Seite:Alban Berg Was ist atonal 03.jpg

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sich nicht doch in den „atonalen“ Kunstwerken des letzten Vierteljahrhunderts, zumindest in Hinblick auf die chromatische Skala und die daraus resultierenden neuen Akkordbildungen, ein harmonisches Zentrum, welches natürlich nicht mit dem Begriff der alten Tonica identisch ist, finden lassen wird. Selbst wenn dies in Form einer systematischen Theorie nicht gelingen sollte, ...

Opp.: Ach, diesen Zweifel finde ich unberechtigt!

Berg: Na, um so besser! Aber unabhängig davon sind wir auch heute schon so weit, in der von Schönberg zum ersten Mal praktizierten „Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“ ein System zu haben, das der alten Harmonielehre hinsichtlich Gesetzmäßigkeit und Materialgebundenheit in nichts nachsteht.

Opp.: Sie meinen wohl die sogenannten Zwölftonreihen? Wollen Sie in diesem Zusammenhang darüber nichts Näheres sagen?

Berg: Nicht jetzt, das würde zu weit führen. Wir wollen ja von dem Begriff „atonal“ sprechen.

Opp.: Ja natürlich! Sie haben ja auch auf meine frühere Frage noch gar nicht geantwortet, ob nämlich nicht wirklich ein solcher Gegensatz zwischen der früheren und der jetzigen Musik besteht und ob also durch den Verzicht auf die Bezogenheit auf eine Tonica nicht tatsächlich das ganze Gebäude der Musik ins Wanken gekommen ist?

Berg: Nun, wo wir uns geeinigt haben, daß durch den Verzicht auf die Dur- und Molltonalität keineswegs harmonische Anarchie einzureißen braucht, kann ich diese Frage viel leichter beantworten. – Selbst wenn durch den Verlust von Dur und Moll einige harmonische Möglichkeiten verloren gegangen sind, so sind doch alle anderen Erfordernisse wirklicher und echter Musik geblieben.

Opp.: Zum Beispiel welche?

Berg: So schnell ist das nicht aufgezählt, da möchte ich schon näher darauf eingehen; ja, ich muß es tun, denn es handelt sich gerade darum, zu zeigen, daß dieser anfangs ganz einseitig sich auf das Harmonische beziehende Begriff der Atonalität jetzt, wie schon gesagt, ein Sammelbegriff für „Unmusik“ geworden ist.

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Alban Berg: Was ist atonal?. 23 – Eine Wiener Musikzeitschrift, Wien 1936, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Alban_Berg_Was_ist_atonal_03.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)