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Johann Christian August Clarus: Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck [1821].
In: Georg Büchner, Sämtliche Werke und Briefe (Hamburger Ausgabe), Hrsg. von Werner R. Lehmann, 1. Band: Dichtungen und Übersetzungen mit Dokumentationen zur Stoffgeschichte, Hamburg 1967.

gehen sehen, weßhalb er auch mehr ihr zum Tort noch mitgegangen sey; endlich: daß ihm die Woostin, als sie miteinander ins Haus getreten, die Worte gesagt habe: Ich weiß gar nicht, was du willst! so geh doch nur nach Hause! Wenn nun mein Wirth raus kommt. Diese Worte hätten ihn geärgert, und da habe ihn der Gedanke an das Messer und an seinen Vorsatz plötzlich wieder mit aller Macht ergriffen, und ihn mit einem Male dergestalt überwältiget, daß er darauf zugestoßen habe, ohne zu wissen, was er thue. Als er nach der That über den Roßplatz gegangen, sey ihm der Gedanke in den Kopf gekommen, sich zu erstechen, und er habe es blos deßhalb unterlassen, weil zu viel Leute dagewesen seyen, würde sich aber, wenn er nicht arretirt worden wäre, sicherlich noch in derselben Nacht und mit dem nämlichen Instrumente das Leben genommen haben.

Von neuerdings während seiner Gefangenschaft gehörten Stimmen will er nichts wissen. Wohl aber beschäftigt er sich viel mit Ahnungen und Träumen. So behauptete er bei einer seiner Unterredungen mit mir, es habe ihm den Augenblick zuvor geahnet, daß ich nun kommen würde. Auf seine Träume, die er sehr gerne erzählt, und auf seine Weise deutet, baut er auch seine Hoffnungen. So erzählte er mir einst mit großer Freude, daß ihm geträumt habe, er läge in einer Grube, um welche mehrere Menschen beschäftigt wären, ihn heraus zu ziehen. Selbst wenn dergleichen Traumgestalten gar keine Beziehung auf ihn selbst haben, sucht er dennoch in ihnen sein Schicksal zu lesen und hält z. B. Träume von Feuer oder klarem Wasser für günstige Vorbedeutungen.

Nach der sorgfältigsten und gewissenhaftesten Erwägung der im Vorhergehenden dargestellten Umstände verfehlte ich nicht, in Gemäßheit des allerhöchsten Rescripts vom 9. November vorigen Jahres, und mit Berücksichtigung der gemachten Anträge des Vertheidigers, Nachstehendes gutachtlich zu eröffnen, wobei ich, wegen der Vielseitigkeit des Gegenstandes und zur Erleichterung der Uebersicht, es für zweckmäßig halte, das Ganze in zwei Abschnitte einzutheilen, von denen der erste die medicinisch-psychologische Entwicklung der Thatsachen, der zweite aber die aus ihnen für die Zurechnungsfähigkeit des Inquisiten zu ziehenden Folgerungen enthalten wird.


I. Medicinisch-psychologische Entwickelung der theils aus den Akten geschöpften, theils selbst beobachteten Thatsachen

1) Die an dem Inquisiten theils von mir beobachteten, theils von ihm selbst erzählten und wegen ihres natürlichen und erfahrungsmäßigen Zusammenhangs für völlig glaubwürdig zu achtenden körperlichen Zufälle,

Empfohlene Zitierweise:
Johann Christian August Clarus: Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck [1821]. In: Georg Büchner, Sämtliche Werke und Briefe (Hamburger Ausgabe), Hrsg. von Werner R. Lehmann, 1. Band: Dichtungen und Übersetzungen mit Dokumentationen zur Stoffgeschichte. Hamburg: Wegner, 1967, Seite 516. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Clarus-Gutachten_516.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)