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Eberhard L. Schuhkrafft: Das Ausland

Das Ausland.
Ein Tagblatt
für Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Völker,
mit besonderer Rücksicht auf verwandte Erscheinungen in Deutschland.

Num. 185. 3 July 1828.

Das chinesische Drama.


(Fortsetzung.)

Im Jahr 1817 erschien in London endlich die vollständige Uebersetzung eines zweiten chinesischen Dramas, Laou-Seng-Urf oderein Erbe im hohen Alter, aus derselben Sammlung, aus welcher die Waise von Chao entlehnt war. Es ist eine Schilderung des häuslichen Lebens der Chinesen, in einer sehr einfachen Handlung, auf die einfachste und natürlichste Weise, dargestellt, worin aber eben deshalb die chinesischen Sitten und die Denkart und Gesinnung der Chinesen mit äußerster Treue und Wahrheit wiedergegeben sind.

Um in den Geist dieses Stückes eingehen zu können, muß der europäische Leser zweierlei wissen. Einmal, daß die Erfüllung der einem Sohne zukommenden Pflichten gegen die Eltern bei den Chinesen die erste Tugend ist, wie von der andern Seite eine Verletzung dieser Pflichten das erste Laster. Daher betrachtet es ein Chinese auch als das größte Unglück, keinen Sohn zu haben, der eine Stütze seiner bejahrten Eltern werden könnte, und nach ihrem Tode jährlich mit kindlichen Gefühlen ihr Grab besuchte. – Und so dann, daß der Chinese eben deshalb, um einen Sohn zu erhalten, besonders wenn er von seiner vornehmsten Frau nur Töchter, oder gar keine Kinder hat, sich Nebenweiber nehmen darf, die er gewöhnlich den unbemittelten Verwandten abkauft. Diese Weiber werden als Töchter der legitimen Frau betrachtet, die sie daher auch ihre Mutter nennen, und die Kinder, welche sie bringen, gehören nicht ihnen, sondern jener an.

Die handelnden Personen unseres Stückes sind sämmtlich Glieder einer zur mittleren Volksklasse gehörigen Familie: ein alter Mann, seine Frau, seine Nebenfrau niederen Ranges, sein Neffe, sein Schwiegersohn und seine Tochter. Der Alte, ein durch den Handel bereicherter Mann, der im Begriff ist, sich von den Geschäften zurück zu ziehen, nimmt, weil er von seiner Frau keinen Sohn hat, eine Nebenfrau, deren Schwangerschaft im Eingange des Stückes gemeldet wird. Um den Himmel zu bewegen, ihm einen Sohn zu schenken, vernichtet er die Scheine über alle seine ausstehenden kleinen Schulden. Darauf theilt er sein Vermögen zwischen seiner Frau und seiner verheiratheten Tochter, gibt seinem Neffen (dem Sohn eines verstorbenen Bruders) hundert Silberstücke und schickt ihn in die Welt, sein Glück zu versuchen, weil die Frau, eines alten Haders mit seiner Mutter eingedenk, sich nicht mit ihm vertragen kann. Darauf macht er eine kleine Reise auf ein Landgut und empfiehlt sein schwangeres Weib der Pflege seiner Familie, indem er hofft, in kurzer Zeit die erfreuliche Nachricht von der Geburt eines Sohnes zu erhalten.

Er ist indessen kaum abgereist, als der Schwiegersohn vor seiner Frau, der Tochter des Alten, sein Mißfallen über die Schwangerschaft der Nebenfrau nicht länger verbergen kann. Wenn sie ein Mädchen zur Welt bringt, verliert er die Hälfte des Erbtheils, wenn einen Sohn, das ganze. Seine Frau tröstet ihn mit der Bemerkung, wie leicht es sey, sich der Gefürchteten zu entledigen und ihrem Vater vorzuspiegeln, sie sey plötzlich verschwunden. Kurze Zeit nachher nimmt sie wirklich den Schein an, als habe sie Mittel gefunden, die Unglückliche aus dem Wege zu schaffen, und ihr Mann selbst glaubt dieß. Inzwischen denkt der Vater an Nichts weniger als an diese Wendung der Dinge, bis seine Familie nach der Reihe ankommt, um ihn über den Verlust seiner Frau zu trösten; Anfangs will er dieser Nachricht keinen Glauben beimessen; dann bricht er in heiße Thränen aus und gibt deutlich zu verstehen, daß er den Verdacht hege, jene habe kein natürliches Ende genommen. Er nennt sein Unglück eine Strafe für seine frühere Geldgier, entschließt sich, sieben Tage lang zu fasten und öffentlich in einem benachbarten Tempel Almosen auszutheilen, damit, wenn er selbst keinen Erben haben sollte, wenigstens die Armen ihn, als ihren Vater, ansehen. Unter den Bettlern am Tempel erscheint auch sein Neffe im hülflosesten Zustande; er wird von dem Schwiegersohne ausgescholten, und von der alten Frau zur Rede gestellt, aber sein Oheim ermahnt ihn, fromm zu seyn, das Grab seiner Eltern zu besuchen und gibt ihm Geld. Hierauf erscheint der Neffe wirklich an dem Grabe und bittet seine Eltern, ihn in seiner hülflosen Lage zu beschützen. Kaum ist er abgetreten, als sein Oheim und seine Leute ihm zu dem Grabe folgen, und ihr Mißfallen bezeugen, daß ihr Schwiegersohn und ihre Tochter versäumt haben, sie pflichtgemäß zu begleiten. Sie bemerken, daß ein naher Verwandter von ihnen zugegen gewesen seyn müßte, und vermuthen, daß dieß ihr Neffe gewesen sey. Der alte Mann spricht darauf mit seiner Frau, und sucht sie zu überzeugen, daß ihr Neffe mehr werth sey, als ihr Schwiegersohn und daß er ihnen als Blutsverwandter näher stehe. Diese gibt nach, und wünscht eine Versöhnung, welche auch, da ihr Neffe zu dem Grabe zurückkehrt,

Empfohlene Zitierweise:
Eberhard L. Schuhkrafft: Das Ausland. Cotta, Stuttgart, München, Augsburg, Tübingen 1828, Seite 737. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_0766.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)