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Das Ausland. 1,2.1828

Das Ausland.
Ein Tagblatt
für Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Völker,
mit besonderer Rücksicht auf verwandte Erscheinungen in Deutschland.

Num. 137. 16 May 1828.

Ueber die Angelegenheiten des Orients.


(Fortsetzung.)

Und in der Gegenwart einer solchen Macht, die mit ihrem ganzen Gewicht auf den Continent drückt, die stark ist durch unsere Schwäche, reich durch unsern Raub, die, das Monopol der Welt nöthig habend, bereit ist, Jeden niederzuschlagen, der sich erhebt, Alles zu vernichten, was producirt – will man uns mit Rußland schrecken, will man uns sagen: „Wir sind der Entwicklung des Dramas nahe: Constantinopel erobert, und Europa ist unterjocht?“

Was liegt Europa an Constantinopel und der Türkei, jenem ungeheuern Leichnam, der von Bosnien bis an den Bosporos, vom Pruth bis an den Archipel nur Elend und Tod verbreitet? England allein ist es, dem er Nutzen bringt, England, das, Herr des Mittelmeers und des Welthandels, gerne einen status quo erhalten möchte, der seinen Ruhm und seinen Reichthum schütze. Aber Frankreich! Es kann bei jeder Veränderung nur gewinnen. Vergebens verkündigt eine verirrte Politik, die Frucht der Traditionen vergangener Zeit, noch jetzt unter uns, daß die Allianz mit der Türkei Frankreich stets vortheilhaft war; man beginnt einzusehen, daß was 1536 gut war, es heute nicht mehr ist; daß, Mann gegen Mann mit Carl V kämpfend, Franz I einigen Vortheil aus der Allianz mit den Barbaren ziehen konnte, daß aber in einem Kriege gegen Oesterreich oder England die Türkei uns nichts nützen würde. Bedauern wir vielmehr den Verlust unsres levantischen Handels, jene Stapelplätze, an die der geistreiche Graf Segur die große Catharina erinnerte, die schon 1787 sagte, daß Frankreich die Türkei unterstütze, ohne zu wissen warum. Man gehe über die Märkte von Constantinopel, Aleppo, Smyrna, Tripolis, und man wird sehen, wie die Fremden uns überall den Rang ablaufen, und wie wenig wir zu verlieren haben. Sind aber die Türken [1] nach Asien zurückgeworfen, so wird eine Vereinigung von Griechen, Armeniern, Juden, Slaven, die gegenwärtig allein zwei Siebentheile der Bevölkerung ausmachen, den Grundstock eines neuen Staates an den Ufern des Bosporos bilden, und bald wird sich diese Bevölkerung, befreit von einem brutalen und tyrannischen Joche, vermehren; sie wird dem Laufe der Civilisation folgen, sie wird neue Bedürfnisse erhalten und einen ungeheuern Absatzweg unserm Handel darbieten, der gegenwärtig täglich schwächer wird, aus dem ganz einfachen Grunde, weil die Pest, die Hungersnoth, und eine Regierung, die noch verderbenbringender ist, als diese beiden Geiseln, alle zwölf bis fünfzehn Jahre die Zahl der Einwohner um ein Neuntheil vermindert.

Aber nicht blos sein Handel mit Klein-Asien, seine Uebermacht im Mittelmeer, die durch die Oeffnung des Bosporus und der Dardanellen zweifelhaft werden könnte, veranlassen England zu dem Wunsche, den status quo der Türkei zu erhalten; noch andere Schrecken bewegen es: in dunkler Zukunft sieht es Indien bedroht. Calcutta und Bombay sind es, die es in Constantinopel zu vertheidigen glaubt. Schon längst ließ das fortschreitende Vorrücken einer großen Macht gegen das schwarze Meer, ihre Niederlassung in der Krym, England beunruhigende Plane fürchten. Gegenwärtig sind diese Plane nicht mehr zweifelhaft, seitdem der Kuban aufgehört hat, als Grenzscheide zu dienen, seitdem die Besitzergreifung von Abasa und Mingrelien Trapezunt, Sinope und die Küsten Anatoliens bedroht; hauptsächlich aber seitdem, den Phasis übersteigend, die Russen an die Quellen des Cyrus vorgedrungen sind, und sich jenseits des Kaukasus festgesetzt haben, jener furchtbaren, einst von eiserner Pforte verschlossenen Grenze. So sind sie nun Herren von Georgien und der ganzen Küstenstrecke der kaspischen See, von der Mündung der Wolga bis zum Meerbusen von Ghilan! Sie herrschen zu Tiflis, das der große Stapelplatz Asiens werden muß, und von wo zahlreiche Handelsverbindungen mit Bucharien, Kaschimir und Tibet ausgehen; schon richten sich nach diesem Punkte die Karavanen, die, von den Gestaden des Indus kommend, dem brittischen Monopole sich entziehen wollen. Schon öffnet sich durch Arzerum ein directer Weg nach dem persischen Meerbusen. Ispahan schwankt noch zwischen russischem und englischem Einfluß, aber der größere Schrecken, den die Krieger einflößen, die den Araxes überschritten, wird die Wahl nicht lange zweifelhaft lassen.

Diese Umänderung der Verhältnisse, die den Handel auf seine alten Bahnen zurückführen zu wollen scheint, mag wohl der ostindischen Compagnie Besorgnisse einflößen; welches Interesse aber soll Europa daran nehmen

  1. Sie bilden keineswegs ein Viertel der Einwohner. Major Ciriaky, der 1824 schrieb, schätzt sie auf 3/14. Dieser schwache Theil ist militärisch postirt: die einen an der Donau gelagert, um den Russen die Stirn zu bieten, die andern in Bosnien vereinigt, um die Avantgarde gegen den Westen Europas zu bilden, während die Reserve, in Constantinopel zusammengezogen, den Brückenkopf Asiens deckt.
Empfohlene Zitierweise:
: Das Ausland. 1,2.1828. Cotta, München 1828, Seite 545. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_569.jpg&oldid=- (Version vom 21.9.2023)