Im Elsaß wohnt ein Grafe, von Hohenburg genannt,
Durch Macht und großen Reichthum im ganzen Land bekannt;
Er hatte, was er mochte, Schlösser, Wälder, Knappen und Roß,
Auch eine schöne Hausfrau hat er auf seinem Schloß.
Es fehlte zu dem Allem ihm nur ein einzig Stück,
Doch daß kein Kind er hatte, deß war sein Kummer groß;
Wem sollt’ er hinterlassen seinen Reichthum und sein Schloß?
Und als um Ehesegen er nun zehn lange Jahr
Da ward ihm nachgeboren im eilften Jahr ein Kind;
Die Lust war halb verloren, denn von Geburt war’s blind.
Es wuchs und wurde größer, so konnt’ es leider nicht
Des Vaters Burgen und Schlösser sehn mit dem Augenlicht.
Da erwuchs es fromm im Stillen, wie eine Lilie.
Wie eine blühende Lilie, die Jeden, der sie schaut,
Erfreut und ihm gemahnet wie eine Gottesbraut,
Die mit ihren blinden Augen des Himmels reinstes Licht
Da hatte doch der Vater nur diesen Wunsch allein,
Daß sehend möchte werden sein blindes Mägdelein;
Wenn sie das Licht des Tages mit Augen sollte sehn,
Er dachte, daß er zufrieden dann wollt’ zu Grabe gehn.
Daß sie mit ihren Augen sehn dürfe diese Welt,
Von der all’ ihre Lieben bei Tag und auch bei Nacht
So wundervoll beschrieben alle die sichtbare Pracht.
Und als das Kind Ottilie ward vierzehn Jahre alt
Ward ihr der Wunsch erfüllet, das Wunderwerk geschah,
Daß sie vor sich enthüllet das Licht des Tages sah.
August Schnezler (Hrsg.): Badisches Sagen-Buch 1. Band. Karlsruhe: Kreuzbauer und Kasper, 1846, Seite 391. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Badisches_Sagenbuch_391.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)