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Das Ausland. 1,2.1828

Das Ausland.
Ein Tagblatt
für Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Völker,
mit besonderer Rücksicht auf verwandte Erscheinungen in Deutschland.

Num. 96. 5 April 1828.

Cobett’s Sendschreiben an den Herzog von Wellington


Zweiter Brief.
Warum das englische Volk das Gefängniß der Freiheit vorzieht.

 Mein Herr Herzog !

Thatsache ist es, furchtbare Thatsache, daß heut zu Tage in England ein großer Theil des Volkes den Kerker mit all seinen entehrenden Folgen der Freiheit mit unbescholtenem Rufe vorzieht. Nie konnte dieß bis jetzt von irgend einem Volke gesagt werden. Und diese Thatsache wird keineswegs blos von denen behauptet, welche von den Söhnen und Töchtern der Verdorbenheit die „Unzufriedenen und Unruhigen“ genannt werden; sie wird nicht blos behauptet von den Reformers und Radicalen, oder denen, die niedergehauen und niedergeritten wurden, weil sie sich versammelten, um eine Bittschrift zu entwerfen, daß man ihnen doch auch eine Stimme bei der Wahl derer geben möchte, welche ihnen die Steuern auflegen[1]; sie wird endlich auch keineswegs blos von denen behauptet, welche der naseweise Canning als Leute schildert, die nichts zu verlieren hätten, und die der unverschämte Castlereagh als Banqueriutiers an Ruf und Vermögen darstellt – nein, sie ist offen ausgesprochen von den vielgepriesenen Friedensrichtern, sie ist förmlich und offiziell bewiesen durch die öffentlichen gerichtlichen Entscheidungen.

Diese Thatsache, ein ewiges Brandmal der Schande Englands, kann nicht länger in Zweifel gezogen werden. Es ist eine allgemein zugegebene Wahrheit, daß der Kerker seine Schrecken verloren hat, und daß keine Strafe, die geringer ist als die Todesstrafe, den Engländer mehr von Verbrechen zurückhalten kann, die den Gesetzen Gottes und der Menschen Hohn sprechen. Und zwar verstehe ich unter solchen Verbrechen keineswegs Wildern und Schmuggeln; hievon wissen die Gesetze Gottes nichts, und das Gewissen eines Menschen wird nie von ihnen beschwert; ich verstehe darunter auch nicht jenes große Vergehen, seine eigene Gerste in Malz, oder seinen eigenen Talg in Kerzen zu verwandeln; oder ein Stück Tuch zu färben, und es auf seinen eigenen Boden zu legen; oder eine Flasche Wein aus dem Auslande mitzubringen. Ich verstehe darunter vielmehr den Diebstahl, was man so im gemeinen Leben Stehlen heißt. Die Beamten verschiedener Grafschaften haben erklärt, daß dieses Verbrechen zu einer solchen Höhe gestiegen, daß es so gewöhnlich ist und so ohne alle Scham begangen wird, daß es in manchen Fällen nöthig sey, das Gesetz des Geschwornengerichts außer Wirkung zu setzen, und gleich despotischen Staaten dem Richter eine summarische, willkürliche Gewalt zu übertragen. Um diese Maßregel zu rechtfertigen, gesteht man ganz offen: das Gefängniß sey heut zu Tage weit angenehmer, und die Nahrung, welche darin gereicht werde, weit besser, als diejenige, welche die meisten Unterthanen, das heißt von zehn Bürgern neun, zu Hause genössen. Braucht man da noch einen weitern Erklärungsgrund für die Menge der Diebstähle?

Der niedrige Lohn, den die arbeitende Klasse erhält, ist der Grund, warum es ihr unmöglich wird, ihr Leben zu Hause sich angenehmer zu machen, als das Loos, das sie im Gefängniß erwartet. Papiergeld, unerschwingliche und drückende Abgaben sind der Grund jenes niedrigen Lohnes, während die ungeheueren Staatsausgaben wieder der Grund der furchtbaren Abgaben sind.

Ich werde Ihnen über alles dieß offen meine Meinung sagen, und Ihnen dabei die Spiegelfechtereien entschleiern, womit man die wahre Quelle des Uebels zu verhüllen sucht.

Ich glaube nicht, ja ich will mich nicht einmal stellen, als ob ich glaubte, daß Sie das nicht lesen werden, was ich hier an Sie richte. Jene Zeit einer affectirten Verachtung dessen, was ich schreibe, ist vorüber. Ereignisse folgten sich wie Donnerschläge, um die Richtigkeit meiner Ansichten zu bestätigen, so daß auch die Eigensinnigsten und Verläumderischten gezwungen sind, mir Aufmerksamkeit zu schenken. Von ihnen allen möchten freilich nur wenige minder geneigt seyn, mir zuzuhören, als Sie; und noch wenigere möchten mehr Ursache haben, mich im Irrthum zu wünschen. Aber trotz all dem müssen Sie hören, und müssen hören wollen.

Schon öfter in meinem Leben – vielleicht selbst schon in dem Ihrigen – trug es sich zu, daß ich froh war, während eines Sturms Obdach in einer Höhle zu finden, von der ich, unter andern Umständen, mit Abscheu geflohen seyn würde. Hunger, Durst, Kälte, Mangel an Bedeckung, Ruhe und Schlaf – erwägen Sie, mein Herr Herzog, die Macht dieser Leiden, und Sie werden finden, daß sie dieselbe Gewalt über das Gemüth ausüben, wie das Drohen eines gewissen, vor Augen stehenden Todes. Wenn aber ihre Wirkung so furchtbar ist, als die eines Todesurtheils,

  1. Die bekannten Vorfälle in Manchester.
Empfohlene Zitierweise:
: Das Ausland. 1,2.1828. Cotta, München 1828, Seite 381. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_399.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)