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Eberhard L. Schuhkrafft: Das Ausland

In Canton geht die Sittenlosigkeit der dramatischen Vorstellungen so weit, daß die daselbst anwesenden Europäer nicht selten vor Ekel das Theater verlassen. [1]

Barrow stellt die Vermuthung auf, daß die bei Hof üblichen Unterhaltungen tatarischen Ursprungs sind, da sie in der That den rohen und barbarischen Sitten dieses Volkes entsprechen, während die Lieder und Recitative des eigentlichen Drama’s dagegen dem National-Character des ceremoniellen Chinesen ihren Ursprung zu verdanken scheinen.

Was die eigentliche Handlung eines chinesischen Stückes betrifft, so können sich die von uns angeführten Reisenden nicht leicht insgesammt über den Werth derselben getäuscht haben, allein, da sie die Sprache nicht verstanden, so ist ihr Urtheil jedenfalls einseitig, und darf daher nur theilweis als richtig angenommen werden. Wir können ihnen Glauben beimessen, wenn sie von den Abgeschmacktheiten reden, die ihr Auge beleidigten, allein der Kern des Dramas, der Dialog, war für sie ohne Interesse und so gut als gar nicht vorhanden. Wie scharf sie also auch gesehen und wie richtig sie das, was sie sahen, beschrieben haben mögen, so stehen uns, so lange wir auf diese Berichte beschränkt bleiben, noch zu geringe Mittel zu Gebot, als daß wir ein Urtheil über das chinesische Drama darauf begründen können. Eine von Pater Primare, einem Jesuiten, gelieferte unvollständige Uebersetzung eines einzigen Stückes war bis zum Jahr 1817 die einzige Probe dieser Art, die in irgend einer europäischen Sprache vorhanden war. Es heißt die Waise von Chao und gehört zu einer Sammlung von hundert, unter der Herrschaft der Dynastie Yuen im 14ten Jahrhundert (von 1260–1333) verfaßten, Schauspielen. Voltaire, der den Stoff desselben für die französische Bühne bearbeitete, nennt es ein schätzbares Denkmal der damaligen chinesischen Literatur, in Vergleich mit unserer gegenwärtigen dramatischen Kunst zwar barbarisch, aber bei weitem vollkommener als Alles, was zu gleicher Zeit in ganz Europa geschrieben wurde. Er gibt zu, daß die Waise von Chao, ungeachtet vieler darin vorkommenden Unwahrscheinlichkeiten, Manches enthalte, was auch für uns Interesse habe, und daß eine unzählige Menge darin zusammengedrängter Ereignisse lichtvoll angeordnet worden sey, allein hierauf beschränkt sich sein Lob. Sein Urtheil würde vielleicht noch günstiger ausgefallen seyn; wenn er die lyrischen Stellen gesehen hätte, die aus Premare’s Uebersetzung ausgelassen sind und an poetischem Verdienst nicht selten mit den schönsten griechischen Chören verglichen werden können.

(Fortsetzung folgt.)

Neworleans.

(vorerst unberücksichtigt)

  1. Travels in Chine, p. 222.
Empfohlene Zitierweise:
Eberhard L. Schuhkrafft: Das Ausland. Cotta, Stuttgart, München, Augsburg, Tübingen 1828, Seite 732. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_0761.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)