gesunden Seite und schwankte dann zurück, um sich gleich allmählich nach Backbord überzulegen. Nur kurze Zeit waren die Schiffe aneinander; schon vor der Collision hatte der Admiral das Commando „Voll Dampf zurück“ gegeben und langsam entfernte sich der „König Wilhelm“ mit zerbrochenem Vorgeschirr von seinem dem Untergange geweihten Opfer.
Noch haftete der Sporn des „Wilhelm“, als auf dem „Kurfürsten“ die Schiffsglocke zur Verschlußrolle angeschlagen wurde. Jeder stürzte auf seinen Posten. Unter Führung des Zwischendeckofficiers, des Unterlieutenants Fouquet, eilten die abgetheilten Mannschaften in die Batterie und das Zwischendeck, um die wasserdichten Thüren und Pforten zu schließen. Gehorsam dem Befehle, wurde dieser junge, hoffnungsvolle Officier ein Opfer seiner Pflichttreue; der ihm zugetheilte Cadett fand kaum die Zeit, das Oberdeck zu gewinnen, noch im letzten Moment hatte er seinem Officier zugerufen, er möge sich retten, aber „eine Thür wollte derselbe noch schließen“. Diese Zögerung ward sein Verderben. Der erste Officier war zusammen mit dem Batterieofficier in das Zwischendeck und die Batterie gegangen, sich von dem Schlusse der Thüren und Pforten persönlich zu überzeugen. Um eines Haares Breite wäre auch ihm die Möglichkeit der Rettung abgeschnitten gewesen. Kaum erreichte er das Oberdeck, so kenterte das Schiff und warf ihn in die Tiefe. Wie von unsichtbaren Händen fühlte er sich nach unten gezogen und dort festgehalten, um erst nach geraumer Zeit die Oberfläche wieder zu gewinnen. Doch das alles geschah später.
Sofort das Schlimmste befürchtend, gab der Commandant Capitain zur See Graf von Monts das Commando „Volle Kraft“ in die Maschine und steuerte auf Land zu, um das Schiff auf den Strand zu setzen und so vor dem Untergange zu bewahren. Alle Lenzpumpen wurden auf seinen Befehl angestellt, die Maschine aus der Bilge gespeist, aber zusehends neigte sich der „Große Kurfürst“ nach Backbord; zu weit war der rettende Strand. Die beiden noch unversehrten Seitenboote wurden heruntergefiert, was trotz des Ueberliegens mit Präcision und Schnelligkeit ausgeführt wurde. Das eine Boot schlug leider voll Wasser und versank, während der Kutter zu Wasser kam. Mit seiner Mannschaft hielt der Bootssteurer zwanzig Schritte vom sinkenden Schiffe entfernt auf Riemen, um später mit großem Erfolge bei der Rettung thätig zu sein. Die Zurrings und Taue, durch welche die auf Deck stehenden schweren Boote befestigt sind, wurden auf Befehl durchschnitten, um sie beim Sinken des Schiffes flott zu erhalten, was auch bei einem Boote, der Dampfpinaß, gelang.
Ueber alles Lob erhaben war die Haltung und das Benehmen der Mannschaft; vollgültig bewährte sich in diesen fürchterlichen Minuten, welche dem Todeskampfe von Hunderten von braven Leuten vorangingen, die strenge Disciplin, wie sie an Bord unserer Schiffe gehandhabt wird. Mit größter Ruhe und Kaltblütigkeit wurden die verschiedenen Commandos gegeben und, wie sie gegeben, so ausgeführt. Obgleich Viele, des Schwimmens nicht kundig, dem sicheren Tode in’s Antlitz sahen, war auch nicht eine Spur von Unordnung oder Verwirrung bemerkbar. Eine unheimliche Stille, welche nur von den Commandoworten des Capitains unterbrochen wurde, zeugte allein von der drohenden Gefahr, die in ihrer ganzen Größe Keinem unbekannt sein konnte. Wohl Mancher gedachte in diesen Augenblicken in banger Todesahnung der Lieben in der Heimath, die er erst vor zweimal vierundzwanzig Stunden verlassen hatte und nun nimmer wiedersehen sollte.
Alle Maßregeln waren erschöpft. Immer höher stieg das Wasser; der Maschinen-Ingenieur Ehrenkönig kam an Deck und meldete dem Capitain, daß alles Pumpen fruchtlos sei; da gab dieser das Commando: „Alle Mann an Deck!“ und „Stopp!“ in die Maschine. Mit seltener Kaltblütigkeit stieg der Stabswachtmeister [519] mit seinem Gefreiten noch in der letzten Minute in das Zwischendeck, wo die Arrestantenzellen sich befinden, und befreite die beiden Insassen aus ihrem Gefängniß. Der wachhabende Seesoldat befand sich in vorschriftsmäßigem Anzuge auf seinem Posten. Alle wurden gerettet, der Seesoldat mit umgeschnalltem Seitengewehr und Patronentaschen.
Der wachhabende Ober-Maschinist blieb mit seinem ganzen Personal in der Maschine; er soll, wie ein Heizer erzählt, der durch den bereits horizontal liegenden Ventilator geschwemmt und als Einziger von der ganzen Wache gerettet wurde, den Befehl ertheilt haben, daß Keiner ohne Ordre seinen Posten verlasse. In treuer Erfüllung ihrer Pflicht gingen Alle unter; sie legten ein beredtes Zeugniß ab von der Berufsstreue und dem Subordinationsgefühle, welche unserer jungen Marine innewohnen und sie ebenbürtig der siegesgekrönten Armee zur Seite stellen. Mit Recht kann noch in fernen Zeiten die deutsche Flotte stolz sein auf diejenigen, welche hier den Heldentod starben. Ein besonders grausiges Verhängniß traf einen Maschinisten Marten, der, zum Schmieren der Welle in den Tunnel geschickt, hier mit eingeschlossen wurde.
Wie unten in der Maschine das Maschinenpersonal, so thaten oben am Ruder die Matrosen ihre Schuldigkeit. Die Ruderspeiche in der Hand, gingen sie unter. Alle ruhen im kühlen Seemannsgrabe. Der Zahlmeister blieb während der ganzen Zeit in seiner Kammer. Ein Aspirant sah ihn dort sitzen, mit dem Packen und Ordnen von Papieren beschäftigt. Die Aufforderung, an Oberdeck zu gehen, da das Schiff im Sinken, beachtete er nicht, sondern beharrte bei seiner Arbeit, die er nicht vollenden sollte.
Schon war das Wasser über die Regeling gestiegen und die Wellen bespülten die Panzerthürme, schon streiften die Raaen am Backbord das Wasser und noch hatte Keiner das Schiff verlassen. Einige waren in die Wanten gestiegen, Andere saßen oder standen auf der Regeling. Der größere Theil der Mannschaft hatte sich ziemlich gleichmäßig auf die Steuerbordseite vom Großmast bis zum Bugspriet vertheilt. Auf dem Achterdeck, welches den Matrosen außerdienstlich zu betreten verboten, befanden sich nur einige wenige Officiere.
Um zehn Uhr zwölf Minuten, etwa sechs Minuten nach dem Zusammenstoße, kenterte der „Große Kurfürst“. Zuerst verschwand das Hinterschiff, zuletzt der Kiel, welcher nach oben zeigte. Ein entsetzlicher Angstschrei aus Hunderten von Kehlen durchzitterte in diesem Augenblicke die Luft. Wir Augen- und Ohrenzeugen werden das furchtbare Schauspiel, welches sich jetzt im Wasser abspielte, nicht vergessen.
Wie von einem Eisberg, so rutschten Hunderte die glatte Bordwand und den Kiel herunter in’s Wasser. Nachdem das Schiff verschwunden, folgte ein dumpfer Krach, und ein weißer Gischt spritzte etliche Fuß hoch auf; es war das letzte Lebenszeichen des mächtigen Panzerthurmschiffes, welches jetzt mit seinem ganzen Inhalt an Gut und Menschenleben auf dem Boden des Meeres ruhte. Der Kampf der Schwimmer mit den des Schwimmens Unkundigen spottet jeder Beschreibung. Mehrere Minuten währte das grausige Ringen um das Dasein. Das Seesoldaten-Detachement hatte sechs Unterofficiere, sämmtlich zu Schwimmmeistern ausgebildet. Keiner wurde gerettet. Der Ingenieur Ehrenkönig wurde im Wasser mit mehreren Matrosen und Seesoldaten um das Leben kämpfend gesehen. Vergebens war seine Kunst. Eisern umklammerten ihn die Arme der im Todeskampfe Ringenden und zogen ihn mit in die Tiefe. Ein gleiches Geschick hatte der Capitain-Lieutenant Ludewig, der sich vergeblich der des Schwimmens Unkundigen zu erwehren versuchte. Der Commandant, welcher nach seinen eigenen Worten mit diesem Leben abgeschlossen hatte und als einer der letzten von dem Schiff heruntergespült wurde, rettete sich in die Dampfpinaß, welche beim Sinken flott geworden. Doch war das Boot der Last, die ihm zugemuthet, nicht gewachsen und sank mit etwa achtzig Menschen unter. Die große Mehrzahl der schon einmal Geretteten fand dabei ihren Untergang, unter ihnen auch der Graf Schwerin. Commandant und erster Officier wurden in bewußtlosem Zustande von Booten des „Wilhelm“ aufgefischt. Ersterer hatte einen schweren Kampf mit mehreren Matrosen zu bestehen; bei Beiden war es noch Stunden nach der Rettung zweifelhaft, ob die Gefahr für ihr Leben beseitigt sei.
Nach der Katastrophe führte der „König Wilhelm“ alle Seitenboote zu Wasser und traf Anstalten, die Decksboote auszusetzen, was ebenfalls in kurzer Zeit bewerkstelligt wurde. Rettungsbojen, gezurrte Hängematten, Schwimmgürtel, Putzen, Balzen, überhaupt schwimmende Gegenstände aller Art, wurden über Bord geworfen, den Schiffbrüchigen einen Halt zu gewähren. Ein Bootsmanns-Maat, der schon langhin geschwommen, wurde bei dieser Gelegenheit so unglücklich von einem Holzeimer an den Kopf getroffen, daß er sofort untersank. Mehrere von der Wilhelm-Mannschaft sprangen sogar über Bord, ihren Cameraden im Wasser Hülfe zu bringen. Von allen Seiten wurden den Sinkenden Taue und Stricke zugeworfen, aber Manchem versagten, ob der ungewohnten Anstrengung und des langen Aufenthalts im kalten Wasser (9 1/2 Grad C.), die Kräfte. Sie vermochten nicht mehr das rettende Tau zu ergreifen und gingen unter, angesichts der ihnen winkenden Hülfe. Inzwischen fuhren die sämmtlichen Boote des „Wilhelm“ und der „Preußen“, die etwas weiter von dem Orte der Katastrophe zu Anker gegangen war, hin und her und nahmen die Ueberlebenden auf, und ebenso verfuhren mehrere englische Fischerboote, welchen etwa fünfzig Leute ihre Rettung verdanken.
Das Ereigniß ist gerade dadurch so entsetzlich, daß es einen Augenblick vorher noch fast undenkbar war. Nicht im Kampfe, nicht im Sturme, nicht im Nebel, wo das Herz sich gegen äußerste Gefahr rüstet, nein, im lachendsten Sonnenscheine, mitten in alltäglicher Pflichterfüllung brach der tückische Tod über Hunderte in üppigster Lebenslust Athmende mit einem Krache den Stab. Beneidenswerth Jeder, der das entsetzliche Bild dieser Katastrophe nicht mit solcher quälenden Deutlichkeit durch Jahre in der Erinnerung tragen muß, wie mit so manchem Cameraden Derjenige, welcher vorstehende Zeilen niederschrieb!
- ↑ Wie Vieles und wie Ergreifendes auch gleich in den ersten Tagen nach dem Untergange des „Großen Kurfürsten“ über das herzerschütternde Unglück veröffentlicht worden ist, immer noch, so hoffen wir, wird das, was ein Augenzeuge, wenn auch mit Zurückhaltung seiner Person, über die Katastrophe erzählt, die Theilnahme unserer Leser finden.
D. Red.