Seite:Band II - Der Osten (Holl) 269.png

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man die Porträtmaler darnach beurteilen wollte, wieviel Hintergrund sie in ihr Bild aufnehmen. Die Hauptsache für den Verfasser eines Heiligenlebens ist und bleibt die Schilderung der inneren Entwicklung des Helden. Die Zeichnung der Umwelt kann dabei nie ganz ausfallen; denn die Verfasser erzählen einen wirklichen Lebensgang. Aber die Hereinziehung dieses Stoffs muß sich in engen Grenzen halten. Sie kann immer nur unter dem Gesichtspunkt erfolgen, die geistliche Kraft des Heiligen dadurch ins Licht zu setzen. Wo diese Seite sich stärker vordrängt, da mag der Geschichtsforscher seine helle Freude dran haben; künstlerisch angesehen ist es nicht ein Vorzug, sondern ein Mangel.

     Noch weniger als der Orient ist das Abendland imstande gewesen, über Athanasius hinauszukommen. Die Form der Vita Antonii wird auch hier sofort aufgenommen und wird maßgebend für die Anlage aller ähnlichen Werke[1]. Aber dem Abendland fehlt von vornherein das sichere Verständnis für ihren Sinn und die Gabe, sie stilgerecht zu handhaben. Das Gefallen am bunten Stoff ist hier immer größer gewesen als die Freude am planvollen Aufbau.


  1. H. Günter, dessen Arbeiten ich übrigens nicht herabsetzen möchte, hat den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen, wenn er (Die christliche Legende des Abendlands, 1910) meint, dass vor dem 7. Jahrhundert kein Einfluß der orientalischen Legende auf das Abendland stattgefunden hätte. Als ob nicht die Vita Antonii fast gleichzeitig mit dem Mönchtum ins Abendland gedrungen wäre, als ob es keinen Hieronymus, keinen Cassian gegeben hätte. Auch in den früheren Schriften Günters ist dies wohl der empfindlichste Mangel, daß er viel zu sehr auf Einzelzüge geachtet hat, anstatt die Kunstform als Ganzes zu verfolgen. [A. v. Meß, Die Anfänge der Biographie und der psychol. Geschichtsschreibung in der griech. Literatur, Rhein. Mus. für Philol. N. F. 70 (1915).]
Empfohlene Zitierweise:
Karl Holl: Die schriftstellerische Form des griechischen Heiligenlebens. J. C. B. Mohr, Tübingen 1928, Seite 269. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Band_II_-_Der_Osten_(Holl)_269.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)