Schamyl in Kaluga (Die Gartenlaube 1860/15)

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Textdaten
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Autor: Caspari
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Titel: Schamyl in Kaluga
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aus: Die Gartenlaube, Heft 15, S. 239-240
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[239] Schamyl in Kaluga.[1] – – Nachdem ich in mein Zimmer zurückgekehrt war, überlegte ich vor allen Dingen, in welcher Stimmung sich der Gefangene nach seiner Trennung von einer so anziehenden Persönlichkeit, wie Herr v. Boguslawsky, befinden müsse, und kam bald zu dem Schlusse, daß es am gerathensten sein dürfte, ihn für’s erste seinen eigenen Gefühlen zu überlassen. Deshalb beschloß ich, Schamyl in den ersten Augenblicken meine Gegenwart nicht aufzudringen, sondern mich um meine eigenen Angelegenheiten zu bekümmern. Aber kaum hatte ich meine Papiere zur Hand genommen, als sich die Thüre öffnete und Schamyl in Begleitung seines Dolmetschers Gramoff und meines Freundes Chadshio eintrat. „Chosch giāldü!“ sagte ich, indem ich aufstand, „sei willkommen. Setze Dich, ich bitte.“

Schamyl setzte sich, entschuldigte sich aber vorher sehr artig, daß er mich vielleicht gestört habe. Auf meine Versicherung vom Gegentheil fügte er hinzu, er wünschte mit mir über einen wichtigen Gegenstand zu sprechen, möchte aber vor Allem wissen, ob ich Zeit hätte, ihn vollständig anzubören. Dazu war ich natürlich vollkommen bereit, und so begann er eine lange Rede, in welcher er mit ebensoviel Würde als Klarheit seine Ansichten über unsere nunmehrigen gegenseitigen Beziehungen auseinander setzte. Nach orientalischem Gebrauche holte er ziemlich weit aus.

„– Wenn es Gott gefällt,“ sagte er, „ein Kind zur Waise zu machen, so gibt man demselben an Mutterstatt gewöhnlich eine Wärterin, welche das Kleine füttert, anzieht, wäscht und vor Schaden bewahrt. Ist nun das Kind gesund, sieht vergnügt und reinlich aus, so lobt man die Wärterin und meint, sie pflege das Kind gut und habe es lieb. Ist aber das Kind krank, unreinlich und unartig, so tadelt man nicht das Kind, weil es noch klein und unverständig ist, sondern die Wärterin, welche sich vermuthlich nicht darum gekümmert, es nicht gelehrt und nicht geliebt hat … Ich bin ein Greis,“ fuhr Schamyl fort, „aber hier bin ich in der Fremde; ich kenne weder eure Sprache, noch eure Gewohnheiten, und deshalb kommt mir’s vor, als sei ich nicht mehr der alte Schamyl, sondern jenes kleine Kind, welches nach Gottes Willen zur Waise geworden ist und der Pflege einer Wärterin bedarf. Indem der Kaiser Sie mir als Begleiter zugewiesen, hat er wahrscheinlich nur die besten Absichten; daher bitte ich Sie, wenn auch nicht, eine zärtliche Wärterin zu sein, aber mich wenigstens so zu lieben, wie eine gewöhnliche Wärterin ihr Kind zu lieben pflegt; und ich meinerseits verspreche Ihnen, mich an Sie anzuschließen, nicht nur so, wie das Kind sich an seine Wärterin hängt, sondern wie der alte Schamyl den zu lieben pflegt, der mit ihm Gutes im Sinne hat.“

Schamyl hatte geendigt; aber während Gramoff mir dessen Worte verdolmetschte, richtete er sein blitzendes Auge auf das meinige und verwandte keinen Blick von mir, gleich als wollte er aus meinem Gesichte auch die kleinste Gemüthsbewegung erspähen, die seine Rede in mir erregen könnte; er wußte, daß er in diesem Augenblicke Worte gesagt hatte, die er nie wieder ansprechen würde. Bei den ersten Worten des Dollmetschers hatte ich errathen, worum es sich eigentlich handelte, ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, den Schamyl’s grünliche Augen auf mich machten, und gab mir Mühe, diesen Blick bis zum letzten Augenblicke zu ertragen. Es bedurfte dazu auch keiner großen Anstrengung, denn in Form und Ausdruck seiner Gedanken und Wünsche lag soviel Gutmüthiges, soviel Kindlich-Naives, daß auch der entschiedenste Misanthrop darin keinen Anlaß hätte finden können, eine saure Miene zu machen, noch weniger ich, der zu einem ganz entgegengesetzten Schlage von Menschen gehört. Dennoch nahm ich mich zusammen, besonders da ich bemerkte, daß auf Chadshio’s bleichem Gesichte sich ein ähnlicher Ausdruck kund gab, und daß selbst Gramoff’s bronzefarbene Züge fast noch dunkler wurden, gleichsam als empfände er eine schmerzliche Rührung.

„Schamyl,“ sagte ich, indem ich ihn fest und ruhig anblickte, „ich werde Dich lieben, nicht nur weil es mir anbefohlen ist und ich eine „gute Wärterin“ sein möchte, sondern auch, weil ich Dich persönlich achte.“

Meine Antwort brachte augenscheinlich eine günstige Wirkung hervor, denn sein prüfender Blick nahm bald den Ausdruck freundlicher Erwiderung an, die er mit einem so kräftigen Drucke seiner kriegerischen Hand bestätigte, daß mir alle Finger davon schmerzten.

„Als ich Dich zum ersten Male sah,“ erwiderte er, „und man mir sagte, daß Du mein Begleiter werden würdest, blickte ich Dich lange, lange an, und endlich sagte ich zu mir selbst und dann zu Kasü-Mahomed: „Cy adàm, jāchschi bulùr“ (das muß ein guter Mann sein).“

Auf dieses Compliment antwortete ich mit dem bekannten Syllogismus, „daß das Aeußere trügt.“

„Das ist wahr,“ antwortete Schamyl. „aber es ist ebenso wahr, daß der alte Schamyl sich nie in einem Menschen getäuscht hat, auf den er lange seine Augen heftete … Ich weiß, daß ich auch jetzt mich nicht getäuscht habe.“

Auf meine Versicherung, daß ich mein Möglichsten thun würde, um seine Freundschaft zu gewinnen, und daß er mir durch unsere erste Unterhaltung die Mittel dazu gegeben hätte, entgegnete er: „– Kop jāchschi! was hätte ich nun noch zu thun?“ Hier neigte er den Kopf vorwärts und blinzelte mit den Augen.

Ich kannte Schamyl’s Vorliebe für jede Art sonderbarer Einfälle, Sprüchwörter, Fabeln, und nahm dazu meine Zuflucht. „Sieh,“ sagte ich, „wir haben ein Sprüchwort: wenn das Kind nicht weint, so glaubt die Mutter es brauche Nichts.“

„Wir haben dasselbe Sprüchwort,“ erwiderte Schamyl, „ein sehr wahres Sprüchwort … Eh! biljāman! (ich verstehe)“ rief er aus, „das heißt, wenn ich nicht weine, so wirst Du nicht wissen, was ich wünsche?“

Ich bestätigte es.

„Kop jāchschi!“ sagte er lachend, „wenn ich Etwas brauche, so werde ich in Zukunft weinen.“

„Wohlan,“ fuhr er lächelnd fort, „so will ich denn um Etwas bitten. In Kaluga sind, wie ich höre, viele gute Leute, die mit mir Bekanntschaft zu machen wünschen. Auch ich wünsche dasselbe, aber in eurer Gesellschaft, dünkt mich, darf ich nicht meinen Gebräuchen folgen, sondern muß mich den eurigen fügen, unter denen mir viele sehr gefallen. Da ich aber mit manchen derselben noch unbekannt bin, so könnte es kommen, daß ich Etwas thäte oder sagte, was unschicklich wäre, oder Lachen erregte, und was meinen Bart beschimpfte … Mein Bart ist grau,“ setzte er, gleichsam zur Erklärung, hinzu, „aber ich färbe ihn, wie es auch mehrere meiner Landsleute thun, damit die Feinde nicht in unseren Reihen die Menge der Alten und unsere Schwäche entdecken. Nun freilich, scheint es, ist das überflüssig,“ fügte er seufzend hinzu, und ließ den Kopf auf die Brust sinken. Nach einigem Schweigen fuhr er fort: „Damit mir das nun nicht widerfahre, bitte ich Dich, mir immer offenherzig zu sagen, was ich zu thun habe, wenn ich in Gesellschaft fremder Personen bin. Du sollst sehen, daß Du an mir ein gehorsames „Kind“ finden wirst.“

Ich versicherte ihn, daß er auch an mir eine ebenso aufmerksame „Wärterin“ haben sollte.

Nach einer Weile stand Schamyl auf und sagte: „Bulùr! ghettach aschamachà!“ (genug, es ist Zeit zu Mittag zu essen.)

– – – „Kop jāchschi!“ rief Schamyl bei Tische, „ich danke Deinem großen Kaiser für seine außerordentliche Gnade; ich danke auch Dir, daß Du Dich freundlich gegen mich benimmst … Jetzt erst sehe ich, wie übel ich die gefangenen Fürstinnen behandelt habe; ich meinte aber, mein Benehmen gegen sie wäre sehr gut, ja, man könnte sie gar nicht besser behandeln, als ich … damals hatte ich so Vieles noch nicht gesehen. Jetzt aber quält mich mein Gewissen so, daß ich es nicht mit Worten auszudrücken vermag. Und nicht blos für meine Person erfahre ich des Kaisers Gnade: ich sehe hier in Kaluga zwei Kaukasier, die um eines Vergehens willen hierher verschickt sind: sie gehen frei umher, empfangen vom Kaiser ihren Unterhalt, beschäftigen sich mit eigener Arbeit und wohnen in ihren Häusern … So hielt ich nicht meine russischen Gefangenen … die Wahrheit zu sagen, hatte ich wohl die Möglichkeit, sie besser zu halten: hätte ich es aber gethan, so hätte das Volk gemurrt. Zwar stand es in meiner Gewalt, die Unzufriedenen zum Schweigen zu [240] bringen, allein das eben that ich nicht, und darum bin ich allein strafbar … Wie tief ich dan nun fühle, mag ich nicht sagen …“

Schamyl hatte mich gebeten, bis zur Ankunft seiner Familie immer mit ihm zu speisen. Die Unterhaltungen, die bei Tische geführt wurden, boten viel Anziehendes und lösten manche Räthsel, deren Schlüssel wir lange vergeblich gesucht hatten, und die uns wohl nie klar geworden wären. Im Allgemeinen bemerkte ich, daß Schamyl gegen das Ende der Mahlzeit gesprächiger wurde, stufenweise in heitere Stimmung gerieth und zu offenen Mittheilungen geneigter war, als zu Anfang der Tafel.

Nachdem mich Schamyl mit den Worten „ghettach amamachah“ zu Tische geladen hatte, fand ich beim Essen ein Gericht vom Koche des Gasthofs so verdorben, daß ich mich darüber tadelnd aussprach. „Findest Du das nicht auch?“ fragte ich Schamyl. Er antwortete mir, das Gericht sei allerdings nicht schmackhaft; wie könne man aber so etwas aussprechen?

„Und warum nicht?“ fragte ich.

„Das wäre eine große Sünde.“

„Aber thut der Koch keine Sünde, indem er uns ein so schlechtes Gericht vorsetzt?“

„Allerdings ist es auch eine Sünde: aber dafür wird Gott ihn strafen.“

„Wenn ich aber dem Koche sein Vergehen nicht vorhalte, so wird er vielleicht fortfahren, uns schlecht zu bedienen, in der Meinung, es müsse so sein, und so kann er unserer Gesundheit schaden und uns mancherlei Verlust verursachen.“

„In den Büchern,“ sagte Schamyl, „steht geschrieben, daß der Mensch nie seine Unzufriedenheit mit irgend Etwas mündlich äußern solle. Wenn man mir ein verdorbenes oder versalzenes Gericht vorsetzt (Schamyl kann das Salz nicht ausstehen), so darf ich es nicht tadeln, sondern muß es schweigend verzehren, ganz, als wäre es gut zubereitet. Um so weniger darf ich auf einen Hausgenossen zürnen, wenn er mich auf irgend eine Weise kränkt. Schelte ich ihn, so ist das eine große Sünde; so steht in meinen Büchern geschrieben.“

Diese Aeußerungen Schamyl’s erinnerten mich an das, was Herr von Boguslawsky mir von dem Besuche erzählte, den der Gefangene einst in einer Menagerie ausländischer Thiere machte. Die Affen zogen besonders seine Aufmerksamkeit auf sich. Er beobachtete sie lange, ergriff endlich die Pfote eines Affen und wandte sich mit den Worten an Boguslawsky:

„Weißt Du, wer das ist?“

„Ein Affe,“ antwortete dieser.

„Jetzt allerdings, aber früher, weißt Du, was sie waren?“

„Nein, das weiß ich nicht.“

„Es waren Juden,“ antwortete Schamyl mit echt kaukasischem Fanatismus – „nachdem sie Gott erzürnt hatten, verfluchte er sie und verwandelte sie in Affen.“

„Sollte das wahr sein?“ fragte Boguslawsky.

„So steht in den Büchern geschrieben.“

„Das kann aber doch nicht sein! Wären alle Juden in Affen verwandelt worden, woher kämen dann die jetzt noch lebenden?“

Schamyl sann etwas nach. „Wahrscheinlich sind es nicht diese, sondern andere.“

„Woher kämen aber die Anderen, wenn die Ersten nicht existirt hätten (Affen gewesen wären). Nein, das ist Thorheit, das kann nicht sein!“

„Wie, das kann nicht sein? Sieh nur die Pfote hier, gänzlich einer Menschenhand ähnlich … und den Körper, ist er nicht ganz der Körper eines Menschen?“

„Aber das Gesicht?“

„Nun, das Gesicht?“

„In der Schrift ist gesagt, der Mensch sei nach dem Ebenbilde Gottes geschaffen … steht dies in Euren Büchern?“

„Allerdings.“

„Nun wohl, kann die Gottheit ein solches Gesicht haben?“ – Dieser Einwurf schien dem Schamyl doch gegründet; aber er nahm sich wohl in Acht, es merken zu lassen, daß sein Glaube einen Stoß erlitten hatte; beim Hinausgehen machte er eine abwehrende Bewegung mit der Hand und wiederholte: „In den Büchern steht’s geschrieben! In den Büchern steht’s geschrieben!“
Caspari.





  1. Der Verfasser dieses Aufsatzes war im October v. J. von der kaiserlichen Regierung beauftragt worden, den frühern Begleiter Schamyl’s, Herrn von Boguslawsky, der eine anderweitige Bestimmung erhalten hatte, in Kaluga zu vertreten.