Die neue Mechanik (Poincaré 1910)
NATURWISSENSCHAFTLICHEN MONATSSCHRIFT
- Verehrte Anwesende!
Als von dem Vorsitzenden „des wissenschaftlichen Vereins zu Berlin“ mir der ehrenvolle Auftrag zuteil wurde, in diesem Verein einen Vortrag zu halten, war ich zuerst sehr in Verlegenheit. War doch die Wahl des Themas nicht leicht! Über die Literatur und Naturwissenschaften im allgemeinen zu sprechen, fühlte ich mich nicht berufen; viel näher lag es mir, wissenschaftliche Fragen zu behandeln, die ich beherrsche, speziell eine solche, die meinem Forschungsgebiet angehört. In diesem Falle aber drohte die Gefahr, daß ich mich in Abstraktionen verlieren könnte und bei meinen Zuhörern langweilig wirke. Denn Experimente, wie sie der Physiker und Chemiker vorführen kann, sind hier ausgeschlossen, Lichtbilder kaum zulässig oder doch nur mit knapper Not.
Ich hege nicht die Hoffnung, daß es mir gelingen wird, alle diese Schwierigkeiten zu beseitigen. Sie müssen nicht etwas Amüsantes erwarten. Ich habe mich entschlossen, über eine Art von Revolution zu reden, die das zu bedrohen scheint, was in der Wissenschaft bis dahin als das Sicherste galt, nämlich die Grundlehren der Mechanik, die wir dem Geiste Newtons verdanken. Vor der Hand ist diese Revolution freilich nur erst ein drohendes Gespenst, denn es ist sehr wohl möglich, dass über kurz oder lang jene altbewährten Newtonschen dynamischen Prinzipien aus diesem Kampf als Sieger hervorgehen werden. Immerhin ist es aber doch eine beachtenswerte Tatsache, daß sie sich zur Verteidigung anschicken müssen, denn noch vor wenigen Jahren hätte kaum jemand dies für möglich gehalten. Ich glaubte, daß es von einigem Interesse sein dürfte, Sie, verehrte Anwesende, auf dem laufenden zu halten über den gegenwärtigen Stand dieses Streites, weil darin ja alle unsere Vorstellungen, die wir uns seit Jahrhunderten von der Natur der Bewegung, von dem Begriffe der Zeit und des Raumes, von der Konstanz der Materie gemacht haben, plötzlich zusammenzubrechen scheinen. Andrerseits können diejenigen, welche an der naturwissenschaftlichen Erkenntnistheorie interessiert sind, eine heilsame Lehre aus solchen wissenschaftlichen Revolutionen ziehen. Sie zeigen uns nämlich, wie die Theorien der Wissenschaft einander ersetzen und ergänzen, wie die Ansammlung neuer Erfahrungstatsachen oft zum Verlassen alter Gedankenreihen führt und zur Annahme neuer zwingt, welche zweifellos nicht richtiger, wohl aber bequemer sind und sich der Gesamtheit der uns bekannten Tatsachen enger anschließen, sowie diese Tatsachen besser in ein harmonisches Ganzes einreihen lassen.
Es gibt ein Prinzip, welches in der alten Mechanik eine geradezu grundlegende Rolle spielt, das „Prinzip der Relativität“. Dieses Prinzip ist es auch, das in veränderter und erweiterter Form die Grundlage der „Neuen Mechanik“ bildet. Was hat es nun mit diesem „Prinzip der Relativität“ für eine Bewandtnis, worin besteht sein Wesen, wie läßt es sich aussprechen, und schließlich, welche Erfahrungstatsachen liegen demselben zugrunde? Es ist Ihnen allen bekannt, daß unsere Sinne uns nur die Kenntnis der relativen Lagenverhältnisse der Körper im Raume vermitteln; unser Auge kann uns nur Rechenschaft geben über die Lage der Körper inbezug auf das Auge selbst, es verrät uns dagegen nichts über deren absolute Lage. Es ist unfaßbar, wie der Mensch weiter vordringen könnte; bewaffnet er sein Auge mit einem noch so vollkommenen Teleskop, immer wieder wird er, genau so wie mit bloßem Auge, zu relativen Lagen geführt, und aus diesem Grunde muß man sich fragen, ob der Ausdruck „absolute Lage“ überhaupt einen Sinn hat. Ich für meinen Teil verzichte auf eine solche Fragestellung, denn ich weiß nur allzugut, daß sie sinnlos ist. Kurz und gut, unsere Raumvorstellung ist relativ, und dasselbe gilt auch von der Zeit.
Wir wollen uns nun ein Weltsystem vorstellen, so entfernt von den übrigen Weltsystemen, daß diese gar keinen Einfluß auf dasselbe ausüben, daß es von deren Existenz überhaupt gar nichts in Erfahrung bringen kann. Es handle sich beispielsweise um ein Sonnensystem, dessen FixsternMitglieder nicht mehr gesehen werden können. Denken wir uns, daß die Sonne, gegen welche das ganze System gravitiert, sich im Ruhezustande befinde, oder denken wir uns, daß sie durch den Weltraum eile mit einer Geschwindigkeit, die tausendmal größer ist als diejenige einer Kanonenkugel, und daß sie dabei alle ihre Planeten mit sich führe. Die Bewohner dieser Planeten werden von alledem niemals etwas erfahren können; es steht ihnen kein Mittel zur Verfügung, sich darüber Gewißheit zu verschaffen, ob sie in Ruhe sind oder sich bewegen. Alle von ihnen beobachteten Vorgänge spielen sich genau in derselben Weise ab, ob das eine oder das andere der Fall ist. Hierin ist das Prinzip der Relativität ausgesprochen, dessen Konsequenzen uns bald beschäftigen werden.
Was ist nun der „ruhende Punkt“ in der Erscheinungen Flucht? Einen solchen kann es doch nur geben! Eine Fülle metaphysischer Gründe hat die Menschheit stets bewogen, einen solchen ruhenden Punkt im Weltall anzunehmen. Diese Gründe können - das wird Ihnen klar sein - aber nicht gegen die Tatsachen streiten, wenn die tägliche Erfahrung nicht für sie spricht. Da der Raum an sich und durch sich selbst keinen aktiven Einfluß ausüben kann, wurde man naturgemäß zu der Ansicht geleitet, daß, wenn Körper in ihm eine gemeinsame Bewegung ausführen, d. h. sich gegeneinander nicht verschieben, daß dann alles sich genau so abspielt, wie wenn diese Körper in Ruhe wären. Das sind freilich nur metaphysische Überlegungen, auf welche die tiefer ins Wesen der Dinge eindringenden Gelehrten kein allzu großes Gewicht legen. Indessen schon früh hat man die Bemerkung gemacht, daß auf einem in Bewegung befindlichen Schiff, das weder rollt noch stampft, sich in der Tat alles so abspielt, als wenn das Schiff sich nicht bewegt, derart, daß die Passagiere die Vorstellung der Ruhe haben, solange nicht ein Blick auf die Ufer sie vom Gegenteil überzeugt. Erfahrung und Gewohnheit, wie sie sich tagtäglich darbieten, haben uns also das Prinzip der Relativität in glänzender Weise bestätigt, so daß wir auf dasselbe nicht ohne Widerstreben verzichten würden.
Und doch, das Prinzip ist nicht völlig richtig, es ist wenigstens nicht in dem Maße richtig, wie die Metaphysiker es wünschen würden. Wenn das Schiff geradeaus fährt, ohne sich nach rechts oder nach links zu drehen, ohne seine Bewegung zu beschleunigen oder zu verlangsamen – kurz wenn es, wie wir uns fachmännisch ausdrücken, eine geradlinig gleichförmige Translationsbewegung besitzt – dann ist das Prinzip ohne Widerrede richtig, nicht dagegen, wenn sich das Schiff um sich selbst dreht. Selbst wenn ein dichter Wolkenschleier uns beständig den Anblick des gestirnten Himmels entziehen würde, derart, daß wir die Vorstellung hätten, die Erde schwebe isoliert im leeren Raum, selbst dann könnten wir in Erfahrung bringen, daß die Erde sich in 24 Stunden um ihre Achse dreht. Foucault hat im Innern des Pariser Pantheons bekanntlich sein berühmtes Pendelexperiment gemacht und gezeigt, daß die Schwingungsebene des Pendels infolge der Erdrotation ihre Lage ändert. Vom Innern des Pantheon aus konnte er die Sterne nicht sehen, und doch erkannte er sehr wohl, daß die Erde sich dreht. Ja es bedarf dazu gar nicht eines schwierigen Experiments, denn auffällige Tatsachen, die wir tagtäglich beobachten, können zum Beleg herangezogen werden. Die ganze Meteorologie liefert uns den Beweis für die Erddrehung; denn infolge derselben wehen die Passatwinde beständig von Osten, drehen sich die Zyklone immer in derselben Richtung.
Das Prinzip der Relativität hat also keine Gültigkeit mehr, wenn die betrachtete Welt einer Rotationsbewegung unterworfen ist. Die Metaphysiker werden damit nicht zufrieden sein. Um so schlimmer für sie! Dagegen ist das Prinzip strenge richtig, wenn diese Welt sich in einer Translationsbewegung befindet, welche sie nur als Ganzes vorwärts führt, ohne sie zur Drehung zu bringen, wie rasch diese Translation auch sein möge. Wenn die Erdbewohner den gestirnten Himmel nicht sehen würden, so könnten sie zwar in Erfahrung bringen, daß die Erde sich um ihre Achse dreht, sie könnten aber nicht wissen, ob sie sich um die Sonne dreht. Wenn das nicht zutrifft, weiß ich nicht, ob die Wissenschaft überhaupt noch Existenzberechtigung hat. Es ist nun meine Aufgabe, Ihnen dies näher darzulegen.
Die Erde bewegt sich um die Sonne mit einer Geschwindigkeit von 30 km pro Sekunde. Aber gleichzeitig mit diesem Umlauf um die Sonne dreht sich die Erde um sich selbst. Ich will beispielsweise annehmen, daß in diesem Moment die Translationsgeschwindigkeit von Paris nach Berlin gerichtet sei. In 12 Stunden wird die Erde sich umgekehrt haben; die Translationsgeschwindigkeit wird dann von Berlin nach Paris gerichtet sein. Diese Geschwindigkeit ist enorm groß, viel größer als diejenige, welche wir gewohnheitsgemäß kennen, wie etwa die unserer Lokomotiven und Automobile. Wäre also das Prinzip der Relativität nicht richtig, so würde diese Translationsgeschwindigkeit von beträchtlichem Einfluß sein, indem dann alle 12 Stunden die Gesetze der Mechanik sich vollkommen umkehren müßten. Der Mensch, welcher schon so viel Schwierigkeit bei dem Nachweis der Bewegung der Erde hatte, würde absolut nichts begriffen haben von solchen Umwälzungen, er müßte sie einfach der Laune der Götter zuschreiben. Er würde wahrscheinlich zu der Schlußfolgerung kommen, daß sich in ihnen kein Gesetz offenbart, er würde darauf verzichtet haben, die Wissenschaft zu gründen. Vielleicht würde bei diesen Verhältnissen selbst das Leben ein Ding der Unmöglichkeit gewesen sein, indem nämlich die Organismen, die sich den Verhältnissen des Tages angepaßt haben, nicht fähig sein würden, bei Nacht in einer Umgebung zu leben, die von der des Tages ganz verschieden ist. Glücklicherweise ist nun aber das Prinzip stichhaltig, und die Erfahrung bestätigt es. Ich muß hierbei jedoch einem Einwand begegnen. Hier liegt ja ein Prinzip vor, das uns klar und deutlich darüber belehrt, daß es unmöglich ist, in Erfahrung zu bringen, ob die Welt einer allgemeinen Translation unterliegt oder nicht. Um dies zu verifizieren, müßte man auf einer Welt, die sich in Ruhe befindet, experimentieren, und dann auf einer Welt in Bewegung; schließlich müßte man zeigen, daß in beiden Fällen die Gesetze der Physik die gleichen bleiben. Aber, wird man wieder einwenden, soll dieser Nachweis geführt werden, so müßte man ja wissen, ob im ersten Fall die Welt in Ruhe ist, im zweiten in Bewegung, und es ist ja ganz bestimmt gesagt worden, daß es ein Ding der Unmöglichkeit ist, hierüber etwas in Erfahrung zu bringen.
Dieser Widerspruch ist nur ein scheinbarer. Es gibt zwei Wege, um das Prinzip auf seine Richtigkeit hin zu prüfen. Zunächst existieren in einer Welt, die sich im Zustand der Ruhe befindet, keine bevorzugten Richtungen, weil sich ja diese Welt weder nach der einen oder nach der anderen Richtung bewegt. Alle Richtungen haben in diesem Fall gleiche Geltung; ein Gesetz, das sich für einen Körper bewahrheitet, der sich von N. nach S. bewegt, bewahrheitet sich auch für einen Körper, dessen Bewegungsrichtung von O. nach W. ist. Dies drücken die Gelehrten mit den Worten aus: eine solche Welt verhält sich isotrop. In einer bewegten Welt wird dies nicht mehr der Fall sein, insoweit es mit dem Prinzip nicht seine Richtigkeit hat. Die Richtung der Gesamtbewegung der Welt würde in diesem Fall unter allen anderen Richtungen bevorzugt sein, und die Gesetze der Bewegung würden nicht mehr die gleichen sein für Körper, die sich in der nämlichen Richtung bewegen, wie die Welt, zu der sie gehören, und für diejenigen, welche einen entgegengesetzten Bewegungssinn haben. Eine solche Welt würde also nicht mehr isotrop sein. Eine bewegte Welt muß aber im Gegensatz hierzu isotrop sein, wenn das Prinzip der Relativität sich bewahrheitet, da sie sich ja in nichts von einer in Ruhe befindlichen Welt unterscheiden soll. Nun können wir aber beweisen, daß die Welt, in der wir leben, isotrop ist. Also entweder ist das Prinzip richtig, oder unsere Welt befindet sich in Ruhe. Aber es wäre doch geradezu als Zufall zu bezeichnen, wenn sie in Ruhe wäre! Unendlich viel wahrscheinlicher ist ihre Bewegung, und daraus folgt schließlich, daß das Prinzip richtig sein muß.
Diese Beweisführung dürfte vielleicht nicht genügen; indessen wir können noch in anderer Weise schließen. Die Erde ist so weit von den Sternen entfernt, daß deren Einwirkung auf die terrestrischen Phänomene durchaus vernachlässigt werden kann. Diese Phänomene vollziehen sich also so, als ob keine Sterne vorhanden wären oder als ob die Erde isoliert im Weltenraum schwebt. Und doch wissen wir durch Beobachtung der Gestirne, daß die Erde in Bewegung ist, daß ihre Translationsbewegung nicht immer gleiche Richtung hat, sondern daß die Erde, wie wir uns ausdrückten, alle Augenblicke mal bald von Paris nach Berlin, bald von Berlin nach Paris wandert. Trotz alledem konstatieren wir, daß die terrestrischen Phänomene immer den gleichen Gesetzen unterliegen und durch diese Richtungsänderungen in keiner Weise beeinflußt zu werden scheinen.
Von diesem Gesichtspunkt aus haben also die Begründer der Mechanik seit langer Zeit das Prinzip der Relativität für zulässig erachtet; es bildet auch die Grundlage der alten Mechanik vermittels eines Gedankenganges, den ich Ihnen in aller Kürze darlegen will. Ein Körper möge vom Ruhezustand aus sich in Bewegung setzen infolge einer Kraft, die eine Sekunde lang auf ihn einwirkt. Dieselbe wird ihm dann eine gewisse Geschwindigkeit erteilen, die ich v nennen will, und die durch eine gerade Strecke dargestellt werden kann. Die Kraft fährt nun fort, auf den Körper einzuwirken während einer zweiten Sekunde; die Geschwindigkeit des Körpers wird wachsen, aber um wieviel? Wir wollen uns einen Beobachter vorstellen, der sich mit der Translationsgeschwindigkeit v bewegt und meint, daß er sich in Ruhe befinde. Ihm wird am Schluß der ersten Sekunde der Körper zu ruhen scheinen, weil er ja dieselbe Geschwindigkeit hat wie der Beobachter. Vermöge des Prinzips der Relativität muß für unseren Beobachter die scheinbare Bewegung dieses Körpers dieselbe sein, als wenn dieser Ruhezustand ein wirklicher wäre, d. h. am Ende der zweiten Sekunde wird die relative Geschwindigkeit des Körpers in bezug auf den Beobachter v sein, und da der Beobachter selbst schon eine Geschwindigkeit v hat, wird die absolute Geschwindigkeit des Körpers 2v sein. Die Geschwindigkeit wird sich also in der zweiten Sekunde verdoppeln. Man ersieht in gleicher Weise, daß sie nach Ablauf von 3 Sekunden 3v wird, nach Ablauf von 4 Sekunden 4v und so fort. Die Geschwindigkeit kann also, wenn die Kraft nur genügend lange wirkt, über alle Grenzen wachsen.
Diese Schlußfolgerung erscheint unantastbar. Ganze Generationen von Studierenden und Gelehrten haben sie immer in der gleichen Weise gemacht, ohne die Fehler zu bemerken, während wir jetzt aus eben diesem Prinzip der Relativität absolut entgegengesetzte Folgerungen ziehen müssen. Nur dadurch, daß wir diese Ergebnisse mit der sehr einfachen Schlußfolgerung, welche gegen sie zu sprechen scheint, vergleichen, werden die Fehler uns vor Augen treten; es wird dann freilich auch nötig sein, sie ein wenig näher zu beleuchten. Sie sehen, wie diese Umstände uns zur Lehre dienen und uns zeigen können, wie vorsichtig man mit seinen Schlüssen sein muß.
Bisher haben wir nur von der Mechanik gesprochen, und damit kamen wir gut vorwärts. Leider umfaßt nun aber die Mechanik nicht die ganze Physik; es wird jetzt nötig sein, z. B. auch die Elektrizität, zunächst aber die Optik in den Bereich unserer Betrachtungen zu ziehen. Hier beginnt die Schwierigkeit. Das Licht pflanzt sich mit einer Geschwindigkeit fort, die uns bekannt ist; sie ist sehr groß, das läßt sich nicht bestreiten, nämlich 300000 km in der Sekunde. Daraus ergibt sich nun anscheinend ein Mittel, um zu entscheiden, ob wir uns in Ruhe oder in Bewegung befinden, kurz ein Mittel, die absolute Bewegung kennen zu lernen. Ich will sogleich einen extremen Fall betrachten. Hier ist eine Lichtquelle S und dort ein Beobachter O; sie entfernen sich voneinander mit einer Geschwindigkeit von 400000 km, also mit einer Geschwindigkeit, die größer als die des Lichts ist. Wie ist es nun? Ist der Beobachter in Ruhe, während die Lichtquelle sich zur linken Hand hin mit einer Geschwindigkeit von 400000 km bewegt, oder ruht die Lichtquelle, während der Beobachter sich von ihr zur rechten Hand hin mit derselben Geschwindigkeit entfernt, oder bewegen sich beide nach entgegengesetzter Richtung, jeder mit einer Geschwindigkeit von 200000 km? Die Beobachtung der mechanischen Phänomene gibt uns kein Mittel an die Hand, darüber etwas zu erfahren. Wie wird sich die Sache aber nun stellen, wenn wir auf die optischen Phänomene Rücksicht nehmen?
Hierauf hat bereits Flammarion in einer amüsanten Phantasie eine Antwort gegeben. Der Beobachter, den er „Lumen“ nennt, wird die Phänomene in umgekehrter Reihenfolge sehen. Ist er z. B. Zeuge der Schlacht bei Waterloo, so sieht er zuerst das Schlachtfeld mit Toten bedeckt; nach und nach werden sich die Toten erheben, um ihren Kampfplatz einzunehmen, und schließlich werden sie sich in Bataillone ordnen, die völlig intakt und kampfbereit dastehen. In der Tat, so wird sich die Sache abspielen, wenn die Lichtquelle unbeweglich ist, dagegen Lumen sich bewegt; denn Lumen bewegt sich ja viel schneller als die Lichtwellen, und wenn z. B. dieser Herr Lumen von der Erde in dem Augenblick abgereist ist, in dem die Schlacht ihr Ende hat, wird er nach Ablauf einer gewissen Zeit das Licht einholen, welches zu Beginn des Kampfes von der Erde ausging, so daß er, der bei der Erde den letzten Kämpfen zugeschaut hat, von der Ferne aus das erste Geschützfeuer sehen wird.
So, wie ich es soeben schilderte, wird sich aber der Vorgang keineswegs abspielen, wenn die Lichtquelle sich entfernt und der Herr Lumen in Ruhe bleibt. Dieser würde dann die Schlacht an Ort und Stelle beobachten, wobei sie sich allerdings mit einer majestätischen Ruhe entwickeln würde. Das Entgegengesetzte würde der Fall sein, wenn sich die Lichtquelle ihm mit einer Geschwindigkeit von 400000 km nähert; er wird dann die Schlacht in umgekehrter Reihenfolge sehen, weil die zu Ende der Schlacht ausgesandten Lichtwellen aus größerer Nähe kommen würden, also einen kürzeren Weg zurückzulegen haben und somit schließlich zuerst anlangen würden. Lumen würde also in allen diesen Fällen über ein Mittel verfügen, durch das er erfahren könnte, ob er es ist, der sich von der Lichtquelle entfernt oder sich ihr nähert, oder ob umgekehrt die Lichtquelle es ist, welche sich ihm nähert oder sich von ihm entfernt. Ich gebe gerne zu, daß das Experiment in der Weise, wie es sich Flammarion gedacht hat, mit den gegenwärtigen Hilfsmitteln unserer Laboratorien sich nicht so leicht wird realisieren lassen. Solch phantastische Geschwindigkeiten stehen uns nicht zur Verfügung, und, wenn sie uns zur Verfügung ständen, so würden die Beobachter doch nicht viel unterscheiden können. Ich habe aber absichtlich ein solch extremes Beispiel gewählt, dessen Ergebnis ein Extrem sein würde, weil es sich dabei um nichts Geringeres handelt als um eine Umkehrung der Zeitfolge. Würden wir bescheidenere Mittel gebrauchen, so würden auch die Resultate entsprechend bescheidener ausfallen, aber sie würden, den älteren Theorien zufolge, sich mit unseren Instrumenten immerhin noch nachweisen lassen. Das extreme, von mir vorhin gewählte Beispiel dürfte aber wohl genügen, um Ihnen die Sache verständlich zu machen.
Nun bietet sich eine Frage dar: läßt sich das Prinzip der Relativität auf die optischen Phänomene anwenden? sind diese Phänomene außerstande, die Translation der Erde uns zum Bewußtsein zu bringen? Wenn wir diese Frage mit „Nein“ beantworten müßten, dann würden sich die Metaphysiker darüber gewiß nicht aufregen; sie würden uns sagen: Ihr glaubt die absolute Bewegung der Erde gemessen zu haben, aber Ihr täuscht Euch; Ihr habt ja nur die relative Bewegung der Erde in bezug auf den Äther sicher gestellt, Ihr wißt ja gar nicht, ob der Äther selbst in Ruhe ist; das Prinzip ist also gerettet. Indessen die Physiker, welche eine Art Instinkt oder Empfindung für die Relativität haben, würden darin keine Beruhigung finden. Auf jeden Fall kann hier nur die Erfahrung allein den Ausschlag geben.
Das erste Phänomen, daß hier Erwähnung finden muß, ist die Aberration des Lichtes. Es ist bekannt, daß die Richtung des Fernrohrs, wenn man es auf einen Stern einstellt, nicht genau der geraden Richtung entspricht, welche vom Auge zum Stern läuft, weil das Fernrohr die Translationsbewegung der Erde mitmachen muß und daher verschoben wird. Es ist genau so, wie man, um auf einen laufenden Hasen zu schießen, vor das Ziel visieren muß. Das Licht liefert uns also einen Beweis für die Translation der Erde. Hierbei muß man freilich beachten, daß es für diese Zwecke eines Sternes bedarf, also einer außerhalb der Erde befindlichen Lichtquelle, und daß man nur die relative Verschiebung der Erde in bezug auf diesen Stern beobachtet. Die Aberration spricht also nicht gegen das Prinzip der Relativität.
Werden nun die optischen Phänomene, die sich auf der Erdoberfläche selbst abspielen, durch die Bewegung unseres Planeten auf seiner Bahn gestört? Das ist eine andere Frage, und man hat viele Wege gesucht, um sie zu beantworten. Man hat da zunächst die Sterne mit einem Fernrohr beobachtet, das man mit Wasser angefüllt hat. Weil das Licht durch Wasser weniger schnell hindurchdringt als durch Luft, vermutete man, daß die Aberration, d. h. die Abweichung von der Absehenslinie, von der ich soeben gesprochen habe, dadurch eine Veränderung erfahren würde. Es hat sich aber nichts ergeben. Man hat also so erkannt, daß die Gesetze der Reflexion und Refraktion in keiner Weise durch die Translation der Erde beeinflußt werden, und da dieses Ergebnis im Widerspruch mit den alten Theorien stand, hat man Hypothesen aufgestellt, um sich davon Rechenschaft zu geben. Unglücklicherweise gibt uns eine jede dieser Theorien nur über einen Teil der Tatsachen Rechenschaft, nämlich gerade über die Tatsachen, denen zuliebe man die Theorien erdacht hat; für jede neue Tatsache bedürfte es einer neuen Hypothese.
Ich selbst habe mit einem meiner Studiengenossen ein diesen Gegenstand betreffendes Experiment gemacht, das ich bisher nicht veröffentlicht hatte. Ich war damals Schüler der École Polytechnique. Ich muß Ihnen gestehen, daß ich außerordentlich ungeschickt bin, und daß ich seitdem gänzlich auf die Experimentalphysik verzichten zu müssen glaubte. Aber zu jener Zeit sprang mir ein Studiengenosse bei, M. Favé, der manuell sehr geschickt und außerdem ein sehr erfinderischer Kopf ist. Wir verbanden uns also zu Untersuchungen, ob die Gesetze der Doppelbrechung durch die Translation der Erde eine störende Modifikation erfahren. Würden unsere Untersuchungen zu einem positiven Resultat geführt haben, d. h. würden unsere Lichtfransen von ihrer Richtung abgelenkt sein, so würde das nur gezeigt haben, daß wir im Experimentieren keine Erfahrung hatten, und daß die Aufstellung unseres Apparates mangelhaft war. Indessen die Untersuchung verlief negativ, und das bewies zwei Dinge zugleich, nämlich daß die Gesetze der Optik durch die Translation nicht gestört werden, und daß wir bei der Sache viel Glück hatten.
Übrigens waren wir glücklicherweise nicht die einzigen, die sich mit diesem Gegenstande beschäftigten. Die tüchtigsten Physiker haben dergleichen Experimente angestellt und sind sämtlich zu demselben Ergebnis gelangt: die optischen Phänomene, welcher Art sie auch sein mögen, werden absolut nicht beeinflußt von der Tranlation der Erde. Man könnte wohl noch glauben, daß ein solcher Einfluß existiert, aber daß er doch zu geringfügig sei, als daß ihn unsere Instrumente aufdecken könnten. Indessen ein amerikanischer Physiker, Michelson, hat eine Versuchsanordnung ersonnen, welche die Genauigkeit verhundertfacht, und bei alledem änderte sich an dem Resultate nichts. Bei jedem Versuch erdachte man eine neue Erklärung, die die Ursache der Ergebnislosigkeit in dem Genauigkeitsgrade des Versuches suchte. Aber die Vielfältigkeit der Erklärungen machte dies unwahrscheinlich. Durch welchen mysteriösen Zufall hätte sich für jedes Phänomen ein spezieller Umstand finden lassen, der gewissermaßen providentiell und genau ausgleichend wirkte! Man fand sich augenscheinlich einer allgemeinen Ursache gegenüber und wurde schließlich zu dem Zugeständnis geführt, daß das Prinzip der Relativität ein allgemeines Naturgesetz sei.
Es war nun schließlich erforderlich, das Prinzip der Relativität mit den bisher angenommenen theoretischen Anschauungen in Einklang zu bringen, oder vielmehr man mußte diese Anschauungen in der Weise modifizieren, daß sie sich mit dem Prinzip vertragen. Die Ehre, auf diesem Gebiet endlich Erfolg gehabt zu haben, kommt dem holländischen Physiker Lorentz zu, dem Träger eines Nobelpreises. Um Ihnen verständlich zu machen, worin seine Lösung besteht, muß ich Ihnen zunächst einen neuen Begriff erläutern, nämlich den der „Ortszeit“.
Wir wollen uns zwei Beobachter denken, den einen in Paris, den anderen in Berlin. Beide haben die Absicht, ihre Uhren zu vergleichen. Ich will annehmen, daß ihre Uhren ganz ausgezeichnete Werke seien, die eine ganz ungewöhnliche Präzision gewährleisten, etwa eine solche von einer Millionstel Sekunde. Wie werden sie die Sache nun anfangen? Nun sie werden sich gegenseitig Signale senden, etwa vermittelst drahtloser Telegraphie. Sie wissen ja, daß die Hertzschen Wellen, welche man in der Telegraphie ohne Draht verwendet, nichts anderes sind als Licht, nämlich ein Licht, das unser Auge nicht wahrnimmt, weil es nur gewisse Farben sehen kann. Immerhin stellen die Hertzschen Wellen doch eine Art Licht dar und pflanzen sich auch genau mit derselben Geschwindigkeit fort wie das sichtbare Licht. Zu einer verabredeten Zeit sendet nun der Pariser ein Signal, nach dem der Berliner seine Uhr einstellt. Wenn man sich aber hiermit begnügen würde, so würde die Uhr des Berliners sicherlich nachgehen, weil das Licht eine gewisse Zeit gebraucht, um von Paris nach Berlin zu gelangen. Um diesen Mißstand zu beseitigen, wird man die Signale in umgekehrter Richtung austauschen. Der Berliner wird jetzt die Signale geben, und der Pariser wird Empfänger sein. Bei dieser zweiten Vergleichung wird nun die Uhr des Berliners einen Vorsprung gegenüber derjenigen des Parisers erhalten. Schließlich wird man das Mittel der beiden Uhrvergleichungen nehmen. In dieser Weise wird man in der Tat zweckmäßig vorgehen. Aber ist nun die Übereinstimmung beider Uhren vollkommen hergestellt? Wir haben dabei die Annahme zugrunde gelegt, daß das Licht (die elektrischen Wellen) dieselbe Zeit gebraucht, ob es nun von Paris nach Berlin oder von Berlin nach Paris wandert. Diese Annahme wäre vollkommen richtig, wenn sich beide Städte im Ruhezustande befänden. Aber sie werden ja mitgenommen durch die Bewegung der Erde auf ihrer Weltenbahn, durch die Bewegung des Sonnensystems im Bereiche der Milchstraße, welche dieses ganze System nach der Konstellation des Herkules hintreibt, und vielleicht noch durch andere Bewegungen, die wir nicht kennen und die uns ewig unbekannt bleiben werden! Vielleicht ist es Paris, das den von Berlin aus gesandten Signalen auf dieser Wanderung der Erde vorauseilt, vielleicht eilt Berlin den von Paris geschickten voraus. In dem einen Fall wird das von Berlin gesandte Licht schneller in Paris anlangen, als das von Paris ausgesandte in Berlin eintreffen würde. Im anderen Fall verhält sich die Sache gerade umgekehrt. Im ersten Fall wird die in der angegebenen Weise regulierte Berliner Uhr nachgehen, im zweiten dagegen voreilen. Welcher von den beiden Fällen nun in Wirklichkeit zutrifft, können wir nicht wissen; ja wir werden niemals davon etwas ergründen können, weil wir die absolute Bewegung der Erde im Raume nicht kennen und auch niemals imstande sein werden, darüber etwas in Erfahrung zu bringen. Mit anderen Worten ausgedrückt heißt das: die Zeit sowie der Raum ist relativ. Ein Ereignis spielt sich auf dem Sirius ab, ein anderes auf der Erde; fallen diese beiden Begebenheiten zeitlich zusammen, fällt eins von ihnen zeitlich früher als das andere und welches? Das ist eine Frage, die ewig auf eine Lösung warten wird, ich möchte beinahe sagen, daß sie durch sich selbst sinnlos ist. Absolute Zeit! Nehmen wir an, dieser Ausdruck hätte irgendeinen Sinn, so bleibt er für uns doch immer verschlossen. Alles, was wir kennen können, ist die Ortszeit, das heißt die Zeit, welche, wie eben angegeben wurde, geregelt ist.
Nehmen wir jetzt die Schlußfolgerung wieder auf, die wir oben angestellt haben, und auf welcher die alte Mechanik beruht. Ein Körper bewegt sich vom Ruhezustand aus unter der Einwirkung einer Kraft und erhält durch dieselbe in der ersten Sekunde die Geschwindigkeit v. Was wird nun geschehen, wenn die Kraft während einer zweiten Sekunde weiter wirkt? Um uns davon eine Vorstellung zu machen, denken wir uns einen Beobachter, welcher dieselbe Geschwindigkeit v besitzt und sich in Ruhe wähnt. Für ihn war der beobachtete Körper zu Anfang der zweiten Sekunde in Ruhe, weil dessen Geschwindigkeit dieselbe wie die des Beobachters ist. Also die scheinbare Bewegung des Körpers wird für diesen Beobachter während der zweiten Sekunde dasselbe sein, was sie für uns während der ersten Sekunde war; wir hatten daraus geschlossen, daß die Geschwindigkeit des Körpers sich während dieser zweiten Sekunde verdoppelte.
Aber dieser Schluß war nur statthaft, weil wir die Zeit als absolut betrachteten, weil wir annahmen, daß ein in Bewegung befindlicher Beobachter sie so zählt wie ein in Ruhe befindlicher Beobachter. Wir sahen aber soeben, daß dies unzulässig ist. Wenn die beiden Städte Paris und Berlin beide zugleich sich im Ruhezustand befinden, dann wird der in Ruhe befindliche Beobachter glauben, daß beide Uhren, in Paris und Berlin, völlig übereinstimmend gehen. Dagegen wird ein in Bewegung befindlicher Beobachter, der die Vorstellung hat, daß er ruhe, und folglich die, daß die beiden Städte sich bewegen, zu dem Urteil kommen müssen, daß etwa die Uhr von Berlin hinter der von Paris zurück bleibt. Wenn aber ein ruhender und ein bewegter Beobachter die Zeiten verschieden beurteilen, dann werden sie auch die Geschwindigkeiten verschieden beurteilen, und wenn wir alle diese Umstände in Erwägung ziehen, so werden wir auf Grund der früheren Folgerung sehen, daß die Geschwindigkeit am Ende der zweiten Sekunde nicht 2v sein wird. Sie wird wohl zugenommen haben, aber sie wird weniger gewachsen sein als in der ersten Sekunde, sie wird noch weniger in der dritten Sekunde zunehmen und so in allen folgenden Sekunden um einen immer geringeren Betrag. Unter der Wirkung der gleichen Kraft – so schließt die alte Mechanik – erhält ein beweglicher Körper immer die gleiche Beschleunigung, wie groß auch die Geschwindigkeit sein mag, die er bereits erlangt hat. Unter der Einwirkung der gleichen Kraft – so schließt die neue Mechanik – wird die Bewegung eines Körpers in dem Maße weniger beschleunigt, als er bereits an Geschwindigkeit zugenommen hat.
Das läßt sich noch in anderer Weise zum Ausdruck bringen. Sie wissen, daß das, was die Materie charakterisiert, ihr Beharrungsvermögen ist. Befindet sich die Materie in Ruhe, so bedarf es einer Kraft, um sie in Bewegung zu setzen, es bedarf ebenso einer Kraft, um sie zum Stillstand zu bringen, es bedarf einer Kraft, um ihre Bewegung zu beschleunigen, und endlich einer Kraft, um sie aus ihrer geradlinigen Bewegung abzulenken. Dieser Widerstand, welchen die Materie den auf sie einwirkenden Kräften leistet, die ihren Ruhe oder Bewegungszustand zu ändern suchen, heißt das „Beharrungsvermögen“. Nun können aber die verschiedenen Körper diesen Kräften einen mehr oder minder großen Widerstand entgegensetzen. Wenn eine Kraft auf einen Körper wirkt, so erteilt sie demselben eine gewisse Beschleunigung, wirkt dieselbe Kraft aber auf einen größeren Körper, so wird die Beschleunigung kleiner sein. Sie können eine Karre in Bewegung setzen, aber mit dem dazu erforderlichen Kraftaufwand läßt sich ein Eisenbahnzug nicht von der Stelle bewegen. Für ein und denselben Körper ist die Beschleunigung proportional der Kraft, durch die sie erzeugt wird, und der Quotient von Kraft in Beschleunigung ist das, was man unter „Masse“ eines Körpers versteht und was zugleich dessen Beharrungsvermögen charakterisiert. Die alte Mechanik lehrt uns nun, daß diese Masse für ein und denselben Körper konstant ist und folglich auch unabhängig von einer bereits schon bestehenden Geschwindigkeit. Daraus würde, wie wir oben sahen, folgen, daß die durch eine beständig wirksame Kraft nach Verlauf einer Sekunde erreichte Geschwindigkeit nach Verlauf der zweiten Sekunde verdoppelt, der dritten verdreifacht wird, und so fort in der Weise, daß mit der Zeit die Geschwindigkeit über alle Grenzen hinaus wachsen kann.
In der neuen Mechanik verhält es sich dagegen nicht so. Wir sagten bereits, daß in ihr die Geschwindigkeit während der zweiten Sekunde weniger zunimmt als während der ersten, noch weniger während der dritten und so fort. Es heißt dies: die Geschwindigkeit des Körpers wächst während der zweiten Sekunde weniger, weil der Körper der beschleunigenden Kraft einen größeren Widerstand entgegensetzt. Die Bewegung erfolgt also so, als ob sich das Beharrungsvermögen oder die Masse des Körpers vergrößert hätte. Das heißt doch, daß die Masse des Körpers nicht konstant ist, daß sie von der Geschwindigkeit abhängt, mit dieser wächst. Bei kleinen Geschwindigkeiten ist dieser Einfluß immer klein, so daß die Masse, wie in der alten Mechanik, als konstant betrachtet werden kann, bei großen Geschwindigkeiten jedoch trifft das nicht mehr zu. Ebenso werden – wie in der alten Mechanik – bei kleinen Geschwindigkeiten die Körper den sie bewegenden Kräften immer denselben Beharrungswiderstand entgegensetzen sowie auch denjenigen Kräften, welche sie von der geraden Richtung abzulenken, d. h. ihre Bahn zu krümmen suchen. Bei großen Geschwindigkeiten ist dies aber nicht mehr richtig.
In der neuen Mechanik wächst die Masse eines Körpers ganz gewaltig mit der Geschwindigkeit; sie wird unendlich groß, wenn diese Geschwindigkeit gleich derjenigen des Lichtes wird. In dem Maße, wie die Geschwindigkeit wächst, wird auch der Widerstand gegen das Anwachsen zunehmen. Es wird folglich die Geschwindigkeit eines Körpers auch niemals diejenige des Lichtes erreichen oder überschreiten können, weil, um diese Grenze zu überschreiten, ein unendlich großer Widerstand überwunden werden müßte. Darin besteht also das Wesen der neuen Mechanik: keine Geschwindigkeit im Weltall kann größer werden als die Geschwindigkeit des Lichts; die Lichtgeschwindigkeit bildet eine unübersteigliche Schranke. Wie groß auch die beschleunigende Kraft sei, und wie lange sie auch einwirken möge, niemals kann sie diese Schranke überwinden. Der „Lumen“ von Flammarion ist nicht mehr möglich. Er ist uns eine Traumgestalt, zu großartig, um verwirklicht werden zu können. Es liegt ein Widerspruch in den Bestimmungen vor. Und nun verschwindet die oben angegebene Schwierigkeit. Wenn diese Hypothese oder dieser Traum sich nicht mit dem Prinzip der Relativität vertrug, so kommt das daher, daß sie in sich einen Widerspruch trägt. Bei näherer Betrachtung sieht man, daß auch in den nicht so an der Grenze liegenden Fällen, in denjenigen, welche dem Versuche zugänglich sind, die Schwierigkeiten in gleicher Weise verschwinden.
Ich will gleich einem naheliegenden Einwurf begegnen. Hier habe ich ein Fahrzeug (1). Nach unseren Hypothesen kann seine Geschwindigkeit nicht über 300000 km wachsen, wohl aber kann sie sich dieser Grenze beliebig nähern; es wird also eine Geschwindigkeit von 200000 km haben dürfen. Auf diesem Fahrzeug stellen wir uns einen Beobachter vor, und dann wollen wir uns noch ein zweites Fahrzeug denken. Nach dem Prinzip der Relativität wird dieses Fahrzeug (2) in bezug auf den Beobachter dieselbe scheinbare Geschwindigkeit annehmen können, als wenn der Beobachter in Ruhe wäre, etwa auch 200000 km. Dann bewegt sich Fahrzeug (2) mit 200000 km in bezug auf den Beobachter, welcher sich selbst aber schon mit 200000 km Geschwindigkeit bewegt. Das würde im ganzen 400000 km machen, und damit wäre die Lichtgeschwindigkeit überschritten. Dies ist nun eine Schlußfolge, die ganz unseren alten Denkgewohnheiten entspricht; aber man muß gerade von diesen alten Denkgewohnheiten abgehen. Vergessen wir nicht, daß nach der neuen Mechanik die Zeit nicht mehr als absolute Größe betrachtet werden kann, daß der in Bewegung befindliche Beobachter sie nicht immer so einschätzt wie wir, daß er infolgedessen die Geschwindigkeit nicht so rechnet wie wir. Denselben Geschwindigkeitsunterschied, welcher ihm wie 200000 km erscheint, würden wir etwa bei unserer Art, die Zeit zu rechnen, nur zu 50000 km veranschlagen, so daß also die totale Geschwindigkeit für uns nur 250000 km wäre.
Bis so weit hat uns die Lorentzsche Theorie nur Hypothesen zu verarbeiten gegeben, die ganz annehmbar sind. Leider befindet sich unter ihnen noch eine, die sich viel schwieriger verdauen läßt. Sie ist aber unumgänglich, wenn das Prinzip der Relativität auch für Geschwindigkeiten Gültigkeit behalten soll, deren Richtung nicht mit der Richtung der allgemeinen Verschiebung zusammenfällt. Wenn nämlich ein Körper einer Verschiebung unterliegt, so muß er nach Lorentz eine Art Abplattung erleiden; seine Ausdehnung senkrecht zur Richtung der Verschiebung bleibt unverändert, diejenige in Richtung der Verschiebung wird dagegen verkürzt; eine Kugel wird beispielsweise zum Ellipsoid. Allerdings ist diese Abplattung äußerst geringfügig, selbst wenn es sich um eine verhältnismäßig so beträchtliche Verschiebung wie die der Erde auf ihrer Bahn um die Sonne handelt; sie wäre dann kaum 1/200000. Was mir aber unbequem ist, ist der Umstand, daß die Verkürzung für alle Körper dieselbe wäre. Man achte wohl darauf, daß eine derartige Deformation sich nicht durch Meßinstrumente nachweisen ließe, mögen diese Instrumente auch einen noch so hohen Grad von Vollkommenheit besitzen. Da nämlich alle Körper in gleicher Weise deformiert werden, so werden auch die Meßinstrumente ebensogut davon betroffen wie die zu messenden Gegenstände selbst, und daher muß diese Deformation unbemerkt bleiben. Wir wollen damit sagen, daß alle Körper deformiert sind, wenn wir übereinkommen, ihre Länge und Breite durch die Zeit zu messen, die das Licht gebraucht, um diese Strecken zu durchlaufen. Die Erde wird also abgeplattet infolge ihrer Verschiebung; aber wir können diese Abplattung nicht durch geodätische Messungen bestimmen, selbst wenn der Genauigkeitsgrad der Messung den heutigen um das Millionenfache übertreffen würde, denn die zur Basismessung benutzten Instrumente verändern sich genau so wie die Erde. Wohl aber würde diese Abplattung für die Astronomen der anderen Planeten wahrnehmbar sein, wenn ihnen Teleskope zur Verfügung ständen, die unendlich viel genauer als die unsrigen wären; denn ihnen würde ja das Licht zu ihren Messungen dienen. Es ist dies eine höchst befremdliche Sache, die mich selbst kopfscheu machen würde, wenn ich nicht wüßte, daß das nur eine direkte Verdolmetschung des von Michelson gemachten Experiments ist. Die Hypothese beginnt freilich, wenn man das, was von Michelson nur für einen einzigen Fall erwiesen ist, auf alle Körper ausdehnt.
Bis so weit sind, wie Sie sehen, die Beweise für die neue Mechanik durchaus indirekt, und das Bedürfnis einer direkten experimentellen Bestätigung macht sich im hohen Grade fühlbar. Eine solche experimentelle Bestätigung ist leider recht schwierig, denn der Unterschied zwischen der alten und der neuen Mechanik tritt erst bei großen Geschwindigkeiten hervor. Was soll man aber unter einer großen Geschwindigkeit verstehen? Etwa diejenige einer Lokomotive, diejenige eines Automobils, oder, um ganz modern zu sein, diejenige eines Aeroplans? 100 km per Stunde etwa, nun das wäre für die hier in Frage kommenden Umstände die Geschwindigkeit einer Schnecke. Wir verfügen aber über weit größere Geschwindigkeiten; wir brauchen ja nur an die Planeten zu denken. Da ist beispielsweise der Merkur, der schnellste unter allen Planeten, der auch 100 km macht, aber nicht in der Stunde, sondern in der Sekunde! Aber selbst eine solche Geschwindigkeit genügt noch lange nicht. Solange wir nur über derartig kleine Geschwindigkeiten verfügen würden, läßt sich überhaupt nichts machen. Erst die Kathodenstrahlen haben uns das erste Beispiel von Geschwindigkeiten geliefert, die viel, viel größer sind. Ihnen allen sind die Glasröhren bekannt, in denen die Kathodenstrahlen zustande kommen. Man ist nun zu der Überzeugung gelangt, daß diese Kathodenstrahlen von Teilchen gebildet werden, die außerordentlich winzig sind, und die man sich als Träger von negativer Elektrizität zu denken hat. Man hat tatsächlich diese Strahlen auf einem Metallzylinder sammeln können, und dieser Zylinder, der beständig negative Elektrizität aufnahm, lud sich sehr rasch. Später hat man dann das Radium entdeckt. Diese merkwürdige Substanz sendet drei Arten von Strahlen aus, welche man nach den drei griechischen Buchstaben α, β, γ benennt. Die sogenannten β-Strahlen verhalten sich durchaus analog wie die Kathodenstrahlen. So erzeugt denn auch das Radium ein beständiges Bombardement auf die Körper seiner Umgebung. Dieses unterscheidet sich aber insofern von dem Artilleriefeuer der europäischen Armeen, als das Kaliber der Geschosse viel kleiner ist; dafür ist aber die Schnelligkeit des Feuerns und vor allem die Anfangsgeschwindigkeit der Geschosse viele Hunderttausende Mal größer. Diese Geschosse sind ebenfalls geladen wie diejenigen unserer Geschütze, aber nicht mit Pulver, sondern mit negativer Elektrizität. Wie läßt sich nun die Geschwindigkeit dieser Projektile messen? Sie wissen, daß elektrische Körper aufeinander wirken: sie ziehen sich gegenseitig an und stoßen sich ab. Unsere kleinen Projektile sind geladen; bringt man sie also in ein elektrisches Feld, d. h. zwischen zwei Scheiben, die mit den beiden Polen einer Elektrisiermaschine oder eines Induktionsapparates verbunden sind, so werden sie von einer Kraft beeinflußt, die sie von ihrem Weg abzulenken sucht. Die Kathodenstrahlen werden also durch ein elektrisches Feld von ihrer ursprünglichen Richtung abgelenkt. Die Größe der Ablenkung hängt von der Geschwindigkeit der Moleküle ab; sie wird außerdem noch von deren Masse beeinflußt sein, d. h. von dem Beharrungswiderstand, welchen das Projektil den Einflüssen entgegensetzt, die es abzulenken suchen.
Doch noch mehr: die besagten Projektile tragen elektrische Ladungen mit sich, und diese Ladungen befinden sich in Bewegung, ja sogar in einer ganz gewaltig schnellen Bewegung. Elektrizität in Bewegung bedeutet aber soviel wie ein elektrischer Strom; wir wissen nun aber, daß Ströme durch Magneten, d. h. durch magnetische Felder abgelenkt werden. Die Kathodenstrahlen werden also durch den Magneten von ihrer ursprünglichen Richtung abgelenkt. Diese Ablenkung wird, wie die oben erwähnte elektrische, von der Geschwindigkeit und der Masse des Projektils abhängen, nur nicht in derselben Art. Unter sonst gleichen Umständen wird die magnetische Ablenkung größer sein als die elektrische, falls die Geschwindigkeit größer ist. In der Tat, die magnetische Ablenkung rührt von der Wirkung des Magneten auf den Strom her, sie wird also in dem Maße größer sein, als der Strom stärker ist. Der Strom wird aber in dem Grade stärker sein, als die Geschwindigkeit größer ist, weil es ja die Bewegung der Projektile ist, die den Strom erzeugt. Man begreift also, daß man dadurch, daß man einen Kathodenstrahl der Einwirkung eines elektrischen Feldes aussetzt, sodann der Einwirkung eines magnetischen Feldes und dann die beiden Ablenkungen miteinander vergleicht, in der Lage ist, gleichzeitig die Geschwindigkeit des Projektils sowie auch dessen Masse (bezogen auf eine bestimmte elektrische Ladung) zu messen. In dieser Weise findet man eine ganz enorme Geschwindigkeit, sagen wir etwa 10000 km für die Kathodenstrahlen und 30000 bis 100000 km für das Radium. Das sind aber die Geschwindigkeiten, die uns hier nötig sind. Von diesem ausgehend ist Professor Abraham auf den folgenden Gedanken gekommen: Wenn man einen elektrischen Strom entstehen lassen will, so erfährt dieser erfahrungsgemäß einen gewissen Anfangswiderstand, der erst dann aufhört, wenn sich der Strom gebildet hat. Will man den Strom unterbrechen, so hat er das Bestreben, sich zu erhalten; also man hat ebenso große Schwierigkeit, ihn zum Stillstand zu bringen, wie bei einem durchgehenden Gespann. Ein täglich zu beobachtender Vorgang wird dies verständlich machen. Zuweilen rutschen die Kontaktrollen eines elektrischen Wagens von der Leitung ab, die dem Wagen den Strom zuführt. In diesem Moment sieht man Funken sprühen. Weshalb? Nun, es ging ein Strom von der Leitung zu den Rollen. Wenn die Rolle für einen Moment die Leitung verläßt, so bildet sich eine Luftstrecke, die ein Hindernis für den Durchgang der Elektrizität ist. Dadurch wird aber der Strom nicht zum Stillstand gebracht, sondern – weil er eben sozusagen ein Durchgänger ist – überspringt er das Hindernis in Form von Funkensprühen. Das in Frage kommende Phänomen hat man die „Selbstinduktion“ genannt. Die Selbstinduktion ist nun im Grunde genommen nichts anderes als ein Beharrungsvermögen. Der Äther setzt der Kraft, die einen Strom zu erzeugen sucht, einen Widerstand entgegen, und dasselbe geschieht, wenn ein bereits in Tätigkeit befindlicher Strom durch eine Kraft plötzlich zum Aufhören gezwungen wird. Es handelt sich hier um ganz analoge Verhältnisse wie bei der Materie, die ja auch der Kraft einen Widerstand leistet, welche sie aus dem Ruhezustand in Bewegung oder umgekehrt aus der Bewegung in den Ruhezustand überführt. Es gibt also neben dem mechanischen Beharrungsvermögen noch ein tatsächliches „elektrisches Beharrungsvermögen“. Nun sind aber unsere Projektile elektrisch geladen. In dem Moment, in dem sie sich in Bewegung setzen, erzeugen sie einen elektrischen Strom, und wenn die Bewegung aufhört, so hört auch der Strom auf; sie besitzen also neben der mechanischen Energie auch noch eine elektrische Energie; sie haben sozusagen zwei Massen, eine wirkliche oder mechanische und eine scheinbare Masse, die ihre Existenz den Phänomenen der elektromagnetischen Selbstinduktion verdankt. Was wir messen, ist die Summe dieser beiden Massen.
Abraham dachte seinerzeit, als er die beiden Ablenkungen, die elektrische und magnetische, der Radiumstrahlen studierte, daß es ihm gelingen würde, den Anteil jeder dieser beiden Massen für sich zu ermitteln. In der Tat ändert sich ja die elektromagnetische Masse, deren Herkunft wir oben erklärt haben, mit der Geschwindigkeit, und zwar nach gewissen Gesetzen, über die die Elektrizitätstheorie Näheres lehrt, während die reelle Masse als eine konstante zu betrachten ist. Wenn man daher die Beziehung zwischen der Gesamtmasse und der Geschwindigkeit in Betracht zieht, kann man ersehen, wie groß der Anteil der wirklichen und unveränderlichen Masse ist und wie groß derjenige der scheinbaren Masse von elektromagnetischer Herkunft. Die Hypothese, die man dabei machen muß, ist die, daß alle Projektile, sowohl die von den Kathodenstrahlen wie auch die vom Radium herrührenden, ihrem Wesen nach gleich sind, und daß sie sich nur hinsichtlich ihrer Geschwindigkeit unterscheiden. Wäre diese Hypothese falsch oder doch aus irgendeinem mir unbekannten Zufall unzulässig, dann würden sich die beobachtete Gesamtmasse und die Geschwindigkeit ganz unregelmäßig und unabhängig voneinander ändern. Dasselbe würde also auch bezüglich der beiden Ablenkungen, der magnetischen und elektrischen, der Fall sein, die, wie wir gesehen haben, von dieser Totalmasse und dieser Geschwindigkeit abhängig sind. Würde man die Projektile auf die photographische Platte auffangen, so müßten die Einschlagstellen nach der Entwicklung als kleine schwarze Fleckchen erscheinen. Nehmen wir nun an, daß der photographische Apparat so orientiert sei, daß die magnetische Ablenkung sich in Richtung der Breite, die elektrische sich in Richtung der Länge der Platte abbildet, dann würden sich, wenn die oben genannte Hypothese sich nicht bewahrheiten sollte, die Einschlagstellen auf der Platte nach den Gesetzen des Zufalls verteilen und die ganze Platte ausfüllen. Das ist nun aber keineswegs der Fall, vielmehr sind sie auf einer sehr regelmäßigen Kurve verteilt.
Auf Grund der so sicher gestellten Hypothese gab das Studium der Kurve die gesuchte Beziehung zwischen der Totalmasse und der Geschwindigkeit. Der Versuch wurde von Kaufmann ausgeführt. Das Ergebnis war sehr überraschend. Es zeigte sich nämlich, daß die reelle Masse Null ist, also die ganze Masse des Partikelchens elektrischen Ursprungs ist. Ein solches Ergebnis muß natürlich unsere Anschauungen über das Wesen der Materie vollständig ändern.
Man legte sich alsdann die Frage vor, ob die Beziehung zwischen Masse und Geschwindigkeit wohl identisch sein könnte mit derjenigen, auf welche das Prinzip der Relativität führt. Hierfür war ein sehr eingehendes Studium der betreffenden Kurve erforderlich, und dieses ließ sich nicht im Handumdrehen machen. Der erste Versuch, welchen Kaufmann anstellte, ergab zunächst negative Resultate; als er unter veränderten Bedingungen von Bucherer wieder aufgenommen wurde, führte er zu positiven Ergebnissen, denen beizustimmen sich die meisten Physiker geneigt zeigten.
Was die Ergebnisse dieser Arbeiten in so eigenartigem Licht erscheinen läßt, ist nicht allein der Umstand, daß sie eine vollständige Bestätigung der Lorentzschen Mechanik lieferten, sondern dasjenige, was sie bezüglich der wirklichen Masse der Körper lehren. Diese wirkliche Masse sollte hiernach Null sein. Richtiger gesagt, muß man hier zwei Dinge unterscheiden: die materiellen Moleküle und die eigentlichen Elemente dieser Moleküle; d. h. die Atome der Chemiker erscheinen uns heute wie sehr komplizierte Gebäude, die aus negativen Elektronen, d. h. negativ elektrisch geladenen Teilchen, aus positiven Elektronen und vielleicht auch aus neutral sich verhaltenden Teilchen aufgeführt sind. Am faßlichsten dürfte es sein, sich ein chemisches Atom als eine Art Sonnensystem vorzustellen, in dem der die Sonne repräsentierende Zentralkörper ein positives Elektron ist, um welches sich zahlreiche kleine Planeten, nämlich die negativen Elektronen bewegen. Nun sind aber die in den Kathodenstrahlen ausgeschleuderten Projektile sowie auch die vom Radium herrührenden negative Elektronen; mit diesen allein ließ sich bisher nur experimentieren. Für sie ist es sichergestellt, daß sie keine reelle Masse besitzen, daß das, was wir ihre Masse nennen, nichts anderes als etwas Scheinbares ist, das den elektrischen Vorgängen seinen Ursprung verdanken wird. Unerwiesen aber ist es bis jetzt, ob dasselbe auch für die positiven Elektronen gilt. Man hat mit ihnen nicht experimentieren können, weil sie gewissermaßen viel zu derb sind und daher keine genügend große Geschwindigkeit erlangen können. Man könnte für sie also noch annehmen, daß sie eine wirkliche Masse besitzen, und dann würden sie die Träger der eigentlichen Materie sein, während die negativen Elektronen nur Elektrizität ohne materielle Unterlage darstellen würden.
Erkennt man aber das Prinzip der Relativität als richtig an, so muß man folgerecht schließen, daß die wirkliche Masse der positiven Elektronen, sowie auch die der sich neutral verhaltenden Teilchen – falls es solche gibt – genau nach demselben Gesetz veränderlich ist, das die scheinbaren Massen von elektromagnetischem Ursprung befolgen. In diesem Fall aber stehen wir zwei Hypothesen gegenüber: entweder haben die positiven Elektronen auch keine wirkliche Masse, sondern besitzen nur eine scheinbare Masse, oder sie haben zwar eine wirkliche Masse, aber diese Masse ist veränderlich.
In jedem dieser Fälle befinden wir uns weit ab von den hinsichtlich der Materie geläufigen Vorstellungen. Lavoisier hat uns gelehrt, daß die Materie sich weder aus sich selbst heraus vermehren noch zerstören kann, daß das „Prinzip der Erhaltung der Materie“ besteht. Er wollte damit zum Ausdruck bringen, daß die Masse unveränderlich ist, und hat dies durch die Wage bestätigt gefunden. Nun erfahren wir, daß die Körper keine Masse haben, oder daß diese Masse doch keine unveränderliche bleibt! Es soll damit nicht gesagt werden, daß das von Lavoisier begründete Gesetz keinen Sinn mehr hat, denn irgend etwas wird sicherlich von Bestand sein, und dieses Etwas wird mit der Masse bei kleinen Geschwindigkeiten zusammenfallen. Aber schließlich ist doch der Begriff den wir an das Wort Masse knüpfen, vollkommen auf den Kopf gestellt. Das, was wir Materie nannten, war früher die ganze Masse, das war das, was an sich das Greifbare und zugleich das Dauerhafte war. Und jetzt, jetzt soll diese Masse nicht mehr existieren!
Die Materie ist jetzt ganz passiv geworden. Die Eigenschaft, den Kräften, die ihre Bewegung zu ändern suchen, Widerstand zu leisten, kommt ihr im eigentlichen Sinne des Wortes nicht mehr zu. Wenn eine Kanonenkugel sich mit einer großen Geschwindigkeit bewegt und dadurch der Träger einer lebendigen Kraft, einer gewaltigen Energie wird, die Tod und Verderben ausstreut, so sind es nicht mehr die Eisenmoleküle, die den Sitz dieser Energie bilden, sondern dieser Sitz ist in dem Äther zu suchen, der die Moleküle umgibt. Man kann beinahe sagen, es gibt keine Materie mehr, es gibt nur noch Löcher im Äther; und soweit diese Löcher eine aktive Rolle zu spielen scheinen, besteht sie darin, daß diese Löcher ihren Ort nicht verändern können, ohne den umgebenden Äther zu beeinflussen, der gegen dergleichen Veränderungen eine Reaktion ausübt.
Das ist noch nicht alles! Lassen wir das Prinzip der Relativität ohne Einschränkung bestehen, wie es Lorentz tut, so ergeben sich daraus noch andere Konsequenzen. Nicht allein die Massen sind durchweg elektromagnetischen Ursprungs – oder ändern sich doch wenigstens den hierfür gültigen Gesetzen entsprechend –, auch alle Kräfte müssen elektromagnetischen Ursprungs sein oder sich doch wenigstens nach denselben Gesetzen ändern, die für Kräfte elektrischer Herkunft bestehen. Um den ganzen Bau zu vollenden, müßte sich also für sämtliche Kräfte gewissermaßen eine elektromagnetische Erklärung finden lassen. Dies hat man aber noch nicht erreichen können, ja die Möglichkeit einer solchen Erklärung liegt noch in weiter Ferne. Wir kennen verschiedene Arten von Kräften, und darunter solche, welche sich besonders rebellisch dieser Art von Erklärung gegenüber verhalten.
Was die Newtonsche Gravitationskraft anbetrifft, so hat Lorentz mit ihr bisher wenig Glück gehabt. Es ist bekannt, daß gleichnamige Elektrizitäten sich abstoßen, ungleichnamige sich anziehen. Wir müssen uns unter einem Molekül etwa vorstellen, daß es ein Aggregat von positiven oder negativen Elektronen sei, welche gegen einander gravitieren; das Molekül ist neutral, weil es genau ebensoviel positive wie negative Elektrizität besitzt. Wenn wir dann zwei Moleküle ins Auge fassen, so werden die verschiedenen Elektrizitäten, mit denen sie behaftet sind, sich gegenseitig anziehen oder abstoßen. Zweifellos müssen nach den bisher allgemein anerkannten Elektrizitätsgesetzen diese Anziehungen und Abstoßungen sich genau aufheben; indessen eine kleine Modifikation dieser Gesetze genügt, um dieses Dilemma zu beseitigen. Man braucht nämlich nur anzunehmen, daß die negative Elektrizität die positive Elektrizität stärker anzieht, als sie die negative Elektrizität abstößt, oder daß die positive Elektrizität nicht die gleichnamige Elektrizität abstößt. Dann wird der Ausgleich kein vollständiger mehr sein, und es würde dann ein Überwiegen der Anziehungen gegenüber den Abstoßungen stattfinden, und zwar so, daß die beiden Moleküle, obwohl sie neutral sind, sich nach Maßgabe des Newtonschen Gesetzes anziehen würden. Wenn diese Modifikation mit den Elektrizitätsgesetzen vorgenommen wird, wird das Prinzip der Relativität nicht beeinträchtigt; immerhin bedeutet dieselbe eine Komplikation, die vielleicht einen etwas gekünstelten Charakter besitzt. Aber es gibt noch andere Kräfte wie die Gravitation, und man wird wirklich ängstlich vor all den Hypothesen, die sich da auftürmen, um alle diese Kräfte dem System einzuordnen. Besonders ist es die Reibung, die sich sehr widerspenstig benimmt. Ich frage mich auch, wie man die Gesetze des Stoßes von unvollkommen elastischen Körpern begründen soll; ich meinerseits habe kein Glück gehabt, etwas zu finden, welches sie mit dem Prinzip der Relativität in Einklang bringen könnte.
Die „Neue Mechanik“ ruht also noch auf sehr schwankendem Boden. Man wird ihr deshalb neue Bestätigung wünschen. Sehen wir, was uns in dieser Beziehung die astronomischen Beobachtungen lehren. Ohne Frage sind die Geschwindigkeiten der Planeten relativ sehr klein, indessen besitzen die astronomischen Beobachtungen einen hohen Grad von Genauigkeit und erstrecken sich über lange Zeitläufte. Kleine Wirkungen können sich da derartig häufen, daß sie eine abschätzbare Größe erreichen. Man sieht, daß die einzige merkbare Wirkung, welche man erwarten könnte, eine Störung des Planeten Merkur, als des raschesten aller Planeten, wäre. In der Tat zeigt er Anomalien in seiner Bewegung, welche die Mechanik des Himmels noch nicht erklären konnte. Die Bewegung seines Perihels ist weit größer, als es die Berechnung auf Grund der klassischen Theorie ergibt. Man hat sich viele Mühe gegeben, um diese Anomalie zu erklären; man hat an die störende Wirkung eines Planeten geglaubt, der der Sonne näher ist als Merkur. Aber ein solcher Planet existiert sicher nicht. Man hat dann weiter an einen Ring kosmischer Materie um die Sonne gedacht. Die neue Mechanik gibt nun wohl vollkommene Aufklärung über den Sinn dieser Abweichung zwischen Beobachtung und Rechnung, aber der Betrag, den sie dafür angibt, ist viel zu groß. Er ist 38", während die beobachtete Abweichung selbst nur 5" beträgt. Das ist also eine nur sehr mittelmäßige Bestätigung zugunsten der „Neuen Mechanik“; man müßte immer noch eine spezielle Ursache geltend machen, die die noch fehlenden 33" erklärt. Und wenn diese Ursache die Abweichung von 33" erklärt, so könnte sie auch leicht die ganze von 38" deuten. Man darf also darin kein Argument zugunsten der „Neuen Mechanik“ erblicken, aber noch weniger darf man daraus ein Argument entnehmen, das gegen sie spricht. Die neue Lehre ist nicht gerade im Widerspruch mit den astronomischen Beobachtungen.
Wir wollen hier noch eine Folgerung aus der „Neuen Mechanik“ erwähnen, die zu der Astronomie in Beziehung steht. Die Gestirne verlieren allmählich ihre lebendige Kraft, welche sich in Lichtenergie umsetzt und in den Weltenraum ausgestrahlt wird. Dies trifft für alle die Körper zu, deren Bahn gekrümmt ist. Wenn die in Weißglut befindlichen Körper uns Licht zusenden, so geschieht dies, weil sie in Bewegung befindliche Elektronen enthalten, deren Geschwindigkeit ganz plötzlich ihre Richtung verändert; jedes einigermaßen rasche Umwenden erzeugt eine Lichtemission. Auch die Gestirne können sich diesem Gebot nicht entziehen, weil ihre Bahn nicht geradlinig ist. Da sie aber Kreise von sehr großem Radius beschreiben, so daß man diese Kreisbahnen als nahezu geradlinig ansehen kann, wird ihre lebendige Kraft sich nur mit äußerster Langsamkeit zerstreuen, welche für die uns zur Verfügung stehenden Instrumente völlig unabschätzbar ist. Immerhin zerstreut sie sich, und nach einer Zahl von Jahren, die nach Milliarden und abermals Milliarden zu schätzen ist, werden alle Planeten auf die Sonne stürzen, wenn sie nicht schon seit langem dahin gefallen sind infolge anderer Ursachen, wie etwa der Existenz eines widerstehenden Mittels.
Fassen wir alles zusammen, so können wir sagen: Die Schlußfolgerungen, welche die „Neue Mechanik“ macht, können noch nicht als endgültig begründet gelten. Das wird noch gute Weile haben. Aber diese Folgerungen verdienen es bereits, daß ihnen eine ernste Prüfung von seiten der Gelehrten und Philosophen zuteil wird.
Es drängt sich noch folgender Gedanke auf: Die Gesetze der Mechanik sind zum größten Teil konventionell. Darum ist „Kraft“ ein „Etwas“, was uns die Erfahrung nicht direkt fassen lehrt. Was die Erfahrung uns lehrt, ist, daß unter dem oder dem Umstande der oder der Körper die oder die Bewegung annimmt. Aber diesen Satz, welchen wir aus der Erfahrung entnehmen, behalten wir als solchen nicht bei, sondern zerlegen ihn in zwei andere. Wir sagen: 1. unter den und den Umständen entsteht die und die Kraft, 2. bei Anwesenheit der und der Kraft nimmt der und der Körper die und die Bewegung an. Das erste dieser Gesetze nennen wir ein physikalisches Gesetz, das zweite ein mechanisches. Wir haben also künstlich einen vermittelnden Faktor eingeführt, der eine Erfindung unseres Intellekts ist, und den wir „Kraft“ genannt haben. Diesen Faktor hätten wir in verschiedener Weise ausdenken können, und dann hätte sich auch die Zerlegung der Erfahrungstatsache in ein physikalisches und in ein mechanisches Gesetz verschieden gestaltet. Die Gesetze der Mechanik sind also in etwas willkürlich, und wir wählen sie so bequem wie möglich. Die alten Gesetze der Mechanik, die viel einfacher als die neueren sind, sind lange Zeit die bequemsten gewesen. Angesichts der neuen Tatsachen und insbesondere mit Rücksicht auf das Prinzip der Relativität hätten wir sie beibehalten können. Der andere Teil unseres Satzes, nämlich das physikalische Gesetz, würde dann aber eine unzulässige Komplikation annehmen, und aus diesen Gründen kann man die Gesetze der neuen Mechanik für bequemer halten, wenn sie auch weniger einfach sind als die der alten Mechanik. Man kann im eigentlichen Sinne nicht sagen, daß sie einen höheren Grad von Wahrheit besitzen. Indessen halten wir fest, daß bei den gewöhnlichen Anwendungen, bei denen man es mit mäßigen Geschwindigkeiten zu tun hat, die alten mechanischen Gesetze immer die bequemeren bleiben werden. Man soll daher die alten Gesetze nicht schlecht machen, man soll sie vielmehr weiter lehren, wenn nicht ausschließlich, so wenigstens neben den neuen Gesetzen.