Seite:Alban Berg Was ist atonal 07.jpg

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atonalen Musik von der bisherigen unterscheidet. Ich meine die Asymmetrie der melodischen Gliederung.

Berg: Sie vermissen bei unserer Musik wohl die Zwei- und Viertaktigkeit, wie wir dies bei der Musik der Wiener Klassiker und der gesamten Romantiker inklusive Wagner konstatieren können. Da haben Sie richtig beobachtet, aber vielleicht übersehen, daß gerade diese Geradtaktigkeit eine Eigentümlichkeit nur dieser Epoche darstellt und bei Bach zum Beispiel schon nur in seinen homophoneren Werken und in den an die Tanzmusik angelehnten Suiten zu finden ist. Aber auch in der Epoche der Wiener Klassiker und besonders in den Werken Mozarts und Schuberts finden wir immer wieder, und zwar gerade in den Schöpfungen ihrer höchsten Meisterschaft, das Bestreben, diese Bindungen einer geradtaktigen Symmetrie zu sprengen: ich zitiere der Einfachheit halber nur einige berühmte Partien aus dem „Figaro“. So die Cherubin-Arie: „Neue Freuden, neue Schmerzen“, wo den ersten zwei Viertaktern gleich vier Dreitakter folgen, dann wieder zwei Zweitakter, dann aber gar zwei fünftaktige Gebilde. Weiters den Marsch des Hochzeitszugs aus dem II. Akt, in dessen normale Viertaktigkeit ganz gegen alles Marschmäßige plötzlich zwei Dreitakter eingeschoben sind. Schließlich die „Rosenarie“, deren Gliederung völlig aus dem Rahmen des geradtaktigen Periodenbaus fällt, und wo sich aus einer Reihe von Dreitaktern an sechster Stelle ganz frei eine Erweiterung zu fünf Takten ergibt.

Diese Kunst des asymmetrischen Melodienbaues hat sich im weiteren Verlauf des folgenden Jahrhunderts immer weiter entwickelt (denken Sie nur an Brahms, und schauen Sie auf das hin nur seine berühmten Lieder an, etwa das „Vergebliche Ständchen“, oder „Am Sonntagmorgen“ oder „Immer leiser wird mein Schlummer“), und wenn auch bei Wagner und seinen Epigonen der viertaktige Periodenbau vorherrscht (diese Primitivität wurde eben zugunsten anderer Neuerungen, besonders auf harmonischem Gebiet, beibehalten), so ist doch auch zu dieser Zeit die Tendenz besonders deutlich, das Festhalten an dieser Zwei- und Viertaktigkeit aufzugeben. Es geht hier eine gerade Linie von

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Alban Berg: Was ist atonal?. 23 – Eine Wiener Musikzeitschrift, Wien 1936, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Alban_Berg_Was_ist_atonal_07.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)