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Eberhard L. Schuhkrafft: Das Ausland

Das Ausland.
Ein Tagblatt
für Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Völker,
mit besonderer Rücksicht auf verwandte Erscheinungen in Deutschland.

Num. 187. 5 July 1828.

Das chinesische Drama.

(Schluß.)
Lau-Seng-Urh, oder: der Erbe in hohem Alter.

Sie-Tsze oder Vorspiel.

Scene: Haus des Alten. Luh-tsung-tscheu, seine Frau, Schang-lang, sein Schwiegersohn, und Yinsun treten auf. Luh-tsung-tscheu schreitet in den Vordergrund der Bühne vor und spricht:

     Ich bin ein Bürger von Tung-ping-fuh; mein Familiennahme ist Luh, mein Name Tsung-scheu. Ich bin 60 Jahre alt, meine Frau 58, meine Tochter, Yin-schang, 27, und ihr Mann, Schang-lang, 30. Ich hatte einen Bruder, er hieß Luh-tsung-taou, dessen einziger Sohn in der Kindheit Yin-sun genannt wurde. (Er seufzt) Das Kind hat ein sehr unglückliches Schicksal! – Mein Bruder starb jung und ließ eine Wittwe zurück. Sie und meine Frau konnten sich nicht mit einander vertragen, sie wünschte deshalb, ihre Trauerzeit mit ihrem Sohne bei ihren Eltern zuzubringen. Von ihrer Familie meinte sie ihren Unterhalt zu bekommen, und durch ihrer Hände Arbeit Etwas für ihres Sohnes Erziehung zu verdienen. Kurze Zeit nachher starb sie plötzlich und hinterließ ihren Sohn als Waise. Seine Verwandten sagten zu ihm: „Was willst du hier machen, Kind? Hast du nicht einen Jedermann wohlbekannten Oheim in Tung-ping-fuh? Warum gehst du nicht zu ihm?“ Sie gaben ihm eine kleine Summe Geldes auf die Reise. Er kam nach Tung-ping-fuh, suchte mich auf und brachte die Gebeine seiner Mutter[1] mit sich. Ich habe sie beigesetzt, wo auch die meines Bruders ruhen. Dieser junge Mann ist nun 25 Jahr alt. Ach, meine Frau kann das Mißverständniß mit seiner Mutter nicht vergessen. Sie peinigt ihn bei der unbedeutendsten Veranlassung und läßt ihn nicht selten schlagen. Sogar über die Seufzer meines Neffen erboßt sie sich. –

     Die Frau. (Tritt hinzu) Was sagst Du da? – Ich erboße mich über die Seufzer meines Neffen?

     Luh. Ach, bekümmere Dich nicht um mich! – Ich habe für mich allein gesprochen: – mache uns nicht zum Gelächter der Leute auf der Straße! – (Zu seinem Neffen:) Yinsun, Du hast Verstand genug, um einsehen zu können, was ich leider erfahren muß, daß Du in meinem Hause nicht bleiben kannst! Ich habe zwei gute Landhäuser. Eines davon soll für Dich eingerichtet werden.

     Die Frau. Ich will die Hütten selbst behalten; meine Esel sollen darin stehen. So schaltet man nicht mit meinem Eigenthum!

     Luh. Wozu brauchst Du Esel?

     Die Frau. Wozu ich Esel brauche? Ich brauche sie, daß sie mir mein Feld bestellen, daß sie mir mein Korn austreten, daß sie mir Getraide holen, und auch um selbst auf ihnen zu reiten. Nun also brauche ich keine Esel? – Aber gieb dem Bengel meinetwegen die eine Hütte.

     Luh. Gut, ich gehorche. – Schanglang, zähle zweihundert Unzen Silber ab und gieb sie Yinsun.

     Schang. Sehr wohl.

     Die Frau. Was! Sind wir ihm Geld schuldig? Er bekommt keine zweihundert Unzen. Ich will haben, daß er nicht mehr als einhundert bekommt.

     Luh. Ich muß Dir gehorchen. (Zu Schanglang:) Also einhundert.

     Schang. Gut, er erhält ein hundert Unzen Silber. (Bei Seite) Er ist kein großer Rechenmeister, ich will zwanzig für mich behalten. Armer Yinsun, Du kommst doch im Leben zu Nichts. Es wird nicht lange dauern, so ist Dein Geld aufgezehrt. (Er gibt ihm das Geld.)

     Luh. Jetzt hast Du Geld; halte Haus damit, Yinsun, und denke nach, wie Du Dir damit selbst ein Eigenthum erwerben kannst.

Yinsun, (allein.)

     Mein Oheim hätte mir zweihundert Unzen Silber gegeben, aber meine Tante ist Schuld, daß ich nicht mehr als hundert bekommen habe. Schang-lang hat sie mir auszahlen sollen, aber ich habe gesehen, daß er Geld für sich behalten hat. Ich will noch einmal zählen. Sechzig Unzen, siebenzig Unzen – achzig Unzen; – ich habe nicht mehr als achzig Unzen! – Ich will ihnen nach, und mit meinem Oheim reden.

Yinsun, Luh-Tsung-scheu, die Frau, Schlanglang.

     Die Frau. Was? – Untersteht Ihr Euch, das Geld auszuschlagen? Gut, wenn Ihr so reich seyd, gebt mir’s wieder.

     Yin. Ich wollte nur meinen Oheim fragen, wie viel Geld er befohlen hat, mir zu geben.

     Luh. Mein Befehl war auf hundert Unzen.

     Yin. Ich habe nicht mehr als achzig erhalten.

Empfohlene Zitierweise:
Eberhard L. Schuhkrafft: Das Ausland. Cotta, Stuttgart, München, Augsburg, Tübingen 1828, Seite 745. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_0774.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)
  1. Die Gräber seiner Familie verlassen ist bei den Chinesen eines der größten Verbrechen, dessen man sich schuldig machen kann. Ein Fremder in China erstaunt über die Menge der an den Ufern der Kanäle oder Flüsse liegenden Särge, welche mit andern Mobilien von Familien, die ihre Wohnsitze veränderten, fortgeführt wurden. Durch den von dem alten Mann in unserem Drama berührten Umstand wird als Yinsun gleich im Eingange also ein frommer, gottesfürchtiger Sohn bezeichnet.